In den Schlagzeilen ist eine Krise bald erledigt und von der nächsten verdrängt. Nicht so in der Politik. Da es keine einfachen Lösungen gibt, muss sie sich mit guten Zwischenlösungen zufrieden geben. Und dafür braucht es vor allem eins: Nüchternheit.
Nachdem Griechenland mit der zweiten Parlamentswahl im Jahr 2015 über Nacht aus den Berichterstattungsschwerpunkten hinauskatapultiert wurde, wird die entsprechende EU-Krise kaum mehr erwähnt.
Man erinnere sich: Vor einem halben Jahr stand die EU angeblich kurz vor dem Absturz. Die Renationalisierung der Politik in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, so vernahm man als interessierter Zeitgenosse, sei eine unaufhaltsame Bewegung. Die Leute hätten genug vom zentralistischen Moloch namens EU.
Wahlweise waren es die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, der deutsche Bundesfinanzminister Schäuble oder – besonders im EU-kritischen Grossbritannien beliebt – die Brüsseler Bürokraten, die undemokratisch und diktatorisch über die anderen Mitgliedstaaten herrschten. Der Austritt aus einer solchen Diktatur erschien in manchen Medien nur noch als Frage eines kürzeren oder mittelfristigen Zeitraums.
Dann wurde Tsipras wiedergewählt.
Aus den Schlagzeilen verschwunden
Natürlich ist damit das Problem der griechischen Staatsverschuldung nicht «gelöst», auch nicht im Ansatz. Aber die wählenden griechischen Bürgerinnen und Bürger wollten keine neue Regierung, die wieder bei Null anfängt. Die wieder in den alten Kleidern der Nea Demokratia (neben der Pasok die andere Verursacherin der immensen Verschuldung und der gefälschten Ökonomiestatistiken) Lügengebäude errichtet.
Und siehe da: «Man» nimmt es stillschweigend zur Kenntnis, dass man in der EU nun mit Tsipras weiterverhandeln, weiter nach Lösungen suchen, weitere Finanzhilfen ausbedingen muss. Mit anderen Worten: Die EU ist in einem demokratischen Prozess Teilnehmerin geworden – ob gewollt oder gezwungen, spielt keine Rolle. Sie muss akzeptieren, was die griechischen Parlamentswahlen ergeben haben.
Das Flüchtlingsdrama hat die anderen kleineren und grösseren Krisensymptome total verdrängt.
Das dürfte einer der Gründe sein, der die «Griechenkrise» aus dem alltäglichen Sensationsnachrichtenklatsch geworfen hat. Wo Akzeptanz ansteht, gibt es keine grosse Sensation. Es steht vielmehr politische oder ökonomische, soziale oder ideelle Schwerstarbeit an. Und wo keiner die grosse Sensation wittert, gibt es keine Schlagzeilen, keine Quoten.
Und so «normalisiert» sich vor aller Medienkonsumentenwelt eine vermeintliche Existenzkrise von der Grösse des EU-Konstrukts zu normalem Alltagsgezerr. Und das ist halt sehr uninteressant. Trotzdem, man weiss es zur Genüge, ist damit «die» Krise der EU natürlich nicht beendet.
Neues Problem: Flüchtlinge
Das Flüchtlingsdrama hat die anderen kleineren und grösseren Krisensymptome total verdrängt, die da sind:
- Möglicher EU-Austritt Grossbritanniens
- Fundamentale Staatskrise in Spanien mit dem geplanten Austritt Kataloniens aus dem Zentralstaat
- Massivste Staatsverschuldungen namentlich in Italien und in Frankreich, die an die Substanz des Euro gehen
- Und so weiter
Das Flüchtlingsdrama, das eine voraussehbare Folge der syrischen, der libyschen sowie der nie wirklich beendeten irakischen Bürgerkriege ist, beherrscht nun den Alltag in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten sowie deren Nachbarstaaten (Türkei, Serbien, Mazedonien). Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg und den ersten Jahren danach ist in Europa ein Massenphänomen Alltag geworden – nicht bloss aus der Ferne, sondern in der Stadt, im Dorf, im Wohnquartier, wo man lebt.
Ein Hunderttausende Menschen umfassender Flüchtlingsstrom ergiesst sich seit Wochen aus der Türkei, von den griechischen Inseln, vom Mittelmeer über die «Balkanländer» nach Ungarn, Kroatien, Österreich, Deutschland. Manche Flüchtlinge ziehen auch nach Frankreich und von dort nach Grossbritannien sowie in geringerem, aber ohne Medienhilfe wahrnehmbaren Ausmass nach Skandinavien. Ein anderer Strom von etwas geringerer Stärke ergiesst sich nach wie vor über Italien nach Europa.
Willkommenskultur sucht nach Lösungen
Hauptziel der meisten Flüchtlinge aus Syrien ist Deutschland. Die Schweiz ist von diesem Strom bisher unberührt. Ausser in der Rhetorik der SVP-Wahlkampf-Professionals und einzelner Exponenten dieser Hetzkampagne gibt es da keine konkret wahrnehmbare «Massenzustrombewegung».
Angesichts des Elends in den Erstaufnahmeländern der syrischen Fluchtbewegung (Libanon, Jordanien, Türkei) hat die deutsche Bundeskanzlerin für ihr Land eine Willkommenskultur gefordert. Interessanterweise wurde dieser Aufruf von weiten Teilen der Bevölkerung sofort aufgenommen und in zahlreiche Aktivitäten zu Gunsten von flüchtenden Menschen überführt.
Die Alltagsarbeit beginnt erst, und sie ist voller Risiken.
Natürlich sind damit keine Probleme «gelöst». Die Alltagsarbeit beginnt erst, und sie ist voller Risiken. Es wird so sein, dass viele der Flüchtlinge sich nicht an die Bedingungen gewöhnen können, denen sie ausgesetzt sein werden. Es wird auch so sein, dass quasi ein Querschnitt der Bevölkerung Syriens in Flüchtlingszügen mitgelaufen ist, also auch Bürgerkriegstäterschaften, die sich nun weiterhin mit Gewaltvorstellungen beschäftigen.
Menschen fliehen vor etwas, das sie am Leben bedroht. Diese Bedrohung besteht in einem Bürgerkrieg mit derart verschiedenen «Kriegsparteien», wie das in Syrien der Fall ist, aus einem umfassenden Tötungsapparat, der keine Freunde oder Anhänger mehr kennt, sondern bloss die Automatik des Mordens.
Nichts hält für immer
In Deutschland beginnt zurzeit die Suche nach Ansätzen, Hunderttausende Menschen vorübergehend und einen Teil der Flüchtlinge auch für längere Zeit oder für immer in die deutschen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufzunehmen. Gleichzeitig sind die Flüchtenden gefordert, sich an den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Aufnahmelandes Deutschland mindestens zu orientieren und auch Erscheinungen hinzunehmen, die ihren Gewohnheiten nicht entsprechen.
Die Wochenzeitung «Die Zeit» hat ihre Ausgabe vom 1. Oktober 2015 unter dem Frontseitentitel «Wir sind die Neuen» der Diskussion über die Zuwanderungswelle vom Spätsommer 2015 nach Deutschland geöffnet. Chefredaktor Giovanni di Lorenzo schreibt in seinem Leitartikel auf der ersten Seite:
«Nein, es sollen nicht jene die Oberhand bekommen, die schon immer nichts tun wollten, aber sich bei jedem Problem schadenfroh die Hände reiben und sagen, sie hätten es vorher gewusst. Was wir jetzt brauchen, ist eine besonnene Diskussion darüber, wie wir die Einwanderungswelle regulieren und gestalten können. Alle betreten dabei Neuland, nur Scharlatane haben schnelle Antworten.»
Die Wörter «regulieren» und «gestalten» drücken aus, dass die Gesellschaft sich auf die Suche begibt. Genauer: Viele Menschen begeben sich auf die Suche nach Lösungsansätzen. Nicht «Lösungen» für immer und ewig sind gefragt, sondern pragmatische Formen der Organisation eines in vielen Fällen vorübergehenden Zusammenlebens unter sehr unterschiedlich sozialisierten Menschen. Das bezeichnet man im allgemeinen als «Integration», aber im Verständnis vieler politischer Lautsprecher bedeutet es: Anpassung an «uns» oder Wegweisung von uns.
Wenn man aber nachfragt, worin denn die Anpassung im individuellen oder im sozialen Gewand ersichtlich sein soll oder sein muss, erhält man immer nur schablonisierte Wörter zur Antwort. Beispielhaft ist da ein gewisser Politikstil, der ein entstandenes Problem, dessen Lösung auch die Politik herausfordert, etwa wie folgt kommentiert: «Wer zu uns kommt, hat sich unseren Regeln anzupassen – nicht umgekehrt.»
Vereinfacht bis zum Gewaltausbruch
Politiker, die Probleme wirklich angehen, sind sich meistens bewusst, dass Lösungsansätze in der Regel einen langen Diskursprozess benötigen, Kompromisse beinhalten und nicht ein für allemal, sondern allenfalls für eine gewisse Zeitspanne Gültigkeit haben können. Oder immer wieder, auch durch Überraschungen und durch Unvorhergesehenes, plötzlich, ohne Vorbereitung, in Frage gestellt werden können.
Gegen diesen politischen Prozess, der auf allen politischen Ebenen stattfindet (Gemeinde, Region, Staat, zwischenstaatliche Ebenen wie etwa für die Schweiz die Bilateralen mit der EU, supranationale Politik wie EU oder UNO), hetzen die gnadenlosen Vereinfacher – di Lorenzo nennt sie Scharlatane – immer wieder mit ihren Begriffs-Schablonen. Man kennt die Wörter: «Bürokratie» ist eines, «Souveränität» oder «man darf ja wohl noch sagen, was wahr ist» sind weitere. Das weitaus am häufigsten gebrauchte Wort aber ist «das Volk»:
Der Begriff behauptet in dem von seinen Beschwörern immer angewandten Singular nichts weniger als ein ausdefiniertes homogenes Phänomen. «Das» weist auf ein Unikat hin. Man ist diesem Unikat zugehörig – oder man ist ihm nicht zugehörig. Da geht es dann logischerweise darum, die Zugehörigkeitsparameter so zu definieren, dass das in der Begrifflichkeit umfasste «Menschenmaterial» homogen bleibt. Also kommt es beim Begriff «das Volk» immer zu einer Verengung der Parameter auf wenige, dafür um so «anschaulichere» Teile, weil sie sonst am laufenden Band und erst noch augenfällig aufgebrochen würden.
Wer Menschen aufgrund ihrer Herkunft gegeneinander auseinander, handelt sich Gewalt ein – über kurz oder lang.
Man kennt die Folge: Sprachreinheitsfetischismus, Blut- und Bodenromantik und schliesslich der alltäglich einfach zu vollziehende Rassismus. Garniert wird diese herbeigeredete – jeder Realität spottende – angebliche Homogenität etwa mit Adjektiven wie «christlich» oder «abendländisch».
Diesem Singular namens «das Volk» steht dann erst einmal «der Ausländer» als Feind sui generis gegenüber, weiter «der Muslim» – früher «der Jude», was man heute nach dem Mord an den europäischen Juden durch ebendiese «das Volk»-Vertreter vor 70 Jahren geflissentlich nur hinter vorgehaltener Hand ausspricht. Vorhanden und verbreitet ist es allerdings immer noch. Und was bei allen rechtsextremen Parteidoktrinen in Europa etwa an zweiter Propagandastelle hinter «Muslim» oder «Ausländer» steht, das ist «die» EU.
Nun ist in keiner europäischen Gesellschaft eine quasi «völkische», also, etwas vornehmer ausgedrückt, eine ethnische Homogenität anzutreffen. In sehr vielen Staaten gibt es Minderheiten, die sich höchst unterschiedlich manifestieren. Häufig unterscheiden sich die Bewohner eines Staates in ihrer Alltags- oder Muttersprache. Allein in «Kerneuropa» kennen die folgenden Länder mehrere alltäglich gebrauchte und gesetzlich anerkannte Muttersprachen innerhalb ihrer Staatsgrenzen:
- Finnland (Finnisch, Schwedisch)
- Dänemark (Dänisch, Deutsch)
- Deutschland (Deutsch, Sorbisch, Dänisch)
- Ungarn (Ungarisch, Rumänisch, Deutsch)
- Rumänien (Rumänisch, Deutsch, Ungarisch)
- Österreich (Deutsch, Slowenisch)
- Italien (Italienisch, Ladinisch, Deutsch)
- Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch)
- Belgien (Niederländisch, Französisch, Deutsch)
- Luxembourg (Französisch, Deutsch)
- Spanien (Kastilisch, Katalanisch, Baskisch, Galicisch)
Spanien hat sich mit der unsorgfältigen Behandlung sprachlicher Minderheiten folgenreiche innenpolitische Probleme eingehandelt. Das ist einer der Hintergründe, dass etwa die Hälfte der Katalanen die staatliche Selbständigkeit anstrebt – allerdings, was sehr betont wird, innerhalb der EU. Ursächlich haben diese Spannungen damit zu tun, dass im 20. Jahrhundert die Franco-Diktatur das Katalanische unterdrückte, und in den letzten Jahren die PP-Regierung in Madrid die Autonomierechte aushöhlte.
Geld hat kein Gehör für «das Volk»
Das Hauptproblem, das sich die Politik mit der Beschwörung irgendeiner «völkischen» Homogenität einhandelt, besteht darin, dass es eine solche Homogenität einfach nicht gibt. Kaum an der Macht, müssen die Rechtsextremen deshalb zu Tätern werden. Ungarn oder, man schaue da nur genauer hin, die Ukraine sind dafür augenfällige Beispiele. Wer im Namen des «christlichen Ungarn» oder irgendeiner geschichtlich nicht einmal zu verortenden «Nationalität» Menschen aufgrund ihrer Herkunft gegeneinander ausspielt, handelt sich Gewalt ein – über kurz oder lang.
Anzunehmen, in einer sogenannt globalisierten Ökonomie werde auf irgend ein «Volk» Rücksicht genommen, wäre naiv.
Nachvollziehbar ist: In politischen Prozessen spielen Interessen immer die Hauptrolle. Die meisten Interessen, die tatsächlich verhandelt und schliesslich als durchsetzungsfähig erkannt werden, haben mit der Wirtschaft eines Landes oder einer politisch gewollten supranationalen Grösse zu tun. Durchgesetzt wird, was so viel Einfluss auf Entscheidungsprozesse gewinnen kann, dass ihm nichts mehr entgegengesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Es geht immer um die Macht des Durchsetzens, wenn Entscheidungen anstehen.
Naiv anzunehmen wäre, in einer sogenannt globalisierten Ökonomie – was auch heisst: einer in wesentlichen Entscheidungen investitiven Charakters vernetzten Finanz- und Bankenwirtschaft – werde auf irgendein «Volk» Rücksicht genommen. Der Einfluss einzelstaatlicher Gesetzgebung auf wirtschaftliche Entscheidungen aller Art ist kaum mehr gegeben.
Das beweist gerade die Auseinandersetzung um den Freihandelsdeal TTIP im EU-Raum. Mit einer eigentlich unglaublich anmutenden Selbstverständlichkeit wollen die «Player» auf privatwirtschaftlicher Ebene privatisierte, also auf «privatem Recht» basierenden Schiedsgerichtsverfahren ohne staatliche Einflussmöglichkeiten installieren und in Staatsverträge implementieren. Und das mit der Möglichkeit, Staaten wegen demokratisch zustande gekommener Gesetze auf die von Privatinteressen eingerichtete Anklagebank setzen zu können. Mit der Folge, dass Milliarden-«Entschädigungen» aus Steuergeldern für die Globalplayer herausspringen können sollen.
Geschützt im Bunde
Nun, diese Form innerhalb des TTIP ist für die USA und für Kanada, vermutlich auch für Grossbritannien, offensichtlich ein akzeptables Ding. Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu ahnen, was da eingerichtet würde, könnte die USA solche Verträge mit einzelnen europäischen Staaten abschliessen.
Dass in der EU jedes einzelne Mitgliedsland solche Verträge ratifizieren muss, ist der föderalen Struktur der Union zu verdanken. Diese wird am Ende auch verhindern, dass TTIP in der Form zustande kommen wird, wie sich das die genannten «Player» (etwa die deutsche Automobilindustrie) wünschen. Da haben sowohl das EU-Parlament als auch alle Parlamente der 28 Mitgliedstaaten das letzte Ratifizierungswort. Unvorstellbar, dass solcherlei etwa in Dänemark, in Schweden oder auch in Deutschland einfach so durchgehen würde.
Die Ratifizierung allerdings verlangt Einstimmigkeit aller genannten Parlamentsebenen. Das ist der EU-Grenzwert an sich, der schliesslich zählt. Dieser Grenzwert stärkt – beinahe liest sich das als Paradoxon – die einzelnen, teilweise kleinen EU-Mitgliedstaaten gegenüber Anmassungen der globalisierten Grössen, denen sie als unverbundener Einzelstaat gnadenlos ausgeliefert wären. (Das sollte man sich, nur nebenbei, auch in der SVP-hörigen Schweiz hinter die Ohren schreiben.)
Es geht nur langsam
Der EU-Föderalismus als Entscheidungsstruktur stört natürlich die anonymisiert auftretenden, eh total intransparenten Globalplayer, weil er Prozesse zwangsläufig verlangsamt.
Diese Verlangsamung wiederum führt auch dazu: Stehen Probleme oder Krisen an, welche die Medien wie die Griechenlandkrise zum Skandal erheben, erscheinen diese erst einmal als unlösbar innerhalb der EU-Strukturen. Das stimmt zwar nicht, aber die jeweils gefundenen Zwischenlösungen sind allesamt kompliziert und erfüllen somit jene Forderung nach «einfachen Lösungen» nicht, mit denen populistisch hantierende Politik hausiert.
Anderseits zeigt die Flüchtlingsdramatik dieser Tage, dass Verlangsamung tatsächlich nicht immer zu erträglichen Verhältnissen führt. Hier kommt ein Element zum Vorschein, das in der Politik global wie vor Ort oft unterschätzt wird: die Gleichzeitigkeit von Ungleichem. Dazu kommt ein «halbes» Element, dem eben genannten verwandt, dass es Widersprüchliches zur Jetztzeit gibt, das in anderen Zeitumständen entstanden oder begründet ist.
Mitten in den europäischen Sommer, während Millionen Touristen Strassen, Bahnen, Flughäfen überfluten, wo Meeresküstenbewohner ihr Jahresgeschäft machen und Alpenregionenbewohner ebenso, strömt plötzlich ein Millionenheer von Flüchtlingen nach Europa hinein und befördert sämtliche Verkehrslogistik in einen vorübergehenden Zusammenbruch.
Es zeigt sich, dass das Dublin-Abkommen in der konkreten Situation nicht tauglich ist.
Es ist nun mal keine Kleinigkeit, Zehntausende Menschen, die einfach nur auf der Flucht sind, die einfach nur vorwärts gehen, so etwas wie psychisch aufzufangen, zu ernähren, mit provisorischen Aufenthaltsmöglichkeiten zu versorgen. Nicht jeder Staat in Europa hat die dafür notwendigen Ressourcen – im Grunde sind solche Ressourcen nirgendwo ohne weiteres vorhanden.
Es zeigt sich, dass das Dublin-Abkommen, wonach das sogenannte Erstaufnahmeland die Fluchtberechtigung abzuklären hat, beim sommerlichen Flüchtlingsstrom nicht anwendbar, also in der konkreten Situation nicht tauglich ist. «Dublin» entstand sowieso aus einer Haltung, die Asylsuchende abwehren wollte, deren Mehrzahl man – berechtigterweise oder nicht – keine lebensbedrohliche Verfolgung, sondern «Wirtschaft» als Fluchtgrund nach Europa unterstellte. «Dublin» hat nicht mit zwei äusserst mörderischen Bürgerkriegen in Europas Nachbarschaft gerechnet: Syrien und Libyen.
Wer zu den ersten wirklich handlungs-, weil lernfähigen Politikern in Europa gehört, welche die massive Veränderung und damit eine Notwendigkeit erkannten, Flüchtlingen, aber auch europäischen Randregionen zu helfen, war Bundeskanzlerin Merkel. Sie hat diese Erkenntnis natürlich nicht alleine gewonnen. Vielmehr ist in der deutschen veröffentlichten Meinung, also in vielen deutschen Medien, vor Monaten bereits eine Diskussion angestossen worden, welche die Fakten des Flüchtlingsstromes verbreitet und damit auch jener Aufklärung gedient hat, ohne die Politik immer handlungsgehemmt bleiben muss.
Ernüchterung suchen, das Mögliche finden
Was hier zurzeit entsteht, ist in sich widersprüchlich. Natürlich. Vieles ist auf der Basis von Improvisationen im Entstehen. Da wird es Korrekturen geben müssen.
Was in Deutschland momentan für Flüchtlinge unternommen wird, ist meiner Ansicht nach im Vergleich zu all dem, was – mit Ausnahme von Österreich und Schweden – in Europa und auch in der Deutschen Schweiz unverdrossen durch die meisten Medien verbreitet vor allem gesagt wird, aber einzigartig. Es ist geprägt von Menschenfreundlichkeit.
Dies wird nicht immer so bleiben. Das Leuchten wird verblassen. Es wird Ernüchterung eintreten. Die Mühen der Täler werden besprochen werden und sie werden zu vorübergehenden Lösungen führen. Richtig: Zu vorübergehenden Lösungen.
Wenn man so will, ist Ernüchterung das Zauberwort, mit dessen Hilfe die ständigen Krisen zwar nicht abgeschafft, aber für die EU in überlebensfähige Einheiten aufgeteilt werden.
Aber es ist wohl das Eigentliche, was Politik ausmachen muss, soll sie nicht diktatorisch oder gewaltorientiert, soll sie also «demokratisch» im Sinne ausgeglichener politischer Handlungsabläufe sein: Sie muss die Ernüchterung suchen. Sie muss das Mögliche finden.
Wunderbar, wenn das Mögliche nicht aus einer dumpfen Abwehr rechtsextremistischer Rassistenklüngel mit Lautsprechern in allen Medien heraus gesucht wird, sondern aus einer mitmenschlichen Regung der freundlichen Offenheit gegenüber Fremdem.
Die Geschichte der EU ist häufig von Elementen der Ernüchterung geprägt worden. Wenn man so will, ist Ernüchterung das Zauberwort, mit dessen Hilfe die ständigen Krisen zwar nicht abgeschafft, aber für die EU in überlebensfähige Einheiten aufgeteilt werden.