«Den Mund habe ich mir nie verbieten lassen»

Wer seinen Namen googelt, findet ganz viel von Alois-Karl Hürlimann. Doch über ihn steht kaum etwas im Internet. Wir haben unser Community-Mitglied der ersten Stunde in Berlin besucht.

«Leute unter Ungerechtigkeit leiden zu sehen, macht mich fertig»: Alois-Karl Hürlimann. (Bild: Dani Winter)

Es ist schon ein paar Wochen her, dass ich Alois-Karl Hürlimann in Berlin besuchte, wohin er nach seiner Pensionierung ausgewandert ist. «Hier reicht die Rente besser zum Leben als in Basel», sagt er, während er mich durch die geräumige Wohnung führt, die er sich mit seinem Lebenspartner Galo teilt. Prächtiges altes Parkett, Kunst an den Wänden, in einem Zimmer steht ein Flügel, der Blick vom Balkon geht ins Grüne.
Nicht in Kreuzberg, nicht in Prenzlauer Berg wohnt Hürlimann, dafür ganz in der Nähe des Tempelhofer Felds, dieser 380 Hektaren messenden Brache, für deren Erhalt sich im Mai eine Mehrheit der Stimmberechtigten in einem Volksentscheid ausgesprochen hat. «Da fahre ich am Wochenende oft mit dem Velo hin», sagt Hürlimann, der auf Freiräume aller Art steht. «Berlin hat mehr mit Basel gemein als man denkt. Viele Probleme und Diskussionen sind ähnlich, nur ist hier alles natürlich eine Spur grösser.»

Das Projekt TagesWoche verfolgt Hürlimann seit der ersten Stunde. Regelmässige Besucher unserer Website kennen seine Beiträge und Kommentare, die meistens durch ihre epische Länge auffallen. «Das mit der Länge ist volle Absicht», lässt er seine Kritiker wissen, die ihn schon mal auffordern, sich kürzer zu fassen. «Das ist ja das Schöne am Internet, dass man einen Gedanken auch mal zu Ende führen kann.»


In der Bibliothek, wo Hürlimann seine Kommentare und Artikel verfasst. (Bild: Dani Winter)

Schreiben gegen die Ungerechtigkeit
Der Mann hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsbedürfnis. «Wenn Menschen unter Ungerechtigkeit leiden, macht mich das fertig.» Auch wenn Geschichte geklittert wird, Zusammenhänge verkleistert oder Unwahrheiten erzählt werden, bringt ihn das auf die Palme. Dann schreibt er sich gern mal ins Feuer. Und beim Reden ist es nicht anders. Fünf Stunden vergehen wie im Flug, wenn man mit ihm zusammensitzt.

Politisch aktiv ist Alois-Karl Hürlimann, seit er denken kann. Und geschrieben hat er auch schon immer. Nicht nur Artikel und Kommentare, sondern auch Tagebuch, seit der Jugendzeit. «Es ist interessant zu sehen, wie sich über die Jahre die Schreibe verändert, auch die Schrift. Und das Denken.»

Als Student bekam er 1968 die Globus-Krawalle in Zürich mit, nahm an den Studentenkundgebungen an der Uni teil, arbeitete für den legendären Buchhändler Theo Pinkus. Später, als Lehrer in Basel, präsidierte er die Bildungskommission der Basler SP, nervte die Verantwortlichen im Erziehungsdepartement mit seinen Kommentaren in der «National-Zeitung» und später in der BaZ. «Den Mund liess ich mir nie verbieten.»

Andere Zeiten

Leute wie Helmut Hubacher hätten ihn in die Politik holen wollen. Dass er nicht ging, hat mit seinem Schwulsein zu tun. «Die Zeiten waren damals noch anders», sagt er nur. Dafür hat er die Schwulen-Emanzipation hautnah mitbekommen und miterlebt, wie es der Bewegung gelang, die mit dem Aufkommen von Aids drohende gesellschaftliche Ausgrenzung in eine Öffnung umzukehren.

33 Jahre lang arbeitete Hürlimann als Lehrer in Basel, wo er Kleinklassen unterrichtete. Eine gute Zeit sei es gewesen. «Wir sind nach Colmar geradelt, um uns den Isenheimer Altar anzusehen, haben Reportagen darüber geschrieben. Heute wird jede Initiative des Kollegiums gekillt von der Evaluationsbürokratie.» An die Stelle von Bildungsidealen sei die Effizienzdiskussion getreten. Und schon ist er wieder ganz oben, auf der Palme.

Zum Runterkommen – und um mental im Saft zu bleiben – setzt er sich gern an den Flügel. Zurzeit übt er die Sonatine von Ravel. «Man muss sich jeden Ton erarbeiten», sagt er. «Dafür kann mans dann auch in einem Jahr noch.»


Hürlimann erholt sich gerade von einer grösseren Krebsoperation. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde ihm ein Tumor aus dem Darm geschnitten. «Intensivstation, Chemo – ein halbes Jahr lang das volle Programm.» Dann schien alles gut, bis im Dezember 2013 Metastasen auf der Leber gefunden wurden. Hürlimann hatte die Wahl: «Nichts machen – 22 Monate Lebenserwartung. Mit Chemo – etwas über zwei Jahre. Operation – 30 Prozent Heilungschance, der Rest: Risiko…» Er entschied sich für die Operation.

In der Zeit danach hatte er viel Gelegenheit, sich mit Ärzten zu unterhalten, die eigene Erfahrungen mit der Schweiz als Arbeitsland gemacht hatten. Und sich für sein Heimatland zu schämen: «Einwanderungsinitiative, Minarett-Verbot, Ecopop – die Schweiz könnte so viel bewirken. Stattdessen zieht sie sich in sich selbst zurück. Man gefällt sich in der Pflege von Willi-Tell- und ähnlichen Mythen, die Geschichten von Unterdrückung und Befreiung werden nie geschrieben.» In der Aufarbeitung sei Deutschland schon deutlich weiter als die Schweiz.

Heute ist Alois wieder auf dem Damm, geht ins Kino, ins Theater oder in sein Lieblingsrestaurant in Prenzlauer Berg, wo er mir bei einem guten Essen und einer Flasche Wein noch einmal ein paar Stunden lang aus seinem Leben erzählt. Langweilig ist das keine Sekunde lang.

Wer diesen Menschen kennengelernt hat, will ihn zum Freund haben.

Sonderkorrespondent Hürlimann

Alois-Karl Hürlimann hat schon diverse Beiträge im «Speaker’s Corner» der TagesWoche publiziert. Nachdem er sich von seiner Krankheit erholt hat, wird er uns künftig regelmässig mit Texten aus Berlin beliefern. Seine Artikel werden wir im Dossier «Hürlimann» sammeln. Wir freuen uns sehr!

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