Der Lehrplan 21 sieht keine Medienbildung an Schweizer Schulen vor – eine verpasste Chance.
Früher kamen Polizisten in die Basler Schulen, um die Heranwachsenden mit den Verkehrsregeln vertraut zu machen. Heute auch, um Schüler über die Gefahren des Datenhighways aufzuklären: über Cyber-Mobbing, sexuelle Belästigung und Datenschutz. Dagegen ist nichts einzuwenden. Auch nicht gegen die Pädagogik der Abschreckung, die dann gern an einem ausgewählten Schüler zeigt, wie viel man über ihn erfährt allein aus dem, was er selbst dem Netz anvertraut hat.
Doch sind Polizisten die richtigen Personen für solche Aufklärung? Polizisten sind ja auch nicht die erste Adresse, wenn es um die städtebaulichen, kulturellen und gesundheitlichen Folgen des Autoverkehrs geht. Da fragt man Architekten, Soziologen, Psychologen, Mediziner. Wie steht es mit den sozialen, ethischen und politischen Implikationen der Neuen Medien? Was sagt die Polizei zu den Langzeitfolgen einer Kultur der radikalen Transparenz, der personalisierten Information und der quantifizierenden Evaluation, die durch die Neuen Medien zunehmend Gestalt annimmt?
Nationalrat blockt ab
Pointiert gefragt: Macht sich nicht jede Schuldirektion, die allein der Polizei das Feld der Medienbildung überlässt, bildungspolitisch strafbar?
Nicht, wenn man den Politikern glaubt. Denn immerhin scheiterte die Motion von Ständerat Rolf Schweiger, im Lehrplan 21 einen «Medienführerschein» vorzusehen, 2011 im Nationalrat mit 66 gegen 88 Stimmen. Begründung: Medienbildung sei Teil der elterlichen Erziehungsverantwortung.
Das ist leicht nachvollziehbar, wenn man Medienbildung auf die Durchsetzung von Mediennutzungsregeln reduziert: Darf mein Kind Computergames spielen – und wenn ja: wie lange? Das wäre allerdings noch weniger, als die Polizei erlaubt. Die weiss immerhin, dass die Vermittlung von Grundkenntnissen für einen sicherheitsbewussten und rechtskonformen Umgang mit den Neuen Medien dringend notwendig ist und dass man sich dabei nicht auf die Eltern verlassen kann. Und um Grundkenntnisse ging es der Motion: um die Sensibilisierung für die Chancen und Gefahren der Neuen Medien.
Was dem Nationalrat schon zu viel war, ist dem Medienwissenschaftler noch viel zu wenig. Das Motto der Motion, «Medienführerschein», verweist wieder auf Verkehrskompetenz, und gewiss, die ist auch auf dem Datenhighway ein unverzichtbarer Anfang. Die Frage lautet zunächst: Was kann ich alles mit den Neuen Medien machen, und wie mache ich es richtig?
Neue Medien schaffen neue Werte
Fortgeschrittene fragen aber auch: Was machen die Medien mit mir? Es wäre fatal, wenn unsere «Mediengesellschaft» nicht thematisieren würde, welche Werte und Normen Neue Medien schaffen und abschaffen und wie wir uns dazu verhalten sollen. Und es wäre falsch, diese Diskussion nicht auch dort zu führen, wo Erziehung in Ergänzung oder in Konkurrenz zur Familie stattfindet: in der Schule.
Konkret: Man muss lernen, wie die Privatsphären-Einstellungen auf Facebook optimal genutzt werden können, aber man muss auch diskutieren, wie das Facebook-Prinzip der radikalen Transparenz die Gesellschaft verändert. Man muss lernen, Googles Suchergebnisse richtig zu lesen, aber auch überlegen, was es heisst, wenn ein börsennotiertes Privatunternehmen ohne jede gesellschaftliche Kontrolle weltweit den Zugang zum Wissen bestimmt. Und wenn man darüber spricht, wie sich der Einflussindikator («Klout Score») eines Menschen zusammensetzt und manipulieren lässt, muss man auch darüber sprechen, was es bedeutet, wenn alle gesellschaftlichen Aspekte quantifiziert werden.
Wie sieht die Praxis aus? Da die Ausgestaltung der Lehrpläne keine Bundeskompetenz ist, können die Kantone unabhängig vom Nationalrat eigene Wege gehen. Im Kanton Solothurn führte dies zum Fach Medienbildung für die 3. bis 9. Klasse, wozu das Solothurner Departement für Bildung und Kultur 2012 den Bericht «Medienbildung. Erfolgsfaktoren für einen zeitgemässen Unterricht» vorlegte. Darin steht zwar gleich eingangs, dass es bei der Vermittlung von Medienkompetenz um mehr gehe als ums Tastaturschreiben und um Software-Anwendung, nämlich auch um eine aktive, kritische Auseinandersetzung mit dem Internet. Aber es wird zugleich deutlich gemacht: Während die Infrastruktur (ein Computer pro fünf Lernende) geschaffen ist, fehlt es an Erfahrung, wie Facebook, Google & Co. didaktisch sinnvoll im Klassenzimmer diskutiert werden können.
Der einsame Lehrer
Das Hauptproblem, mit dem alle in Sachen Medienbildung engagierten Lehrer konfrontiert sind, ist ihre doppelte Einsamkeit im Schulzimmer. Als vor 1985 geborene «digital immigrants» sind sie für die «digital natives», die mit diesen Medien von Kindesbeinen an vertraut sind, keine Autoritätspersonen, wenn es um Nutzungskompetenz geht. Die Kontrasterfahrung ihrer Herkunft (aus dem «Gutenberg-Zeitalter») schützt die «Immigranten» zwar davor, in die herrschenden Kulturtechniken reflexionsfrei hineinzuwachsen, was gerade Ältere dazu qualifiziert, über das Neue zu reden. Für die vertiefte Diskussion zur Geschichte und Wirkungsweise der Medien aber fehlt die Ausbildung, die es hier ebenso braucht wie im Falle des Literatur-, Kunst- oder Ethikunterrichts. Es gibt kein Fach Medienbildung im Lehrerstudium in der Schweiz. Wie soll es da eine vertiefte Medienbildung an den Schulen geben?
In Deutschland ist die Situation nicht besser. Zwar findet man mancherorts den Erweiterungsstudiengang Medienpädagogik, aber dessen Ziel ist weniger eine prinzipielle Diskussion der Medienentwicklung als eine Art erweiterte Verkehrskompetenz: Wie nutzen Kinder und Jugendliche Medien? Wie kann ein kompetenter Umgang gefördert werden? Die Deutsche Gesellschaft für Medienwissenschaft fordert deshalb Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote vonseiten der Medienwissenschaft für Akteure schulischer und ausserschulischer Bildung.
Mit der Einführung eines eigenen Schulfachs Medienbildung ist in Deutschland zunächst so wenig zu rechnen wie in der Schweiz. Bis dies endlich geschieht und die erste Generation medienwissenschaftlich ausgebildeter Literatur-, Kunst- und Ethiklehrer in die Schulen kommt, empfehlen sich deshalb direkte Wege: Warum nicht Dozenten, Absolventen oder Studenten der Medienwissenschaft in die Schulen schicken, um als Fachpersonen in den entsprechenden Schulfächern oder Projekten aufzutreten? Könnte die Universität nicht – ebenso wie die Polizei – der Schule Unterstützung anbieten? Den Lehrern wäre so doppelt geholfen in ihrem Bemühen, die Neuen Medien ebenso zum Unterrichtsthema zu machen wie die Photosynthese und den Dreisatz.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.11.12