Die EU wird nicht an ihren Grundregeln rütteln lassen

Es war ein emotionaler Entscheid, der eine Mehrheit für den Brexit stimmen liess. Doch mit Anti-EU-Reflexen ist noch keine nationalstaatliche Souveränität gewonnen.

Wer ist der nächste: Die Rechtsnationalen Europas warten auf die nächste Gelegenheit der EU sturmreif zu schiessen.

(Bild: Tom Künzli)

Es war ein emotionaler Entscheid, der eine Mehrheit für den Brexit stimmen liess. Doch mit Anti-EU-Reflexen ist noch keine nationalstaatliche Souveränität gewonnen.

Vor der Abstimmung am 23. Juni 2016 habe ich gedacht, dass die Britinnen und Briten mehrheitlich gegen Brexit votieren würden. Ich habe angenommen, dass nüchterne Abwägungen, welche einer Stimmabgabe wenigstens hie und da vorausgehen, bei vielen Leuten die Gefahren eines EU-Austritts stärker ins Gewicht hätten fallen lassen, als die von den «Leave»-Propagandisten behauptete «Zurückgewinnung» einer völlig inhaltsleeren, in der endgültig verschwundenen Vergangenheit angesiedelten gefühlsbetonten «Souveränität».

Ein Beispiel für diese Annahme war für mich die Subventionierung der britischen Landwirte durch EU-Gelder: Rund vier Milliarden Pfund werden jährlich aus den EU-Landwirtschaftstöpfen nach Grossbritannien auf die Konten der Bauern transferiert. Zwar ist das Land ein Nettozahler der EU, das heisst, es zahlt mehr in die EU-Kassen ein, als es wieder zurückbekommt. Die Nettoeinzahlung wird allerdings nicht von der Landwirtschaft generiert, sondern praktisch ausschliesslich durch den Finanzplatz London.

Durch den nun beschlossenen Brexit wird Grossbritannien nach zwei Übergangsjahren zwar keine Zahlungen in die EU mehr leisten müssen, aber es verschwindet erst einmal auch der gesamte organisierte und regulierte Binnenmarkt mit allen EU-Staaten. Das bedeutet, dass der Finanzplatz London die wichtigste seiner seit mindestens drei Jahrzehnten geltenden Grundlagen verlieren könnte.

Die britischen Bauern werden ihre Gürtel enger schnallen müssen.

Viele global handelnde Banken und Finanzgesellschaften werden ihre Aktivitäten in London vorausschauend auf die Zeit nach 2018 massiv reduzieren. Diese Feststellung ist zwar eine Annahme. Aber sie ist eine realistische Einschätzung der kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen des Brexit auf den Staat Grossbritannien.

Denn die Verkleinerung der Finanzplatzumsätze kann als gesichert angenommen werden, weil der freie Finanzhandelsverkehr innerhalb Europas aus regeltechnischen Gründen um Grossbritannien herumgeführt werden wird. Das führt sofort zu viel geringeren Steueraufkommen. Diese Verluste an Steueraufkommen werden, wie viele Analysten und Finanzökonomen im Vorfeld der Abstimmung immer wieder schlüssig erläutert haben, bedeutend grösser sein als jene Summe, die wegen des Austritts aus der EU aus der Nettozahlung nicht mehr «nach Brüssel» transferiert werden muss.

Für die subventionierte britische Landwirtschaft wird daraus eine nur noch durch innerstaatliche Mittel finanzierte Unterstützung. Anders gesagt: Die Bauern werden ihre Gürtel deutlich enger schnallen müssen. Ob sie, die, wie man vernimmt, grösstenteils für Brexit gestimmt haben, das begriffen haben?

Oder:
Ähnlich gelagerte Auswirkungen wird der Verlust anderer bedeutender finanzieller Leistungen der EU in Grossbritannien haben. Man muss auf die eingespielten wirtschaftlichen und auch bildungspolitisch gewollten institutionellen Verflechtungen innerhalb der EU schauen, wenn man negative Folgen des Brexit für Grossbritannien ins Auge fasst. Der gesamte Haushaltposten «Nachhaltiges Wachstum» (u.a. Kohäsionsfonds, Unterstützung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit, Konvergenz, Forschungskoordination), macht etwa 40 Prozent des EU-Haushaltes aus, in der Abrechnung 2014 beispielsweise über 56 Milliarden Euro.

Schottland und Nordirland waren gegen den Brexit: Ihnen hat gegen die Krise der Deindustrialisierung die EU geholfen, nicht der britische Staat.

Durch Kohäsionsprozesse, von der EU nicht bloss organisiert, sondern oft auch finanziell angestossen und schliesslich berechenbar garantiert, hat Grossbritannien nach der schockartigen Deindustrialisierung unter Thatcher zahlreiche Umgestaltungsprozesse der Arbeitswelt anpacken können, weil es dafür zielgerichtete finanzielle Rahmenbedingungen durch EU-Finanzierungen gab und gibt.

Es ist bezeichnend, dass gerade Schottland und Nordirland mit sehr deutlichen Mehrheiten gegen Brexit gestimmt haben, denn dort ist die Erfahrung klar: Bei der Überwindung der Deindustrialisierungskrise hat die EU geholfen, nicht der britische Staat.

Die Fachkompetenz der Verwaltungen

Ob Grossbritannien nach dem EU-Austritt die notwendige Weiterfinanzierung der Umgestaltungs- und Anpassungsprozesse selber bezahlen kann, ist aus dem gleichen Grund, der bei der oben dargestellten Finanzierung der Landwirtschaftssubventionen vorgestellt wurde, sehr fraglich.

Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern unter anderem auch, weil Entwicklungsprozesse oft gerade in den wesentlichen Details eine fachlich präzise handlungsfähige staatliche Verwaltung brauchen. Die EU hat diese Fachkompetenzverwaltung. Grossbritannien hat sie – eher – nicht.

Die Brexit-Propagandisten behaupten, der Freihandel zwischen Grossbritannien und der EU werde beibehalten, weil er allen nütze. Mit dem gleichen Argument spaziert in der Schweiz auch die SVP durch die politische Landschaft.

«Freihandel» und «Binnenmarkt» als ein und dasselbe darzustellen, ist eine Propagandalüge.

Freihandel ist aber etwas anderes als ein Binnenmarkt. Bekannt ist, dass die heute erfolgreichste englische Industrie, nämlich die Autoindustrie – nun, keine «intern britische», sondern vor allem eine japanische, deutsche, französische – auf EU-weite produktionsteilige Prozesse ausgerichtet und angewiesen ist. Solche Prozesse sind nicht durch «Freihandel» abgesichert, sondern durch Binnenmarktregeln. Dasselbe gilt für jegliche Art von Finanzprodukten. «Freihandel» und «Binnenmarkt» als ein und dasselbe darzustellen, ist ziemlich verwegen und nichts anderes als eine Propagandalüge.

Der regulierte EU-Binnenmarkt ist für Abermillionen Menschen in Europa die schlichte Existenzgrundlage. Die Regeln der Personenfreizügigkeit, der finanzierten Bildungs- und Forschungsfreiheit, der Arbeitnehmerrechte, der Umweltschutzpolitik, der geregelten Kohäsionsprozesse und des Wettbewerbschutzes und so weiter sind die Bestandteile dieses Binnemarktes. Sie sind für alle Teilnehmer an diesem Markt berechtigterweise allgemeingültig.

Zudem:
Jede Änderung der Regeln im EU-Binnenmarkt – dies wird auch «die Schweiz» nach dem MEI-Verfassungszusatz in absehbarer Zeit noch bitter erfahren – ist innerhalb der EU-Rechtsordnung klar positioniert: Es braucht dazu die Zustimmung des EU-Parlaments und aller noch 27 EU-Mitgliedstaatsparlamente. Und da ist eine bevorzugte Behandlung eines aus der Union ausgetretenen Staates gegenüber den Mitgliedstaaten (also das so genannte Rosinenpicken) einfach unmöglich.

Ist ein Staat Mitglied der EU, hat er weitgehende Mitbestimmungsrechte (Einstimmigkeitsregel in allen wesentlichen Fragen). Ist er nicht Mitglied, muss er sich den Regeln des Binnenmarktes dann, wenn er daran teilnehmen möchte, anpassen. Genauer: Er muss sich diesen Regeln rechtskonform fügen.

Kein Diktat, sondern Schutz vor Willkür

Das ist keineswegs ein «Diktat», sondern eine Regulierung, welche alle Mitgliedstaaten der EU vor Willkür schützt. Weder das austretende Grossbritannien noch die nie eingetretenen Staaten Norwegen oder Schweiz können sich diesbezüglich auf irgendwelche bösartige Benachteiligung durch die EU-Staaten berufen. Sie wollen ja, als Nichtmitglieder der EU, am Binnenmarkt teilnehmen. Die EU zwingt sie keineswegs dazu, an ihrem Binnenmarkt teilzunehmen. Der Zwang geht, wenn schon, von der Faktizität der ökonomischen, der gesellschaftlichen und auch der finanziellen Situation in der global aufgestellten Welt aus.

Man könnte noch zahlreiche weitere Argumente für einen weiteren Verbleib Grossbritanniens in der EU erwähnen, welche im Abstimmungskampf auf einer mehr oder weniger rational ausgestatteten Ebene ausgetauscht und gewichtet worden sind. Sie haben aber die Mehrheit der Abstimmenden in Grossbritannien offensichtlich nicht beeindruckt. Die Mehrheit liess sich von emotionalen Gefühlswallungen beeinflussen. Ob auf der «Remain»-Seite zu wenig Emotionen in den Abstimmungskampf hineingetragen worden sind?

Wenn Lügen glaubwürdig klingen

Ohne Zweifel Emotionen geschürt haben die Brexit-Vertreter in der ersten Reihe, also der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson («Der Mann, der die Briten in den Brexit blödelte») und der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage. Da wurde die EU von Johnson schon mal mit Hitler gleichgesetzt, dann wieder behauptete er fortwährend– nämlich als Aufschrift auf seinem Kampagnenbus – dass Grossbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund in die EU-Kassen überweise oder dass Barack Obama wegen seines kenianischen Vaters Missgunst gegenüber Grossbritannien pflege.

Nigel Farage wiederum, aus dessen Umgebung die Propagandanummer mit den 350 Millionen Pfund stammte, die man nach dem Austritt aus der EU für das britische Gesundheitswesen zur Verfügung haben werde, stellte nach der Brexit-Entscheidung fest, dass er solcherlei natürlich nicht garantieren könne.

Faktisch war die Behauptung über die 350 Millionen Pfund längst widerlegt – aber sie stand nun mal im öffentlichen Raum. Eine Lüge, die für sehr viele Britinnen und Briten so glaubwürdig klang, dass sie sich davon beeinflussen liessen.

Verlogene Propaganda

Die Brexit-Porpaganda war in vielerlei Hinsicht verlogen und mit rassistischen und xenophoben Versatzstücken angereichert. Zu Hilfe kamen dieser Propaganda namentlich die gesamten Murdoch-Medien. Was in den Redaktionen dieser Medien gebastelt wird, hat, wie man schon seit vielen Jahren weiss, mit der effektiven Realität sehr oft sehr wenig oder gar nichts zu tun.

Das Muster dieser Propaganda ist inzwischen in vielen Ländern in Europa anzutreffen. Nachdem sie kürzlich in Österreich beinahe erfolgreich war (und nach dem Urteil des Verfassungsgericht noch eine Chance bekommt), hat sie am 23. Juni 2016 in Grossbritannien vermocht, eine den Zeitumständen entsprechend komplexe Situation in Europa auf ein Ja oder Nein zu reduzieren und damit eine Mehrheit der Stimmenden für einen Austritt aus der EU zu gewinnen.

Es ist angebracht, in diesem Zusammenhang einen Gedanken-Ausflug in die Schweiz zu unternehmen: In der Schweiz hat man eine mit «Rückgewinnung von Souveränität» propagierte Abstimmung über ein Detail im Verhältnis Schweiz-EU lanciert und durchgeführt, nämlich die MEI-Initiative der SVP vor zwei Jahren. Die SVP-Propaganda erklärte damals, die EU werde diesen souveränen Akt gegen die in zahlreichen bilateralen Verträgen verankerte Personenfreizügigkeit schon hinnehmen, schliesslich profitiere sie auch von diesen Verträgen.

«Das» Volk gibt es genau so wenig wie die totale nationale Selbstbestimmung.

Die Folgen dieser Abstimmung beschäftigen seither allerdings praktisch ausschliesslich die schweizerische Politik. Von einem Rückgewinn von «Souveränität» findet man in der Diskussion um die «Umsetzung der Verfassung», wie das die SVP nennt, kaum etwas vor. Im Gegenteil: Die EU-Kommission, Verhandlungspartnerin der für die Schweiz ziemlich existentiellen Bilateralen Verträge, wartet nach wie vor auf die Vorschläge der Schweiz.

Alle in der Schweiz, welche sich auch nur ein wenig mit EU-Prozederen auskennen, wissen: Über die Personenfreizügigkeit kann die EU-Kommission, will sie sich nicht des Bruchs mit den rechtlichen Grundlagen der EU schuldig machen, gar nicht verhandeln. Also läuft es wohl darauf hinaus, dass die Schweiz die Bilateralen, in welchen eine Verknüpfung mit der Personenfreizügigkeit gegeben ist, künden muss, will sie sich nicht in lähmende Rechtshändel mit der EU verschleissen.

Die von der SVP als «Rückgewinnung» angepriesene «nationale Selbstbestimmung» kann natürlich immer gefordert werden. Man kann immer sagen, dass jeder Vertrag zwischen zwei oder mehreren Staaten die Selbstbestimmung «des Volkes» oder «der Nation» einschränke. Das Problem dabei besteht aber darin, dass es «das» Volk genau so wenig gibt wie die totale nationale Selbstbestimmung.

Wer die Regeln für den Umgang miteinander aushebeln will, nimmt Unterdrückung und schliesslich Gewalt in Kauf.

«Das» Volk besteht überall in unseren Breitengraden aus «Teilvölkern». Der Umgang dieser Teilvölkern in einem Staat miteinander und untereinander untersteht notwendigerweise bestimmten Regeln, die unabhängig von «Mehrheit» oder «Minderheit» funktionieren müssen. Wer diese Regeln aushebeln oder abschaffen will, nimmt die Lösung gesellschaftlicher Probleme mit Hilfe von Unterdrückung, von Diktat und schliesslich von Gewalt in Kauf.

Diese Aussage gilt auch für zwischenstaatliche Beziehungen aller Art. Verlässt man Regelwerke, müssen andere geschaffen werden. Oder dann setzt sich ein Staat gegen den anderen mit Gewaltmitteln, also mit Krieg, durch.

Der Brexit wird selbstredend nicht bloss von Grossbritannien «gestaltet» werden. Allerdings ist Grossbritannien nun eine Seite, eine alleinstehende Verhandlungspartei. Die 27 EU-Staaten bilden die andere, durchaus heterogen, vielstimmig zusammengesetzte, aber doch eine auf gewisse Grundregeln verpflichtete andere Seite.

Wer wie Boris Johnson meint, man werde den Freihandel Grossbritanniens mit der EU ohne die Regel-Bedingungen des Binnenmarktes in heutiger Form in den zwei Jahren, welche für die entsprechenden Verhandlungen zur Verfügung stehen, schon irgendwie erreichen, sollte einen Blick auf die Nach-MEI-Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU werfen.

Kompromisse werden notwendig sein. Aber genau solche Kompromisse wollten die Brexit-Propagandisten abschaffen.

Da ist konkret in zwei Jahren gar nichts Substantielles gelaufen, schon gar nicht irgend etwas im Interesse der MEI-Durchsetzung in der Schweiz. Dabei handelt es sich um ein vergleichsweise kleines Problem, vergleicht man es mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU.

Die EU wird an ihren Grundpfeilern im Interesse aller ihrer Mitgliedstaaten nicht rütteln lassen. Kompromisse werden notwendig sein. Aber genau solche Kompromisse wollten die Brexit-Propagandisten abschaffen.

Denkbar sind natürlich viele Kompromissschritte in die eine oder andere Richtung. Man kann aber mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass diese Kompromisse zuerst und ziemlich rasch in der englischen Politik selber gesucht und intern durchgesetzt werden müssen, nicht zwischen Grossbritannien und der EU.

Das Referendum ist für das britische Parlament nicht bindend, weil es in Grossbritannien keine Verfassung im kontinentaleuropäischen Sinne gibt.

Zum Beispiel könnte das britische Parlament die Referendumsentscheidung einfach ablehnen. Das Referendum ist nämlich für das souveräne politische Handeln des britischen Unterhauses keineswegs bindend. Es ist kein Verfassungsgut – schon allein deshalb nicht, weil es in Grossbritannien gar keine geschriebene Verfassung im kontinentaleuropäischen Sinne gibt. Die politische Handlungs-«Souveränität» liegt in Grossbritannien nicht beim «Volk», sondern bei den gewählten Angeordneten des Unterhauses.

Oder: Die jetzige oder allenfalls die neue Regierung teilt vorerst den Brexit-Beschluss des Referendums der EU gar nicht mit. Cameron hat jedenfalls diese Mitteilung an die EU-Partner auf die Zeit nach seinem Rücktritt im Oktober 2016 verschoben. Sein Nachfolger soll das dann vornehmen. Doch diesbezüglich hat er wohl das Sagen in seiner eigenen Partei wohl eher nicht mehr.

Was nicht formell gekündigt ist, bleibt in Kraft. Da kann dann ein Cameron-Nachfolger erst einmal zuwarten. Allerdings wird diesem Zuwarten von anderen Staatsregierungen samt anderen Parlamenten innerhalb der EU und auch vom EU-Parlament natürlich nicht einfach tatenlos zugeschaut werden.

In beiden Fällen – die nicht so unwahrscheinlich sind, wie sie sich zur Zeit noch lesen – wird natürlich der im Referendum aufgetretene «Volkswillen», genauer: der Willen von rund 52 Prozent der Abstimmenden, nicht umgesetzt. Sollte einer der «Leave»-Promotoren Premier werden und dann den Brexit verzögern oder umgehen wollen, entstünde ohne Zweifel ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem für die britische Politik insgesamt.

Die Realität des Brexit könnte bewirken, dass die Rechtsnationalen bei ihren eigenen Anhängern ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen.

Die Zeit der Unsicherheiten für Grossbritannien wird auch dadurch verlängert werden, dass mindestens in Schottland die Unabhängigkeitsbestrebungen realistische Chancen auf eine klare Mehrheit in der dortigen Bevölkerung erreichen werden. Natürlich könnte das britische Unterhaus ein zustimmendes schottisches Unabhängigkeitsreferendum überstimmen. Man stelle sich aber die Folgen vor! Zudem stünde mindestens ein Teil der EU-Politik hinter den Schotten.

Das alles wird wirtschaftlichen Schaden erzeugen. Der Wegfall der Binnenmarktregeln der EU ist für die meisten Wirtschaftsfelder alles andere als eine «Befreiung». Wer solcherlei behauptet, hat wenig Ahnung von der heute weitherum globalisierten Wirtschaft und deren Rechts-, deren Normen-, deren Anerkennungs- und Zulassungsrealitäten sowie vor allem deren Investitionsgrundlagen. Und darum wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kein Paradies in Inselform vor dem kontinentalen Europa entstehen.

In dieser Feststellung liegt eine gewisse Hoffnung: Vielleicht bewirkt die vermutlich wenig einladende, aber vor aller Augen sich einstellende Brexit-Realität der nächsten Jahre, dass die pöbelhaft auftretenden rechtsnationalistischen und xenophob-rassitischen Wahrheitsverkünder ihrerseits ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen, und zwar bei einem Teil ihrer eigenen Klientel.

Wo sollen denn die Ärzte herkommen?

Wenn etwa in Grossbritanniens staatlichem Gesundheitswesen immer mehr jener zahlreichen nicht in Grossbritannien ausgebildeten Ärzte fehlen, auf die dieses System seit über 20 Jahren existentiell angewiesen ist, haben Johnson und Farage keine Schuldigen in Brüssel mehr zur Verfügung. Die nötigen Finanzmittel für eine genügende landesinterne Bildung im Medizinbereich aber fehlen ihnen selbstredend nach all den zu erwartenden Steuerausfällen auch.

Klar ist, dass diese Hoffnung nur dann eine Aussicht auf eine Teilrealisierung hat, wenn unsereiner in der Zurückweisung des allgegenwärtigen rechtspopulistischen Geschwätzes und der es begleitenden Hass- und Hetzsprachen nicht nachlässig wird.

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