Die Weltpolitik definiert ihre eigene «Demokratie» – das Individuum wird missachtet

Vom Bürgerkrieg in der Ukraine bis zu den Enthüllungen um «Swissleaks». Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass zu Propagandazwecken mit dem Wort «Demokratie» jongliert wird, aber das Individuum darin längst keine Rolle mehr zu spielen scheint. Ein Essay.

(Bild: Nils Fisch)

Vom Bürgerkrieg in der Ukraine bis zu den Enthüllungen um «Swissleaks». Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass zu Propagandazwecken mit dem Wort «Demokratie» jongliert wird, aber das Individuum darin längst keine Rolle mehr zu spielen scheint. Ein Essay.

Kürzlich hat mir ein Bekannter, Peruaner, Mitte bis Ende der Achtzigerjahre in der Sowjetunion zum Bauingenieur ausgebildet, heute an der TU in Berlin lehrend tätig, gesagt:

«Hör mir doch auf mit der Demokratie. Schau doch in die Ukraine! Was haben die Leute, die nicht im Westteil des Landes leben, von der Demokratie? Wurden sie zum Beispiel mit demokratischen Mitteln befragt, ob es ihnen passt, dass ihnen per mehrheitlichem Parlamentsentscheid über Nacht die Benutzung ihrer Muttersprache in der Öffentlichkeit verboten wurde?»

Die angebliche Freiheit

«Schau doch nach Palästina: Was haben die Leute, die in Gaza leben, vom Leben? Seit Jahrzehnten werden sie drangsaliert und eingesperrt, und zwar von der angeblich einzigen Demokratie im Nahen Osten und mit Unterstützung der angeblich führenden Demokratie der Welt, deren Politiker ständig von Freiheit reden, die sie angeblich verteidigen würden.»

Er fuhr fort: 

«Demokratie ist etwas für Eliten, ist hier und da, bei Weitem nicht immer, etwas für ein paar Austauschstudenten aus der, von euch gnädigerweise als Dritte Welt bezeichneten, elenden Welt, in der die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung leben muss. Wenn sie dann fertig studiert haben, werden sie fallweise in die renditeorientierten Forschungseinrichtungen bei euch integriert – solange man sie dort brauchen kann – meistens aber ins Elend ihrer Dritten Welt zurückgestossen.»

«Demokratie ist etwas für Eliten.»

Er sagte, dass er sehr genau wisse, wovon er spreche: 

Ohne ein Stipendium, von der Sowjetunion ausgestellt, hätte er nie irgendeine Bildungseinrichtung besuchen können. Ohne seine Jahre in Leningrad hätte er es nie geschafft, ein Leben in einer mindestens teilweise auf Selbstbestimmung beruhenden Freiheit führen zu können. 

Südamerikas Laster

Freiheit, sagte er mir, umfasse wesentlich, dass man, und zwar alle Altersgruppen, alle Menschen vor Ort, «genug zu essen» habe, dass man im Winter «heizen» könne, dass man danach, wenn man satt geworden sei, Zugang zu «zu Büchern, zu Bildern, zu Diskursen» habe.

All das habe die führende Demokratie der Welt in Lateinamerika jahrzehntelang nicht nur verhindert, sondern all jene, die an Bildungsfortschritten gearbeitet, die eigenständige Wirtschaftsunternehmen ausserhalb nordamerikanischer Bevormundung aufgebaut, die sich von diesem ganzen Diktat aus Nordamerika nicht beherrschen lassen wollten, systematisch verfolgt und Abertausende durch korrupte Helfershelfer in diversen Armeen und Polizeikorps, von den USA darauf speziell trainiert, umbringen lassen.

Meinen Einwand, er lebe nun doch immerhin ein Jahrzehnt in Berlin, vorher einige Jahre in Stockholm, und sei im Prinzip keiner, der in seinem privaten und in seinem beruflichen Leben auf sogenannte Essentials, die er sich gewünscht habe, hätte verzichten müssen, beantwortete er mit folgenden Fragen:

«Was weisst Du über die Schwankungen einer eigenen Identität? Was weisst Du über ein ständig in Dir kreisendes Bewusstsein, dass Du im Grunde genommen bloss ein Entkommener, ein Überlebender bist, dessen Schicksal niemanden in Deiner Umgebung interessiert?»

«Das, was 40 Jahre US-Vorherrschaftsmachtpolitik in Teilen Lateinamerikas angerichtet hat, wird auch dann, wenn es himmelschreiende Ungerechtigkeiten bis ins Heute produziert, beispielsweise in Mexico, verschwiegen und verdrängt.»

Die zahlreichen Themen der Ukraine

Zur Zeit dreht sich eine der weltöffentlich verhandelten globalen machtpolitischen Krisen um die Ukraine. Von vielem ist da die Rede. Von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Von der Unterstützung mit schweren Waffen und Militärpersonal der Separatisten in der Ostukraine durch Putin.

Kaum die Rede ist, dass nicht nur in eine Richtung geschossen wird. Kaum die Rede ist von den Privatarmeen, welche im Namen der ukrainischen Staatsführung gegen «Landsleute» schiessen.

Kaum die Rede ist von der Zivilbevölkerung. Zwar sprechen die auf der quasi obersten Ebene des Bürgerkriegs handelnden Politikerinnen und Politiker manchmal, meistens ziemlich nebenbei, von der Not der Zivilbevölkerung. Allerdings ist da immer nur von der jeweils «eigenen» Zivilbevölkerung die Rede.

Das heisst: Die Bevölkerung, die von den so genannten Rebellen «verteidigt» wird, existiert für die ukrainische Staatsführung nicht, umgekehrt gilt dasselbe: Die Bevölkerung, welche sich nicht durch die Rebellen vertreten lassen will, zählt für diese nicht.

Ein Paar mickrige Beispiele

Dass mehr als zwei Millionen Menschen seit dem Beginn des Bürgerkriegs aus der Ostukraine geflüchtet sind, wird in den Medien der westlichen Welt nicht zur Kenntnis genommen. Wenn von Flüchtlingen die Rede ist, werden allenfalls von Zeit zu Zeit ein paar Einzelbeispiele vorgestellt. Mehr nicht. 

Das Faktum, dass Hunderttausende von Bewohnern der Ostukraine seit dem Frühsommer 2014 nach Russland geflohen und dort auch aufgenommen worden sind, ist im Westen dank des Verdrängens dieser Tatsache aus den Medien inzwischen unbekannt.

Dass Zehntausende Ostukrainer ausgerechnet nach Weissrussland geflohen sind: Kein Wort darüber in unseren Breitengraden. Derweil die Zahlen sehr wohl bekannt sein könnten, wie der Link zu einer «Focus»-Meldung aus dem Spätsommer 2014 als Beispiel vor Augen führt.

Krieg der Worte

Der Bürgerkrieg in der Ukraine ist, atypisch für Krisenentwicklungen, erst nach den ersten Getöteten auch ein Krieg der Wörter und Begriffe geworden, mit dem beide Kriegsseiten und deren Propagandamaschinen versuchen, einen «Sieg» in der «Meinung der Welt» im Thema zu erringen. 

Je weiter weg vom Kriegsgeschehen, desto einfacher die mit grosser Lautstärke verbreitete «einzige Ukraine-Wahrheit». Dieser Satz gilt insbesondere für das, was seit Monaten aus der USA zum Ukrainekonflikt zu vernehmen ist.

Allen voran spaziert da Senator John McCain mit seinen einfachen Predigttexten durch die Medienwelt, in Europa immer wieder durch Nachrichtenagenturmeldungen verbreitet. Er und seine republikanische Mehrheit im Kongress fordern  «Waffenlieferungen» an Kiew, weil Russland die Separatisten mit Waffen und Militärpersonal unterstütze. 

Poroschenko der Oligarch

Die Ukraine aber ist im westlichen Medienbilderbogen alltäglich vorhanden: In Gestalt ihres Präsidenten nämlich – über den nie gesagt wird, dass es sich um einen waschechten Oligarchen handelt.

Die Galionsfigur Poroschenko ist heute in Minsk, war gestern in Paris, vorgestern in Auschwitz, ein paar Tage davor in Washington, dann wieder in München und vorher in Warschau oder, wer weiss es noch so genau, war es doch Minsk?

Inhaltlich hört man nichts von diesem allgegenwärtigen Präsidentendarsteller. Dafür aber kennt man ihn nun uniformiert als irgend etwas wie «General» und im nächsten Auftritt eingekleidet in westlichem Geschäftskleidungszivil, die Hand oft am Herzen haltend, weil er wohl gerade die ukrainische Nationalhymne singt oder summt oder wenigstens so tut als ob.

Der Westen ist Partei

Was er wirklich tut? Er führ Krieg. Er ist mitverantwortlich, dass viele Menschen getötet werden. Punkt. Aber solcherlei ist natürlich Sache der alltäglichen Verdrängung.   

Inzwischen handelt es sich in den westlichen Mediendiskursen über die Ukraine meistens nur noch darum, ob der Westen oder ob die Nato endlich in den Krieg eingreift. Man ist «natürlich» Partei.

Die Lieferung von komplexen Waffensystemen – anderes bräuchte die Ukraine selbstredend nicht, da mangelt es weder an Waffen noch an Munition – würde bedeuten, dass «Instruktoren», dass «Übungsleiter» und weiteres militärisches Fachpersonal mindestens in Divisonsstärke in die Ukraine versetzt werden müsste.

In den westlichen Mediendiskursen handelt es sich meistens nur noch darum, ob der Westen endlich in den Krieg eingreift.

Auch, weil Schutzmannschaften für diese Spezialsten aus dem Westen notwendig sein weürden – siehe Afghanistan oder Irak. Um die Waffensysteme auch richtig einsetzen zu können, müssen diese ganzen Fachkräfte natürlich an der Seite der kriegsführenden ukrainischen Regierung «in den Kampf» ziehen. Sonst macht das alles ja keinen «Sinn».

Aber davon ist in Bezug auf die Forderung nach «Waffenlieferungen an «die» Ukraine» keine Rede. Solcherlei Absehbares wird einfach verdrängt und verschwiegen.

Beispiele gibt es genug

Was in einem lokal sehr begrenzten Gebiet, in dem Krieg herrscht, komplexe Waffensysteme nützen sollen? Nun, man kann mit Drohnen auch bombardieren – siehe wiederum Afghanistan, siehe Pakistan, siehe Jemen usw. Man kann mobile, hocheffiziente Mittelstreckenraketenbasen benutzen, um die Russen zu kitzeln, damit «er» versteht: «Wir» können auch den grossen Krieg!

Kusch, oder du hast ihn, den grossen Krieg! Genau das wird zur Zeit aus Washington verlautbart. Vorderhand verbal. Aber das Denken dahinter, ein ziemlich eindimensionales, ist vorhanden. Was, nehme ich an, Merkel und Hollande mehr als bloss erschreckt haben dürfte.

Anders sind deren Initiativen nicht zu erklären. Die beiden wissen, dass und was man in Washington plant. Was darüber feststeht: Die USA-Politik möchte die Europäer zwingen, zu handeln – Folgen hin oder her. 

Man soll ohne langes Nachdenken unisono mit den Herstellern und Verkäufern der komplexesten und teuersten Waffensysteme gegen Osten, namentlich gegen Putin aufmarschieren. Natürlich weiss man auch in den Denkfabriken und Propagandainstitutionen der USA: Was immer auch Hintergrund des Bürgerkrieges in der Ukraine sein mag – man beendet ihn nicht mit Waffen. 

Aber: Man verschleisst Waffen, was dann automatisch zu vollen Auftragsbüchern in jener Industrie führt, welche manche Denkfabrik, manche Propagandainstitution, vor allem aber manche Regierung auf dem Globus an ihrem Gängelband durch die Manege namens Politik führt.

Die Illusion der Souveränität

Ach ja, das existiert auch noch. Und es existiert offenbar, weil es da eine Souveränität gibt, welche sich die Freiheit nimmt, alle möglichen anderen souveränen Staaten mit der Liebkosung von Mafia- und Drogenbossen, Terroristenfinanciers, korrupten Politikern, Steuerbetrügern und Waffenhändlern zu kitzeln.

«In einem nicht sehr freundlichen Brief hat mir die Schweizer Staatsanwältin einmal geschrieben, diese Geschichte gefährde die Interessen der HSBC und damit die der Schweiz. Für die Staatsanwältin war die Bank also gleichbedeutend mit dem Staat. Mir hat das gezeigt, wie unersetzlich das Bankensystem in der Schweiz ist.» (Aus einem Interview mit dem französischen Staatsanwalt Eric de Montgolfier).

Anzunehmen, heute sei das alles zurechtgerückt, die in «Swissleaks» abgehandelten Bankverbrechen seien schliesslich 2007 oder 2008 beendet worden, lässt eine ganz einfach Frage ausser Acht.

Da es ja nie ein straf- oder zivilrechtliches Verfahren gegen die HSBC-Bankniederlassung in Genf gegeben hat, ist das Geld – es handelt sich laut «Swissleaks»-Berechnungen immerhin um rund 75 Milliarden Euro –, wohl irgendwo parkiert worden und zwar höchstwahrscheinlich durch die HSBC-Bank selber.

Anzunehmen ist: Dank deren und anderer «befreundeter» Geldwäschereieinrichtungen im schweizerischen Bankensystem wurde das Geld sowohl vor jedem Fiskus weltweit als auch vor Strafbehörden gerettet. Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Wo keine einschlägigen Strafgesetzbestimmungen existiert, da ist kein Kläger.

Asyl fürs Geld

Dem kriminellen Geld wurde und wird in der Schweiz gerne Asyl gewährt. Was den Opfern der Mafia-und Terroristenbosse, der Blutdiamantenhändler, der Bürgerkriegspotentaten und Diktatoren, laut SVP «Scheinasylanten», nicht gewährt werden soll, weil man den Platz für die Geldbunker braucht. Letzteres wird natürlich verschwiegen und durch Verschweigen zum Verschwinden aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht.

Keiner der Bankmanager, keiner der kriminellen Kontoinhaber wurde von der schweizerischen Justiz auch nur leise angefragt, was es mit der Herkunft seiner nirgendwo versteuerten, seiner «anonym gemachten», also gewaschenen Geldern auf sich habe. Dass man solche Gelder eigentlich auch in der Schweiz versteuern müsste, wurde von niemandem wohl auch nur erwogen.

Richtig so, sagt der Bankenplatz Schweiz seit Jahrzehnten. Hier muss jemand, der anderswo Steuern hinterzogen und dadurch beispielsweise den Hungertod von Kindern verursacht hat, jemand, der anderswo Morde en masse begangen, der anderswo Terrorismus gezüchtet hat, keinen «Steuervogt» befürchten. Es gibt ihn nicht. Die Schweiz ist viel lieber serviler Geschäftsfreund eines jeden Monstrums dieser Welt als Mitkämpferin für auch nur ein wenig mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt.

Diesen Zusammenhang kennt man selbstredend schon seit Jahrzehnten. Aber man versteckt ihn hinter Begriffen wie «Bankgeheimnis», «Bankkundengeheimnis» (jaja, es sind diese beiden Dinge nicht ein und dasselbe) und, bei Blocher besonders beliebt: Souveränität. 

Fazit: Das Individuum wird missachtet

Man soll nicht Vergleiche zwischen Äpfeln und Birnen machen. Ausser man habe deren Samen gekreuzt und einer Art gemeinsamer Un-Frucht den Weg geebnet.

Bei etwas Nachdenken eröffnet sich einem schon, dass die drei Geschichten zusammenhängen. Nicht so lala, auf einer weitgehend unübersichtlichen Ebene. Sie hängen dort zusammen, wo es um die Überhöhung und gleichzeitig die daraus folgende Missachtung des Individuums geht. 

Das Individuum bin ich.
Das Individuum bis Du.

Oder:

Kröten sitzen gern vor Mauern
wo sie auf die Falter lauern.

Falter sitzen gern an Wänden,
wo sie dann in Kröten enden.

So du, so ich, so wir.
Nur – wer ist welches Tier?

– Rob Gernhardt, «Liebesgedicht»

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