Bis in die 1970er-Jahre verübte die halbstaatliche Stiftung Pro Juventute schwere Verbrechen an den Jenischen. Der Berner Polizeieinsatz gegen ein Protestcamp der Fahrenden ist ein weiterer Eintrag in der langen Liste der Diskriminierungen dieser Volksgruppe. Auch Basel hat daran seinen Anteil.
Die Schweiz gilt weltweit als Vorbild für das harmonische Zusammenleben der Kultur- und Sprachgemeinschaften. Damit geht man gerne auch auf grosser Bühne hausieren. Dabei gibt es ein Problem, mit dem die Schweiz am liebsten gar nichts zu tun haben würde: mit den Jenischen.
Deutlich wurde das letzte Woche, als Fahrende eine Brache in Biel für ihre Wohnwagen widerrechtlich in Beschlag genommen hatten. Damit wollen sie auf den Mangel an Standplätzen aufmerksam machen. Mittlerweile gibt es eine Einigung mit den Behörden. Der Kommentator der «Berner Zeitung» mahnte aber prompt: «Die Jenischen müssen aufpassen, dass sie den Goodwill der Bevölkerung nicht verspielen.»
Diese Aussage bringt das belastete Verhältnis der Schweiz zu ihren Fahrenden auf den Punkt. Würde das Blatt dasselbe schreiben, wenn sich der Kanton Tessin gegen grenzüberschreitende Kriminalität oder Tieflöhne auflehnte?
Die rund 30’000 Jenischen sind Schweizer, sie gehören dieser Gesellschaft an und zwar seit Generationen. Sie sind auf den Goodwill der Bevölkerung nicht angewiesen, zu der sie offenbar nicht gezählt werden, damit ihnen der Staat eine Existenzgrundlage ermöglicht. Es ist die gerichtlich angeordnete und gesetzlich verbriefte Pflicht der Behörden, Stellplätze zur Verfügung zu stellen.
Das Verhalten der Polizei gegenüber den Fahrenden ist schlicht inakzeptabel.
Kurz vor der Besetzung in Nidau hatte die Polizei über hundert Fahrende von der Kleinen Allmend in Bern gewaltsam vertrieben, weil diese für die Landwirtschaftsmesse BEA genutzt werden sollte. Die Polizisten kesselten die Fahrenden ein und führten eine Person nach der anderen in eine Turnhalle ab. Dabei verpassten sie allen, auch den Kindern, eine Nummer zur Identifikation – aufgetragen entweder mit einem Filzstift auf die Hand oder auf einen Zettel, der mit Kabelbinder am Handgelenk festgemacht wurde. Kinder wurden während der Aktion von ihren Vätern getrennt, Familien auseinandergerissen.
Musste in der Turnhalle eine Frau auf die Toilette, wurde sie gemäss der Darstellung von Beteiligten von männlichen Beamten dorthin begleitet.
Das Verhalten der Polizei ist nicht nur entwürdigend und unsensibel. Es ist schlicht inakzeptabel. Wäre so ein Polizeieinsatz in Deutschland passiert – die Verantwortlichen und die politischen Vorgesetzten wären eher heute als morgen nicht mehr im Amt.
Jenische starben zu Abertausenden in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Die Nummerierung und damit die Entmenschlichung der Opfer entsprach einer Standardprozedur der Nazis. Wenn sich die Polizei nun rechtfertigt, die Massnahme habe die Zuteilung der beschlagnahmten persönlichen Habseligkeiten erleichtert, offenbart das vor allem die Geschichtsblindheit der Beamten.
Seit mehr als zehn Jahren foutiert sich Basel-Stadt um eine Lösung.
Auch die Auftrennung von Familien weckt Erinnerungen an dunkelste Zeiten: Bis 1973 entriss die halbstaatliche Stiftung Pro Juventute hunderte jenische Kinder ihren Familien und steckte sie in Erziehungsheime oder vergab sie an Bauern als billige Arbeitskräfte. Bei den Jenischen sind alle diese Ereignisse Teil des kollektiven Gedächtnisses. Jeder kann die traurige Geschichte eines Grossonkels, einer Tante oder der eigenen Mutter erzählen.
Die Berner Vorgänge wären in Basel nicht möglich – allerdings nicht aus Gründen einer erhöhten rot-grünen Sensibilität. Basel tickt anders und bestreitet einen eigenen Weg im Umgang mit den Jenischen. Seit mehr als zehn Jahren foutiert sich der Kanton um ein Bundesgerichtsurteil, wonach der Stadtkanton wenigstens zehn Standplätze anbieten muss. Anzahl Plätze für Fahrende derzeit in Basel-Stadt: null.