Ihre Wörter schiessen scharf gegen «Brüssel» und «die Eliten», während sie Publizisten wie Roger Köppel laufend mit Munition versorgen. Karl-Alois Hürlimann analysiert die Sprache der Wutbürger und stellt dabei fest: Eine Diskussion ist kaum noch möglich, aber es gibt noch Hoffnung.
1. Die Sprache der Demonstranten
Sie sind zurzeit sehr laut. Sie behaupten, «das Volk» wolle keine Migration, schon gar keine «Immigration», wie ihre vereinheitlichte Sprachregulierung tönt, wenn sie in Talkrunden auftreten.
Sie verkünden, die «Basis» wolle die Flüchtlinge nicht mehr aufnehmen. Es seien sowieso «Scheinasylanten». Das wenigstens behaupten sie unentwegt, ob sie nun Brunner, Köppel, Strache oder Le Pen, Gauland, Petry oder Wilder heissen.
«Das Boot ist voll», behaupten sie ungeniert – als ob der Satz vor 70 Jahren nicht einem Todesurteil für Tausende gleichkommen wäre, für Menschen, die vor dem Faschismus fliehen wollten. Es ist freilich nicht das einzige Zitat, das sich die rechtsnationalistische und neofaschistische Propaganda bei den Nazis ausleiht.
Da wird dann weiter gefordert: Die «Balkanroute» müsse sofort hermetisch abgeriegelt werden. An den unbedingt zu errichtenden Grenzzäunen müsse man auch mit Schiessbefehlen auf die «Flüchtlingsströme» losgehen, um sie zurückzutreiben.
Die Presse, schreien sie auf ihren Demonstrationszügen, sei eine «Lügenpresse», die «Linken» hätten die gesamte Politik unterwandert.
«Landesverräter» und die «Bedrohung»
Sie, die «normalen» Deutschen, die «fleissigen» Schweizerinnen, die «netten» österreichischen Menschen, die «sauberen» Norditaliener und «braven» Französinnen, die «hochentwickelten» Skandinavier, auch und gerade die schweizerischen, die österreichischen oder sonstwie national gut eingeführten Identitäten – sie alle würden zugunsten des Weltislam verraten. Die Medien, die Landesverräter in den Regierungen, Kirchen, Gewerkschaften oder kurz: die ganzen «Eliten» würden sie gezielt benachteiligen. Dies mit dem Ziel, die «normalen» Nationenbürgerinnen und -bürger endgültig in einer EU-Diktatur unterdrücken zu können.
Sie sagen: Das «Brüsseler Monster» sei die schlimmste Diktatur, die je in Europa aufgetreten sei. Darunter geht es nie.
Mit den «Eliten» kommen ihre Anführerinnen und Anführer im Verlauf ihrer Wutdarstellung immer irgendwann. Mit den «ausländischen Professoren» ebenso. Verdeckt, hinter der Maske der Bauernschläue oder des «genauen Wissens der Wahrheit» (man achte auf den ewigen Singular), bauen sie Drohkulissen auf, denen man ausgeliefert sei, wenn man sich jetzt nicht endlich dagegen stelle. Ausgepackt wird dabei mehr oder weniger indirekt – in Ungarn, Polen, der Ukraine usw. geht es diesbezüglich bereits wieder ganz unverhüllt zur Sache – einmal mehr auch das Zerrbild eines Weltjudentums oder afrikanischer, von männlichen Sexualitätsritualen geprägter Primitivität.
Gegen diese «Bedrohung» (hier wählen sie dann wieder den Singular) stellt man sich in den Augen der sich selbst als Wutbürger definierenden Protestler und Socialbook-Hetzerinnen, indem man etwa sagt: «Wir sind das Volk!», oder «Österreicher zuerst», oder «Parteien Gute Nacht, Bürger an die Macht». Oder, typisch für die sächsische Pegida-Hetzkampagne: «Für Heimat, Frieden & Deutsche Leitkultur, Gegen Islamisierung und Multikultui, LEGIDA»
Eingehämmerte Worte und Inhalte
«Normale» Forderungen seien dies, doch das «EU-Bürokratiemonster» in Brüssel entziehe diese der Demokratie und damit dem Willen «des Volkes». Ein eigenartig unspezifisches «Volk», das da in der Einzahl verwendet wird.
Sowohl die SVP als auch die FPÖ, sowohl Pegida-Hetzsprecher als auch AfD-Grössen – sie alle reden ständig vom «Volk», und zwar immer im Singular. Die schweizerische Version von «das Volk» allerdings wendet sich gerne auch gegen «die Deutschen», die «uns» überrennen würden. Dasselbe geschieht, wenn Strache «das Volk» erwähnt und gegen die von draussen vorgehen will. Petry und Co. wiederum, die «das Volk» selbstredend ausschliesslich als das deutsche mitsamt seiner «Leitkultur» verstehen, holen sich gerne die Hilfe von Leuten wie Köppel (SVP Schweiz), um ihre «Wahrheit» (Singular!) zu demonstrieren. Der SVP-Staatsrat aus dem Kanton Wallis, Freysinger, tritt hingegen gerne bei Wilder oder den Le Pens auf. Notfalls sind es auch «Bewegungen» wie «pro Deutschland», an deren Tagungen sich Freysinger und Wilder begegnen.
Früher habe man gewusst, wohin man gehöre und was sich gehöre, um dazu zu gehören.
Als eiserner Bestandteil der rechtsnationalistischen Rede gilt: Das «Brüsseler Monster» sei die schlimmste Diktatur, die je in Europa aufgetreten sei. Darunter geht es nie.
Dann folgt die totale Beschönigung der Vergangenheit, aus der alles hinausgestossen wird, was nicht ins Idyll des rassistischen Rituals von Blut und Boden passt: Früher habe man gewusst, wohin man gehöre und was sich gehöre, um dazu zu gehören. Jetzt werde die europäische – oder wahlweise die schweizerische, die flämische, die kärntnerische oder die appenzell-innerrhodische Kultur, das Christentum, die Identität des Abendlandes, durch den Islam unterlaufen.
Ist dieser Bedrohungsaspekt erledigt, folgt sofort jener über die «Eliten»! Diese würden sich als «Gutmenschen» verkleidet, als Professoren und Besserwisser ohne jeglichen Bezug zur Realität betätigen, als bestochene korrupte Propagandisten des Untergangs. «Das Volk» müsse nun, wenn nötig «mit Mistgabeln», in den Regierungen aufräumen. Dort, wo die Verräter am «Volk» längst eine eigene Diktatur bilden würden. Die müsse «das Volk» ein für alle Mal aus ihren Ämtern entfernen. In der Schweiz benötigt es dafür nicht zwingend Mistgabeln. Detailliert ausformulierte Verfassungsinitiativen tun es auch, um die fremden Richter, überhaupt die Richter, auszumisten und zu sagen, was gilt. «Ein für alle Mal.»
Das ist besonders wichtig. Man will nichts weniger als eine Lebens-Endgültigkeit im «eigenen Land», im «Heimatland», als Volk in der ihm zustehenden Nation. Es handle sich, sagte beispielsweise die Pegida-Vorsprecherin Tatjana Festerling in einem Interview auf n-tv.de, im Kampf gegen Islamisierung um «die letzte Schlacht».
Vergangene Zeit, ach warst du schön!
Die Frage, was genau man denn eigentlich will, also die Frage nach sozialen, politischen, in die Zukunft führenden Zielen erübrigt sich aus der Sicht der Pegida-Demonstranten, der SVP-Funktionärsschicht, der AfD- oder FPÖ-Propagandisten, weil «man» schliesslich deutlich macht, was einen wütend macht: Die Muslime, die Ausländer, die «Eliten» – oder einfach: die Andern.
Die Anderen sollen verschwinden, dann ist es «bei uns» wieder «normal». Dann gibt es keine Sozis mehr, keinen «Dichtestress», keinen Mietwucher, keinen Klimawandel, keine Radfahrer, keine Multikulti-Wohngemeinschaften, keine schwulen Stadtpräsidenten oder Lehrer, keine ausländische Konkurrenz für die Landwirtschaft, für den Käsemarkt und die inländische Weinproduktion.
Da darf «man» dann natürlich ohne Hemmung «Neger» sagen, den Judenmord der Nazidiktatur als Erfindung oder massive Übertreibung darstellen und auch einen Staatsführer wie Reichsmarschall Göring als Vorbild für –
ja, wofür eigentlich?
So! – und nicht anders
Wen sprechen die Wut-Demonstranten an, die Wut-Organisatoren und die Wut-Journalisten?
Da schreiben sich einige «führende», sich selber als «konservativ» oder «liberalkonservativ» bezeichnende Chefredaktoren und (Ex-)«Herausgeber» in deutschsprachigen Printmedien die Finger wund am Versuch, politischen Anstand als reine Verlogenheit, ja als Bedrohung der Meinungsäusserungsfreiheit zu desavouieren.
Sie bezeichnen Widerspruch als «Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit». Dabei ist Widerspruch nichts anderes als Meinungsäusserung.
Mit nachvollziehbaren Inhalten hat diese Behauptung allerdings wenig, meistens gar nichts zu tun. Denn auffallend ist, dass die Behauptung, die Meinungsfreiheit würde beeinträchtigt, immer dann ins Feld geführt wird, wenn Äusserungen widersprochen wird, die klar rassistische, faschistische oder minderheitenverachtende Hetzparolen verbreiten.
Widerspruch ist dann «Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit». Dabei ist Widerspruch nichts anderes als Meinungsäusserung. Es ist die Äusserung einer anderen als der kritisierten Meinung.
Durch die Verleumdung Andersdenkender, sie untergrüben die «Meinugsfreiheit», ist schon klar, was in der deutschen Schweiz Köppel und Somm samt ihren Starschreibern im Schilde führen: Alles, was nicht in «die Wahrheit» passt, die sie verkünden, soll nach dem Diktat der «Gutmenschen», der «Eliten» stinken, die sich einen Dreck um den Volkswillen scheren.
2. Unterstellung pur: Beispiel Köppel und seine Kampfbegriffe
Vor etwas mehr als einem halben Jahr hat «Weltwoche»-Chef Köppel in der «Presse», einer der überregionalen österreichischen Tageszeitungen, einen Gastkommentar zum Flüchtlingsdrama publiziert, das sich damals anbahnte. Der redaktionellen Einführung zufolge antwortete er damit auf einen grösseren Text des Inlandchefs der «Süddeutschen Zeitung», Heribert Prantl, über die humanitären Verpflichtungen des Westens gegenüber Kriegsflüchtlingen.
Köppel im Wortlaut:
«Im Grunde ist es allen klar, aber niemand traut sich, es zu sagen: Was sich hier abspielt, ist ein grossräumig angelegter Missbrauch unseres Asylrechts durch illegale Wirtschaftsflüchtlinge. Es ist ein behördlich geduldeter Rechtsbruch in grossem Stil. Das Dubliner Flüchtlingsabkommen funktioniert nicht. In einem Europa der offenen Grenzen haben die überlasteten Italiener keinen Anreiz, die bürokratischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Ohnehin ist es eine Illusion, bei Zehntausenden, ja Hunderttausenden von hereinströmenden Migranten ordentliche Asylverfahren einzuleiten. Wer seine Papiere wegwirft, darf kaum mehr zurückgewiesen werden. Die illegalen Wirtschaftsmigranten würden nicht kommen, wenn sie nicht wüssten, dass und wie sie bleiben können.»
Ohne Umschweife führt Köppel den Leser auf die einzige unumstösslichen Wahrheit, die er im Stil einer endgültigen Feststellung verkündet. Der Aufbau des ganzen Abschnitts, der ins Thema einführt und gleichzeitig zentral ist für den Artikel, ist so geschrieben, wie Dogmatiker jeglicher Provenienz vorgehen, wenn sie ihre Axiome nicht beweisen können.
Nimmt man die Schlüsselwörter des Abschnitts heraus, lässt sich die totale Fixierung auf «die Wahrheit» gut erkennen:
- «klar»: Allen ist es klar;
- «niemand traut sich»: Klartext zu reden, also «die Wahrheit» zu sagen, trauen sich nur er, Köppel, nur sein Ziehvater, Blocher, nur seine Gesinnungsfreunde, in Österreich etwa Strache;
- «es spielt sich ab»: Das Beschriebene geschieht nicht einfach, sondern es wird gespielt. Und zwar von der «classe politique», den «Eliten»;
- «grossräumig angelegter Missbrauch»: Will wohl heissen, geografisch gesehen mehr als «die Schweiz» oder «Österreich». Geopolitisch verstanden bedeutet es Missbrauch, bedeutet soviel wie kriminelle Handlung, und zwar vorgenommen von Flüchtlingen;
- «unser Asylrecht»: Ganz untypisch für Rechtsnationalisten, bezieht sich hier «unser» nicht auf einzelne Nationalstaaten, sondern auf Europa. Auf etwas, was Köppel ansonsten als «Diktat der bürokratisierten EU», Blocher als «fremde Richtereinmischung» ablehnt;
- «illegale Wirtschaftsflüchtlinge»: Woran misst Köppel die «Illegalität»? Daran, dass Flüchtlinge, die er als «Wirtschaftsflüchtlinge» bezeichnet, irgendwo in Europa einen Asylantrag stellen? Ist jemand, der beispielsweise vor Hunger flieht, kein «echter» Flüchtling? Ein illegaler Asylant, der «unser» Asylrecht missbraucht? Wer sagt das? «Unsere» Gesetze? «Missbrauch unseres Asylrechts» ist eindeutig ein Kampfbegriff der Rechtsnationalisten und auch der Neofaschisten sowie Rassisten. Seit Jahren verwenden sie ihn als Vehikel in ihrer Hasspropaganda – mit einigem Erfolg vor allem dort, wo kaum Migrationsbewegungen zu erleben sind;
- «ein behördlich geduldeter Rechtsbruch in grossem Stil»: Das muss immer sein. «Behördlich» ist ein Kampfruf der SVP, der FPÖ oder der Pegida-Parolen. Sie unterstellen Behörden – ausser es handle sich um Landwirtschaftssubventionen oder Rüstungsexportbewilligungen – ständig Fehlverhalten, «bürokratisierte» Unfreiheit und dergleichen mehr. «Behördlich» appelliert an all jene, die sich wegen eigenen Fehlverhaltens Bussen oder gerichtliche Verurteilungen eingefangen haben;
- «das Dubliner Flüchtlingsabkommen funktioniert nicht»: Natürlich unterlässt es Köppel, etwas Inhaltliches zu den Dubliner Abkommen (es sind inzwischen deren drei) zu schreiben, geschweige denn konkret auszuführen, was nicht funktioniert. Dafür verwendet er ein von ihm als «Selbstläufer» verwendetes Axiom, das für die rechtsnationalistischen Staatsverrats-Begrifflichkeit weit oben steht und angeblich jegliche Inhaltsbezüge über das Nichtfunkionieren von Dublin I, II oder III unnötig macht:
- Europa der offenen Grenzen, die für die Rechtsnationalisten schon seit ihrem Bestehen sowieso einen Verrat an der eignen Nation darstellten, und – quasi als Krönung – die
- überlasteten Italiener.
In einem «Kommentar» zu einem Text des immer sachbezogen und differenzierend schreibenden Europäers Heribert Prantl darf natürlich ein Hinweis auf «Brüssel» nicht fehlen. Obwohl Dublin I, II und III mit «Brüssel», also mit der Kommission und deren Verwaltungen, nichts zu tun hat.
Denn die Handhabung der Dublin-Abkommen stellt eine Aufgabe subsidiären Charakters dar. Sie ist also bezüglich des Vollzugs eine Angelegenheit des EU-Ministerrates der EU-Mitgliedsstaaten und, im Fall von Dublin I, II und III, eine Angelegenheit der entsprechenden Ministerien Norwegens, der Schweiz, von Island und Liechtenstein auf nationalstaatlicher Ebene. «Brüssel» ist diesbezüglich nicht exekutiv, sondern – zum Beispiel über das EU-Parlament – legislativ beteiligt. Dies genauso wie National- und Ständerat in der Schweiz.
«Brüssel» ersetzt für Köppel die einfachste journalistische Pflicht, sich um Genauigkeit zu bemühen, wenn man kritisiert.
Das hindert Köppel aber nicht, von der angeblich alleinigen italienischen Überforderung bei der Umsetzung von «bürokratischen Vorgaben» aus Brüssel zu schreiben. «Brüssel» ersetzt für Köppel hier die einfachste journalistische Pflicht, sich um Genauigkeit zu bemühen, wenn man kritisiert. Anderseits entspricht «Brüssel» als Rattenschwanzbegriff der SVP-Ideologie, und deshalb muss «Brüssel» die Schuld tragen.
Dann folgt die augenzwinkernd vorgetragene Flüchtlingsverleumdung. Köppel schriebt jetzt nicht mehr von «Flüchtlingen», sondern von «Zehntausenden, ja Hunderttausenden hereinströmenden Migranten, welche ihre Papiere weggeworfen hätten, so dass man sie kaum zurückweisen könne.
Um dem Ganzen den Charakter zu geben, die «hereinstömenden Migranten» würden durchs Band schwere kriminell gegen die Anwendung von Dublin I,II und III handeln (also unter anderem, aber bei Weitem nicht nur gegen das Asylverfahren), nimmt Köppel noch eine weitere gestanzte «Wahrheit» in seinen Text auf: illegale Wirtschaftsmigranten nämlich.
3. Was sollen die Vereinfachungen und Übertreibungen erreichen?
Überall in Europa plädieren die Rechtsnationalisten für Massnahmen gegen «die» Migration. Migration heisst für Köppel, für Blocher, für Strache, für Wilder und so weiter: Es kommen gefährliche Fremde. Es kommen Muslime. Muslime können und wollen sich nicht integrieren. Vielmehr wollen sie «uns» unterwandern. Also müssen «wir» dafür sorgen, dass diese Muslime nicht zu uns kommen können.
Es kommen Schwarze. Sie sind «bei uns» ein Fremdkörper. Sie gehören nicht «zu uns». Und so weiter. Interessant ist: Vor 25 Jahren gehörten «die Italiener», «die Griechen», «die Spanier» – immer männlich natürlich – «nicht zu uns».
Es gehörten allein im Verlauf der letzten 150 Jahre ganze Völkerschaften, die heute mit uns zu uns gehören, «nicht zu uns». So gehörten die Hunderttausenden Polinnen und Polen, die den Bergbau im Ruhrgebiet und damit die Industrialisierung im Westen Deutschlands massiv vorangebracht hatten – als Arbeiterinnen und Arbeiter, nicht als «Unternehmer» – lange Zeit «nicht zu uns», bis man ohne sie «unsere Heimat» gar nicht mehr ausbauen konnte.
Die Migrationsbewegungen in Europa existieren mindestens seit der Zeit des römischen Reiches. Und es waren nicht immer Ursprungseuropäer, die migrierten, wenn man beispielsweise an die Mauren und deren tolerante Gesellschaftsstruktur in Spanien denkt.
Viele Vehikel führen zur «Normalität»
Nachdem der Zweite Weltkrieg durch reinen Rassismus und völlige Missachtung des Rechts in all seinen Belangen, inszeniert vom deutschen Furor, in der Zerstörung vieler Städte geendet hatte, und noch schlimmer: dem oft qualvollen Tod von über 50 Millionen Menschen, hat sich während sieben Jahrzehnten in ganz Europa eine soziale Offenheit entwickelt, die für viele Menschen ein gutes Leben ermöglicht. Gegen diese Offenheit existierte immer Opposition. Die Rechtsnationalisten haben immer und überall versucht, gesellschaftliche Weiterentwicklungen, Öffnungen, zunehmende Toleranz-Alltäglichkeit aufzuhalten oder abzuschaffen.
Sie haben dafür immer irgendwelche propagandistisch einsetzbare Vehikel gebraucht. Mal war es die «Privilegierung der Ehe» als Reservat für die «Normalität» der Heterosexualität. Mal war es der Militärdienst, wonach jeder, der ihn aus Gewissensgründen nicht leisten wollte, mit Kriminalisierung und Gefängnis bestraft werden musste.
Das Feindbild EU ist allen Rechtsnationalisten in Europa zum gemeinsamen Vehikel gegen alles «Fremde» geworden.
In den Fünfzigerjahren forderten die Rechtsnationalisten überlaut die «saubere Leinwand», gleichzeitig aber auch das totale Vergessen der Naziverbrechen, an denen viele beteiligt waren. Mal war es Sprachpolitik, indem Minderheitensprachen nicht nur nicht anerkannt, sondern deren Benutzung verboten wurde (Spanien, Österreich). Und immer häufiger wurde die EU zum Feindbild erhoben.
Dieses Feindbild ist nun allen Rechtsnationalisten in Europa gemeinsam zum Vehikel gegen Migration, gegen «das Fremde» und überhaupt alles geworden, was anders ist als das, was man als «normal» propagiert. Innerhalb dieses Propagandavehikels spielt seit einiger Zeit der wachsende Flüchtlingsstrom aus den Bürgerkriegsgegenden in Europas Nachbarschaft die Rolle einer Art Haupt-Mobilisierung.
Mobilisiert wird mit Einfachparolen:
- Erst einmal: Man soll diese «Illegalen» gar nicht erst nach Europa «hereinlassen». Man soll Europa abschotten. Man soll von den Türken verlangen, dass sie niemanden mehr «hereinlassen», schon gar nicht über den Bosporus. Und die Griechen sollen gefälligst dafür sorgen, dass da keine Boote mehr auf Lesbos und sonstwo in der Ägäis ankommen. Die Italiener sowieso, und Frontex soll das weite Mittelmeer vor «illegalen Wirtschaftsflüchtlingen» und deren Schleppern säubern.
- Dann: Überhaupt, so wie es Orban vorgemacht hat, so, wie es Trump den seinen erklärt, soll man Europa einzäunen und die «offenen Grenzen» wieder schliessen. Dann hat man seine Ruhe, und die «illegalen Wirtschaftsflüchtlinge» respektive die «hereinströmenden Migranten» werden ausbleiben, und unsere Nationen bleiben abendländisch-christlich.
- Schliesslich: Die EU soll abgeschafft werden, die Nation wieder aufleben, als dem Inbegriff der «Souveränität» des Volkes. Genauer: des jeweiligen Volkes.
Woran man allerdings «das» jeweilige Volk erkennt? Man muss es ja irgendwie erkennen können, wenn man es definitorisch in den Singular setzt.
Nun, das ist ersichtlich ziemlich schwierig. Ab welchem Zeitpunkt gehört jemand, der von «aussen» kommt, dessen Grosseltern oder Eltern von «aussen» gekommen waren, zum «Volk»? Hat «das Volk» eine einheitliche Hautfarbe zu haben? Oder soll es eine einheitliche Augenfarbe sein? Blond oder dunkelbraun in der Haarpracht?
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es immer wieder Zeiten, in denen solche Fragen ganze Akademikerseilschaften beschäftigte, vor allem in der Noch-Nicht-Nation Deutschland, im habsburgischen Vielvölkerstaat Österreich und – aus teilweise anderen, die Kolonialherrschaften betreffenden Gründen – in England, den Niederlanden, Frankreich und Belgien.
Mit dem Zweiten Weltkrieg hat diese angebliche «Normalität» der eigenen Nationalität einen massiven Dämpfer erfahren.
Clausnitz ist nicht Deutschland
Heute scheint es, dass das Momentum einer Machtergreifung von Rechtsnationalisten in zahlreichen Staaten in Europa zum Greifen nahe ist. In einer Art – durchaus unfreiwilligem – Zusammenspiel von zahlreichen redaktionell gestalteten Medien und der jeweiligen rechtsnationalistischen Propaganda wird eine Situation verallgemeinert, die es im konkreten Alltag nur als Ausnahme wirklich gibt. Es gab die grauenhafte Pöbelei gegen Flüchtlinge zwar in dem sächsischen Ort Clausnitz. Es ist notwendig und wichtig, über solche Exzesse zu berichten und zu diskutieren, was dagegen unternommen werden kann oder muss. Aber Clausnitz ist nicht Deutschland.
Die Rechtsnationalisten benutzen die (von ihnen mindestens verbal miterschaffene) Bedrohung von Flüchtlingen jedenfalls so, als ob sie die Zukunft Europas mit Pegida- oder Antischwulen-Demonstrationen reif für ihre Machtergreifung machen könnten. Sie spielen sich als Sieger auf, denen man sich anschliessen soll – oder muss, will man nichts verpassen.
Sie sagen: «Diskutieren wir!» Dann aber beginnen sie mit ihren gestanzten Wiederholungen.
Eine nicht geringe Zahl Intellektueller macht mit. Das ist bei solchen Vehikelentwicklungen nicht unüblich. Es besteht auch für Intellektuelle die Anpassungslust, dass «man» rechtzeitig einsteigt, sich anheischig macht, Parolenverstärkung schafft, in den Talkrunden genau so glänzt wie als Redner vor Demonstranten. Damit man möglichst weit vorne dabei ist, wenn der Marsch zur Macht in die entscheidende Phase kommt.
Keine Diskussion mehr möglich
Mal abgesehen vom Ziel der Machtergreifung autokratischer Politiker und dem Ziel, die vielfältige Gesellschaftsstruktur zugunsten eines «formierten» Einheitsvolks abzuschaffen – was steckt denn hinter dieser offensichtlichen Vergötterung des Nationalen, die Köppel und Co. betreiben?
Ein Inhalt, also ein Gesellschaftsprogramm, das auf Realitäten aufbaut, auf der Alltäglichkeit der Jetztzeit, existiert nicht. Genauso wenig ein sozialstaatliches Programm oder ein Bildungsprogramm. Von den massiven Veränderungen in der gesamten Arbeitswelt, in denen Europa, also wir, zurzeit steckt, haben sie jenseits der Forderung nach «Selbstverantwortung» nichts vorzuweisen, worüber sich mit ihnen diskutieren liesse.
Man kann es versuchen, kann sie fragen, kann in ihren Texten suchen – nun ja, sie sagen: «Diskutieren wir!» Dann aber beginnen sie mit ihren gestanzten Wiederholungen. Dann verkürzen sie jede Statistik auf ihre eigene «Wahrheit». Sie halten keine Reden, vielmehr predigen sie. Sie rühmen sich, unhöflich zu sein. Sie wollen in jeder kontradiktorischen Diskussion «gewinnen». Also diskutieren sie nicht. Sie lärmen «die Anderen» einfach nieder.
Ein Beispiel für das eben Geschriebene? Bitte schön:
4. Nachbemerkung
Es gibt allerdings durchaus eine andere Seite: Sie ist naturgemäss nicht «einheitlich», sie besteht aus heterogenen Gruppieren, aus Individuen, die sich in einem Leben voller Widersprüche bewegen und sich einiger dieser Widersprüche durchaus auch bewusst sind.
Die Pegida-Demonstrationen in Dresden finden zwar nach wie vor wöchentlich statt. Und es erschienen regelmässig zwischen 3000 und 5000 Demonstrantinnen und Demonstranten. Aber: Es sind immer die Gleichen, die demonstrieren. So, als wären sie Abonnenten einer Demonstrationsaufführung. Allein Dresden zählt aber über 500’000 Einwohner. Deutschland zählt über 80 Millionen Einwohner. Rein statistisch steht fest: Pegida ist keine «Volksbewegung».
Es gibt kein «das Volk», das Hetzparolen herumschreit und vor Flüchtlingsunterkünften pöbelt.
Die Wirkung – es ist nun einfach so – welche Pegida teilweise entfachen konnte, hatte und hat immer noch sehr viel mit der medialen Begleitung dieser lokalen Veranstaltung zu tun. Die gleichgrosse Nachbarstadt Dresdens, Leipzig, zeigt allerdings, dass dies nicht einmal ein «ostdeutsches» Demonstrations-Phänomen ist, sondern eines, das lokal in Dresden beheimatet ist.
Die Korrekturen erfolgen inzwischen über die sozialen Medien und Blogs am laufenden Band. Korrekturen, die zeigen: Es ist nicht «das Volk». Es ist eine erkennbar speziell organisierte Gruppierung. Es gibt kein «das Volk» oder wie das auch immer genannt wird, das Hetzparolen herumschreit und vor Flüchtlingsunterkünften pöbelt – oder den Rechtsnationalisten blindlings folgt.
Die Umkehr zurück ins 19. Jahrhundert ist aus verschiedenen, nicht zuletzt technologischen Gründen, ziemlich unwahrscheinlich. Das bedeutet eigentlich für gesellschaftspolitische Diskurse: Es ist an der Zeit, sich wieder vermehrt mit unser aller nächster Zukunft zu beschäftigen und dafür Vorstellungen und begehbare Wege in allen Farben und Gestaltungen vorzubereiten.