Wer redet, hat verloren

Bankgeheimnis und EU-Beziehungen sind Tabuthemen in der Schweizer Politik – wer trotzdem darüber redet, riskiert die politische Ächtung.

Bundesrätin Widmer-Schlumpf hat etwas laut über das obsolete Bankgeheimnis nachgedacht und prompt eine Tracht verbale Prügel bezogen. (Bild: Mara Truog)

Bankgeheimnis und EU-Beziehungen sind Tabuthemen in der Schweizer Politik – wer trotzdem darüber redet, riskiert die politische Ächtung.

«Blinzeln» ist ein Gesellschaftsspiel, allerdings etwas aus der Mode gekommen. Es gab viele Varianten, die eine ist die: Es sitzen ein paar Leute an einem Tisch. Jemand sagt: «Blinzeln wir.» Man schaut einander in die Augen. Irgendwann fixieren sich zwei, und dann gehts darum: Wer blinzelt zuerst? Der Blinzler scheidet aus. Das ist ganz lustig. Man muss nicht viel reden.

Wer zuerst blinzelt, ist erledigt. Eine Art Poker ohne Karten – wie ­gesagt, etwas aus der Mode gekommen. In modernerer Form erlebt es in der Politik allerdings ein Comeback, leicht abgeändert zwar: Wer zuerst redet, hat verloren.

Bundesrätin Eveline Widmer- Schlumpf zum Beispiel. Zum Abschluss ihres Präsidialjahres hat sie Bilanz gezogen und einen kleinen Ausblick gewagt. Ganz leise tönte sie an, was im Prinzip alle wissen, die sich mit der Sache beschäftigen: Dass man sich in der Schweiz ernsthaft Gedanken darüber machen muss, im Bankenwesen den Informationsausgleich mit den Steuerbehörden anderer Länder einzuführen. Was nichts anderes bedeutet als das Ende des Bankgeheimnisses. Nein, nein, so deutlich hat sie es nicht gesagt, aber ihre Andeutung war schon zu viel.

Widmer-Schlumpf hat nur leicht geblinzelt respektive geredet und schon wurde sie durch die Mangel ­gedreht. Die freisinnige Parteispitze machte auf entsetzt und wollte ihr umgehend das Steuerdossier entziehen, die SVP-Steuerpolitiker widersprachen ebenso heftig. Widmer-Schlumpf – die Landesverräterin.

Hartnäckig in den Köpfen

Es scheint Tabus zu geben, die ein ­Politiker nur unter Inkaufnahme des Risikos, sich selbst abzuschiessen, brechen darf. Das Bankgeheimnis ­gehört ganz gewiss dazu, auch wenn es faktisch gar nicht mehr existiert, da es die Banken selbst abgeschafft haben: Schliesslich sind es illoyale Bankangestellte, die mit dem Verkauf von Steuer-CDs laufend das Geheimnis verraten. Das Bankgeheimnis existiert nur noch in den Köpfen realitätsferner Politiker. Dort umso hartnäckiger. Darum: Wem das politische Überleben wichtig ist, der rede nicht. Nicht über das Bankgeheimnis …

… und schon gar nicht über Europa. Über die EU. Über den bilateralen Weg. Denn: Die Schweiz will eigenständig bleiben, hat den bilateralen Weg zum Königsweg erklärt, und das soll die EU zur Kenntnis nehmen. Das ist die Botschaft, die sich in den Schweizer Köpfen festsetzen soll.

Auch wenn sich die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verflechtungen in Europa unterdessen so weiterentwickelt haben, dass es völlig unabhän­gige Länder gar nicht mehr gibt. Mög­licherweise ist es mittlerweile auch so, dass man gewisse Regeln und Gesetze zwischen der Schweiz und den 27 Ländern der EU aufeinander abstimmen sollte. Denkbar ist auch, dass die EU keine Lust hat, mit der Schweiz über ein Stromabkommen zu diskutieren, wenn die Eidgenossen sich weigern, in bereits bestehenden Verträgen das sich ändernde EU-Recht zu akzeptieren.

Darüber spricht man nicht

Das ist alles möglich, denkbar und wahrscheinlich – aber darüber spricht man nicht. Der Wirtschaftsminister nicht, der Aussenminister nicht, die anderen Bundesräte schon gar nicht. Johann Schneider-Ammann hat zu Beginn seiner Amtszeit, Anfang 2011, im Bundesrat darüber diskutieren wollen, unter welchen Umständen und wie man neue EU-Gesetze übernehmen solle, welche Bestandteil von bestehenden bila­teralen Verträgen sind. Er sprach von einem institutionellen Rahmen­abkommen, das mit der EU auszuhandeln sei.

Alle schweigen, und das Land tappt in EU-Fragen im Dunkeln.

Seine Absicht ist an die Öffentlichkeit gedrungen, und dem Wirtschaftsminister wurde umgehend Willfährigkeit gegenüber den EU-Vögten vorgeworfen. Er setze die schweizerische Souveränität aufs Spiel, hiess es. Seither schweigen er und seine Regierungskollegen, und wenn sie trotzdem etwas sagen, dann etwa dies: Die EU sei zu Diskussionen bereit. Zu Diskussionen worüber? Das wissen wir nicht so genau, denn wer als Erster auch nur schon andeuten würde, dass die Schweiz in anstehenden Verhandlungen gewisse Konzessionen machen muss, hat verloren. Alle schweigen, und das Land tappt in EU-Fragen im Dunkeln.
Kaum ein namhafter Politiker ­äus­sert sich über die Auswirkungen, die eine automatische Übernahme von EU-Recht auf die Schweiz hätte. Keiner darüber, was es bedeutete, hart zu bleiben gegenüber der EU-Forderung, die Steuerprivilegien für ausländische Holding-Unternehmen abzuschaffen. Oder darüber, wie sich der inländische Elektrizitätsmarkt ohne Stromabkommen mit der EU entwickeln könnte. Reden ist Landesverrat …

Spielball anderer Länder

Es gibt gewisse Parallelen zum Bankgeheimnis. Bundesrat und die Mehrheit der eidgenössischen Parlamen­tarier wiederholten noch laut und markig, das Bankgeheimnis sei unverhandelbar, als es bereits unterhöhlt und löchrig war. Sie tun es zum Teil noch heute, obwohl es das Ausland faktisch abgeschafft hat. Die souveräne Schweiz ist zum Spielball anderer Länder geworden. Zu spät hat sie reagiert, hat sie Lösungen präsentiert – nur gerade mit Grossbritan­nien und Österreich konnte sie Steuerabkommen abschliessen. Zu lange haben jene geschwiegen, die das Unheil kommen sahen – aus der Angst heraus: Wer redet, ist politisch tot.

Im eben angebrochenen Jahr dürfte – so sind Signale aus Brüssel zu deuten – das Verhältnis zur EU zu ­einem wichtigen Thema werden. Verhandlungen über Stromabkommen, institutionelle Rahmenabkommen, Personenfreizügigkeit, neue Kohäsionszahlungen stehen bevor.

Was die Schweiz anbieten könnte, wo Konzessionen wohl unausweichlich sind, was wir dafür gewinnen würden – darüber redet niemand. Wer es als Erster tut, ist ein Defätist, der die schweizerische Souveränität aufs Spiel setzt. Doch wenn alle schweigen, können auch keine kon­struktiven Lösungen gefunden werden. Denn diese erarbeitet man im Diskurs. Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat, hiess es im Kalten Krieg. Heute schadet der Heimat, wer sich nicht zu reden traut.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

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