Rudolf Rechsteiner: «Der Brexit ist gut!»

Die Briten blockierten die Zusammenarbeit mit Europa, wo sie nur konnten. Sie verfolgten eine ausbeuterische Politik genau wie die SVP-Banken-Schweiz. Der Brexit ist eine Chance für alle.

Basel, 06.02.2013. - Ruedi Rechsteiner, Member of Parliament / Grossrat SP. Photo by Roland Schmid

(Bild: Roland Schmid)

Die Briten blockierten die Zusammenarbeit mit Europa, wo sie nur konnten. Sie verfolgten eine ausbeuterische Politik genau wie die SVP-Banken-Schweiz. Der Brexit ist eine Chance für alle.

Ich* finde den Brexit gut, aber nicht aus den gleichen Gründen wie die Leute in der SVP.

Ich finde ihn erstens gut, weil ich die Idee der Selbstbestimmung der Völker richtig finde. Die EU soll kein Völkergefängnis sein, keine imperiale Struktur, sondern sie soll ein offenes System bleiben, das den Menschen und den Mitgliedstaaten dienen soll, mit freiem Entscheid zu bleiben oder nicht. 

Zum Zweiten glaube ich, dass David Cameron als der Mann in die Geschichte eingehen könnte, der 2016 das Ende des Britischen Königreichs eingeleitet hat, nachdem schon das British Empire so um 1960 von der Bildfläche verschwand. Die Nordiren und die Schotten wollten den Brexit nicht. Möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass sie sich von England lösen und ein vereinigtes Irland und ein unabhängiges Schottland bilden. Aus England wird dann ein Königreich London und Umgebung, definitiv mit einer neuen Identität, die es noch finden muss.

Die Briten verfolgten ein ökonomisches Konzept, das allein die Bereicherung auf Kosten der andern zum Ziel hat.

Drittens finde ich den Brexit richtig, weil die Briten Europa gar nie aufbauen wollten. Sie verstanden sich nie als Teil des «Kontinents» und blockierten die Zusammenarbeit, wo sie nur konnten. Mit der ständigen Suche nach Sonderkonzessionen verfolgten die Briten eine ausbeuterische Politik auf Kosten der Nachbarn, die auch die SVP-Banken-Schweiz möchte: Bankgeheimnis, Steuerdumping, selektive Freizügigkeit – ein ökonomisches Konzept, das allein die Bereicherung auf Kosten der andern zum Ziel hat –, ein Betrug, der lange als «Steuerwettbewerb» beschönigt wurde und unzähligen Ländern in Europa und der 3. Welt Milliardenverluste bescherte, weil die Reichen mit ihrem gestohlenen Geld nach Norden flüchteten.

Im Übrigen machten die Briten im Irakkrieg mit den USA gemeinsame Sache. Tony Blair («Clony Blair», der Clon von Maggie Thatcher) machte Grossbritannien zum Unterhund der USA, zum «unsinkbaren Flugzeugträger». Bush und Blair sind mitverantwortlich für den Untergang Syriens und des Irak, für Millionen Tote und Vertriebene. Dieses aggressiv-militärische Element und seine Grausamkeit wird nun innerhalb der EU eher zurückgedrängt. Gut so.

Der Brexit wird viel Kreativität freisetzen und damit gelingt es Brüssel vielleicht, die Initiative zurückzugewinnen.

Dadurch wird die EU vielleicht noch friedlicher als bisher. Frau Merkel macht das vor, im guten Sinne: Verhandeln mit allen (Ukraine, Türkei, Russland), Verzicht auf Waffengewalt, wo immer möglich, Festigkeit in der demokratischen Grundhaltung, staatsmännisch (staats-frauisch müsste man sagen): Europa als gemeinsames Haus im Geist Gorbatschows. Ohne Selbstverleugnung und ohne die eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren.

Viertens finde ich den Brexit gut für die EU. Er wird viel Kreativität freisetzen und damit gelingt es Brüssel vielleicht, die Initiative zurückzugewinnen. Nun müsste Brüssel ein Mehrkreis-Modell der Partizipation kreieren, mit einer Vielzahl von gemeinsamen Sektorpolitiken, in die sich auch die Schweiz nach freiem Entscheid einfügen kann (wie mit Schengen), aber frei bleibt, ja oder nein zu sagen. Und mit dem Euro als gemeinsame, aber vielleicht nicht als einzige Währung.

Das wäre eine Befreiung von den Hasskampagnen rechtsextremer Milliardäre von Trump bis Blocher.

Eine solche offene Struktur der EU könnte den rechtsextremen Grossmäulern von AfD und SVP rasch das Wasser abgraben. Stimmen wir doch bitte jährlich ab über die Bilateralen! Dann kann die SVP ihre Hass-Themen nicht mehr länger bewirtschaften, sondern der Fall ist dann klar. Die EU wird sich nicht länger verleugnen müssen und kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Es bleibt der Kernbestand der vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) und ein «à la carte»-Programm für den Rest. Das wäre eine Befreiung von den Hasskampagnen rechtsextremer Milliardäre von Trump bis Blocher.

Vielleicht gelingt es uns dann auch, den Status quo ehrlicher zu analysieren. Wir sind nämlich längst EU-Passivmitglied. Wir folgen den vier relevanten Spielregeln wie ein Mitgliedstaat, aber wir verzichten auf Einflussnahme in Brüssel. Die Schweiz verhält sich wie ein Eunuch im Bordell. Alle lachen über ihn. Der Eunuch aber hält sich für moralisch überlegen und predigt sexuelle Abstinenz als Tugend.

Dass wir den Fünfer und das Weggli erhalten werden, ist jetzt noch unwahrscheinlicher als zuvor.

Die SVP wird versuchen, die Schweiz erst recht aus den bilateralen Verträgen zu lösen. Darum dreht sich nun die nächste Schlacht. Neu ist: Wir können zuschauen, wie England es macht. Ob es London gelingt, die Nichtmitgliedschaft positiv zu gestalten. Wird die EU neu den Mitgliedstatus des «zugewandten Orts» kreieren, von dem auch die Schweiz profitieren wird? Unwahrscheinlich, aber nicht völlig unmöglich.

Und eine Kündigung der Bilateralen, wie es die SVP will? Landen wir dann gemeinsam mit London auf dem Status eines Schwellenlandes, auf dem integrationspolitischen Niveau der Ukraine? Dass wir den Fünfer und das Weggli erhalten werden, ist jetzt noch unwahrscheinlicher als zuvor: Wieso sollte die EU den Marktzugang verschenken an Leute, die nichts beitragen wollen zur Stabilität und Freiheit innerhalb Europas? Das wären ja lauter Zückerchen für den Austritt aus der EU.

Die EU wird London und der Schweiz nichts schenken. Alles andere wäre eine Diskriminierung der eigenen Mitglieder. Geht gar nicht.

* Rudolf Rechsteiner war Nationalrat 1995–2010 und von 2007–2010 Mitglied der aussenpolitischen Kommission (APK). Heute sitzt er für die SP im Grossen Rat.

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