Schweizer Rechte drohen mit der Chemnitz-Keule

Politiker nutzen die Ausschreitungen von Chemnitz, um Propaganda für ihre eigene rechte Asylpolitik zu machen.

Völker, hört die Signale: Das Wutgeschrei aus Chemnitz stösst in rechten Schweizer Kreisen auf Anklang.

Chemnitz ist nicht Basel, Deutschland ist nicht die Schweiz. Wir könnten als TagesWoche die Berichterstattung der Ereignisse getrost den Journalistinnen und Beobachtern in Deutschland überlassen. Wenn da nicht Schweizer Journalisten wären, die versuchten, mit Chemnitz die rechtsradikale Gewalt zu verharmlosen. Und Politiker, die mit Chemnitz Propaganda für ihre eigene rechte Asylpolitik machen.

Ein Mann wird erstochen, verdächtigt werden Asylbewerber. Danach rotten sich Menschen an den Rändern einer Demo zusammen und jagen Ausländer, Journalisten und Gegendemonstranten durch die Stadt, verprügeln sie, machen den Hitlergruss. Und Urs Paul Engeler, ehemaliger «Weltwoche»-Journalist, weiss im «Telebasel»-Talk vom Sonntag nichts Klügeres zu sagen als: Merkels Asylpolitik «rechtfertigt nicht die Hitlergrüsse, aber das Unbehagen vom Rechtsstaat».

In eine ähnliche Richtung twittert «Weltwoche»-Chef Roger Köppel und nimmt dabei Bezug auf die deutsche Talkshow von Anne Will:

Köppel wirft den deutschen Medien vor, sie würden alle Demonstranten in Sachsen in die rechtsextreme Ecke stellen und dabei die Ursache des Aufmarschs ignorieren: die Tötung eines Mannes als direkte Folge der deutschen Asylpolitik.

Dieselbe Argumentationslinie baut Markus Somm in der BaZ auf, wenn er schreibt:

«Längst hätte dieser junge Mann abgeschoben werden müssen. Dass er überhaupt hier war, kann man auch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vorhalten. Denn er kam genau in jenen Wochen, im Herbst 2015, nachdem sie einseitig, ohne kaum jemanden zu fragen, die deutschen Grenzen für nahezu eine Million Flüchtlinge geöffnet hatte.»

Wenn man diese Logik zu Ende denkt, heisst das nicht nur, dass Angela Merkel mit ihrer Asylpolitik den Messerstecher ins Land gelassen und so den Mord ermöglicht hat. Es heisst auch, dass die Wut der Menschen in Chemnitz berechtigt ist. Die Botschaft der rechten Journalisten lautet: Die Mittel (der Hitlergruss, die Jagd auf Ausländer) sind falsch, aber die Ressentiments sind berechtigt.

Aus unglaubwürdiger Quelle

Ressentiments, die einige Politiker offenbar auch gerne in der Schweiz sähen. So appelliert SVP-Nationalrat Andreas Glarner direkt an die Schweizer, nach Deutschland zu schauen. Auf seiner Facebook-Seite publiziert er eine Liste von Tötungsdelikten, bei denen Ausländer angeblich Deutsche ermordet haben sollen. Die Liste stammt nicht von einer glaubwürdigen Quelle, sondern von einem Mann, den die TagesWoche kürzlich als einen der grössten Internethetzer der Schweiz enttarnt hat: Der Riehener Martin Widmer stand wegen seiner Hassreden vor Gericht.

Glarner schliesst seine Ausländer-Mordliste mit den Worten: «Schweizer, erwache!»

Und das ist der Moment, der Angst machen sollte. Denn es stellt sich die Frage: Was passiert, wenn der Schweizer – im Sinne Glarners – erwacht?

Auf demokratischem Weg kann die Schweiz in der Asylpolitik ja kaum noch rechter werden. Hierzulande machte die SVP schon mit schwarzen Schäfchen, Vergewaltigern und Burkaträgerinnen Stimmung gegen Ausländer, bevor es die AfD überhaupt gab. Diese Hetze ist so salonfähig, dass Hardcore-SVPler in Parlamenten und Regierungen sitzen und die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Verschärfung nach Verschärfung in der Asylpolitik abnicken.

Was will Glarner noch?

Andreas Glarners SVP hat bei den letzten Wahlen Wählerinnen und Wähler verloren. Und 2016 schickte die Bevölkerung die «Durchsetzungsinitiative» zum Teufel. Die Realität, auch wenn uns die SVP etwas anderes weismachen will, ist die: Asylgesuche in der Schweiz sind im Jahr 2017 auf 18’088 gesunken, es ist der tiefste Wert seit dem Jahr 2010 (15’567 Gesuche).

Sollen Glarners Fans und Follower seinen Weckruf so verstehen, in Zukunft wieder vermehrt für die SVP an die Urne zu gehen?

Selbst wenn man die SVP-Asylpolitik ablehnt, muss man das hoffen. Denn die zweite mögliche Interpretation von Glarners Aufruf wollen wir uns gar nicht erst vorstellen. Ein böses Erwachen wie in Chemnitz kann sich niemand wünschen.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/wer-ausschreitungen-rechter-gewalttaeter-relativieren-will-versteht-nicht-wie-ernst-die-lage-ist/

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