Europäische Realitäten und schweizerische Meinungen

Befürworter einer kooperativen Haltung zur EU haben es derzeit schwer in der Schweiz. Eher im Trend ist der alte Geist der «splendid isolation». Warum Europa längst nicht am Ende ist, und warum uns das Anti-EU-Geschwätz nicht weiterbringt. Eine Reflexion über europäische Realitäten und schweizerische Meinungen.

Volkstümelei hilft jetzt nicht weiter. (Bild: Keystone)

Befürworter einer kooperativen Haltung zur EU haben es derzeit schwer in der Schweiz. Eher im Trend ist der alte Geist der «splendid isolation». Warum Europa längst nicht am Ende ist, und warum uns das Anti-EU-Geschwätz nicht weiterbringt. Eine Reflexion über europäische Realitäten und schweizerische Meinungen.

A

Wer reale Verhältnisse zu beschreiben versucht, wird – nicht nur in der TagesWoche – manchmal von Leuten, welche mit der Darstellung des Verfassers einer Beschreibung nicht einverstanden sind, mit absolutistisch abgefassten Meinungsverkündigungen und auf die Person gerichtet «bekämpft». Es kann dann zu Meinungsverkündigungen kommen, welche in die Form von «Dogmenpredigten» geschlüpft sind.

Meinungsäusserung ist natürlich ein zentraler Bestandteil rechtsstaatlich geschützter Freiheitsrechte des Individuums. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein notwendiger Bestandteil einer offenen Diskussion, auch einer dialektisch ausgetragenen oder eben einer von dogmatisierten Elementen behinderten. Es ist meiner Ansicht nach aber zu unterscheiden zwischen dem, was auf Grund dieser Freiheit publiziert wird und dem, was inhaltlich in diesen Publikationen geschrieben oder verkündet wird. 

Die Meinungsäusserungsfreiheit garantiert keineswegs die Richtigkeit oder die reine oder auch nur angenäherte Realität, auch nicht eine themenbezogen angebliche «Wahrheit». Schon gar nicht spricht eine einzelne Meinungsäusserung die «einzige Wahrheit» der vorgetragenen Meinung innerhalb eines Meinungsspektrums aus. 

An sich ist diese Feststellung eine Binsenwahrheit. In der Europa-Diskussion in der Schweiz allerdings wird diese Binsenwahrheit oft genug sträflich ausser Acht gelassen.

Konkret:

In der politischen Diskussion über die «Rolle der Schweiz in Europa» vergiftet vor allem in der Deutschschweiz seit mehr als  einem Vierteljahrhundert der existentiell bedrohlich angewachsene Anti-EU-Einfaltsslogan der SVP eine ernsthafte, faktengestützte Diskussion:

Immer dann, wenn es darum geht, politische Positionen über die Gestaltung der Politik, namentlich auch der Wirtschaftspolitik des Staates Schweiz in Europa zu diskutieren, erscheinen sofort jene Anti-EU-Meinungsverkünder, welche behaupten, ihre Meinung – nämlich, dass die Schweiz innerhalb ihrer Nachbarschaft unbedingt isoliert dastehen soll – sei die einzig wahre. Wer nicht dieser Meinung sei, sei mindestens potentiell ein Landesverräter, ein Nichtschweizer, ein «Europhiler» …

Dafür ein Beispiel:

Wenn – vor einiger Zeit hier in der TaWo – Professor Kreis eine vorsichtig zusammengetragene Analyse politisch/diplomatischer Aufgabenstellungen nach der – äusserst knappen – Annahme der SVP-Einwanderungsstoppinitiative für «die Schweiz» anstellt, braucht man nicht lange zu warten, und schon steht da in einem Kommentar:

„Einmal mehr argumentiert er (Prof. Kreis) aber argumentativ aus seiner europhilen Grundhaltung heraus falsch. Der Verlust des ganzen bilateralen Vertragswerks hat längst seinen Schrecken verloren. Was wir benötigen, ist einzig und allein ein Freihandelsabkommen, welches notabene bereits existiert.

(A. Dürr, TaWo, 29.6.2014, Heraushebungen durch mich)

Zuerst eine Bemerkung zum Stil, der diesen Leserkommentar auszeichnet:

Kreis wird eine «europhile Grundhaltung» unterstellt. Zusätzlich ist laut Dürr alles, was Kreis in seinem Artikel vorbringt, erst einmal falsch. Der Artikelinhalt ist nicht diskussionswürdig, ist nicht eine andere als die eigene Meinung, nein, alles ist einfach nur eines: falsch

Die eigene, also Dürrs Meinung, wird dann im Tonfall der Dogmatikpredigt dem «falschen Ding» von Kreis gegenübergestellt:

Im Perfekt, also in der ersten Vergangenheitsform, wird der Verlust der bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz als gegeben hingestellt und gleichzeitig unterstellt, das sei für «die Schweiz» kein Verlust. Denn was «WIR» brauchen, sei ein Freihandelsabkommen, nämlich das bereits (seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts) bestehende. 

Dürr schreibt so, als trage er Fakten vor. Aber Dürr schreibt überhaupt nichts Faktisches. Er verkündet ein völlig unbewiesenes, durch nichts als seine «Meinung» begründetes Dogma. Wie es Prediger so an sich haben, weiss er dabei zweifelsfrei, was richtig und was falsch ist.

Zum zweiten geht es natürlich auch um den Inhalt von Dürrs Dogma. Es ist nicht schwierig, seine Behauptungen als ziemlich oberflächlich, als sehr ungenau und als teilweise schlicht inexistent zu charakterisieren:

1. Der von Dürr im Perfekt vorgetragene angebliche Verlust des «ganzen bilateralen Vertragswerks» zwischen der EU und der Schweiz hat bis jetzt gar nicht stattgefunden. Ein nicht eigetretener Verlust aber kann nicht als «Faktum» der Vergangenheit beurteilt werden.

Faktisch zu beobachten – und damit argumentativ vertretbar – ist im Gegensatz zu Dürrs Dogmenverkündung:

Die Schwierigkeiten, welche im Vollzug  einzelner Verträge der Bilateralen aufgetreten sind, sprechen keineswegs die Sprache von Dürr («Schrecken verloren»), sondern von Nachteilen für tausende von schweizerischen Studentinnen und Studenten, von schweizerischen Forschungsinstitutionen usw. Das ist zwar kein «Untergang» der Schweiz, aber es ist eine Tendenz sichtbar, welche «die Schweiz» nicht etwa in erster Linie politisch, sondern viel mehr und nachhaltiger sozial, alltäglich für dich und mich, wissenschaftsorientiert, bürgerrechtlich usw. innerhalb von Europa zunehmend isolieren und – dies ist realistischerweise  anzunehmen – auf viele Jahre hinaus marginalisieren wird.

2. Als Verstärkung seiner Dogmenpredigt schleudert Dürr in der Folge das «WIR» in seinen Kommentar. «WIR» brauchen NUR ein Freihandelsabkommen mit der EU.

Na ja: Warum hat die Schweiz aber seit der Ablehnung des EWR-Beitritts 1992 derart viele bilaterale Abkommen mit der EU geschlossen? Wer war Bittsteller für diese Abkommen und Verträge? Richtig ist: Es war erst einmal ausschliesslich «die Schweiz».

Der «Freihandelsvertrag» zwischen der Schweiz und der EU genügt selbstredend den heutigen Anforderungen von und für die Wirtschaft überhaupt nicht. Für die  Exportwirtschaft (von der in der Schweiz gut zwei Drittel aller Arbeitsplätze und damit die dadurch generierten Steuereinnahmen, Sozialversicherungsleistungen usw. existentiell abhängen) ist rechthaberisch durchgesetzter Isolationismus Gift, weil der «freie Handel» heute nicht nur im EU-Raum, sondern auch durch die OECD und durch andere vertragliche Konstrukte (beispielsweise durch Handelsverträge der Schweiz mit China) in ausgehandelten Rechtsräumen stattfindet. 

Ein paar Hinweise sollen hierzu in Erinnerung gebracht werden:

  • der internationale Zahlungsverkehr mitsamt den Währungspositionen und deren Verhältnisse,
  • Schiedsgerichtsbarkeit (was man sehr gut studieren kann in Sachen USA – Schweizer Banken, wenn solcherlei eben nicht vor einer eingetretenen Aktualität per Staatsvertrag geregelt ist),
  • Patentschutz,
  • Arbeitsrechte (UN-Bestimmungen beispielsweise),
  • Nomenklatur der Vorschriften, Anerkennungsmodalitäten im Bereich Pharma oder Sicherheitsvorschriften bei Produkten,
  • Datenaustauschfreiheit, was für die Forschung und damit für die wirtschaftliche Weiterentwicklung von existentieller Bedeutung ist und nur mit Staatsverträgen rechtlich gesichert wird, usw.

Im übrigen: Die EU heute ist ein ganz anderes institutionelles Gebilde als die EWG der frühen Siebzigerjahre. Das damals abgeschlossene Freihandelsabkommen (ein EFTA-Ding!) genügt den heutigen Bedürfnissen in allen denkbaren rechtlichen, wirtschaftlichen, bildungspolitischen und sozialen Belangen längst nicht mehr.

Das «WIR» von Dürr ist undefiniert, zugleich ist es aber das ständig benutzte Vehikel, mit dem die schweizerischen Isolationisten – interessanterweise ziemlich unbehelligt – durch die Medien spazieren.

Der Grund für dieses Phänomen scheint mir darin zu liegen, dass namentlich in der Deutschschweiz seit Jahrzehnten ein völlig unbegründeter «Geist» namens «splendid isolation», die man sich leisten könne, zum politischen Selbstverständnis gehört, medial prominent, beinahe allumfassend ausstaffiert. 

B

An dieser Stelle kann auch einmal – knapp – über die Schweiz unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede sein: 

Ich kann mich noch gut an eine Einführungsvorlesung des Historikers Professor Alphons Silberschmidt an der Universität Zürich im Wintersemester 1967/68 erinnern, als er eindringlich Churchills Rede zu Europa an der Universität Zürich 1947 vorstellte. Churchill und Zürich. Der Weltkrieg-II-Sieger und die vom Krieg nicht unmittelbar heimgesuchte Schweiz! 

«Europa», wie Churchill es angeblich sah, war in der offiziösen und in der offiziellen Schweiz das Europa der NZZ, das Europa des späteren BGB-Bundesrats  und ehemaligen Anbauschlachtgenerals Traugott F. Wahlen, zwischenzeitlich erster Generalsekretär der FAO (!), oder von Historikern wie Hofer oder Bonjour, deren Bezüge immer den Aspekt «WIR UND EUROPA» als Grundlage ihrer Arbeit akzeptierten. Meistens wurde dabei die Schweiz als in Europa aussenstehende eigene Welt verstanden und dargestellt. Selten war von «WIR IN EUROPA» die Rede. 

Für Bonjour lag der Grund dafür wohl im Gegenstand seiner Schwerpunktforschung, nämlich der Geschichte der Neutralität der Schweiz. 

Für Walther Hofer lag das bei ihm später ausgeprägt in Erscheinung getretene Bedürfnis nach Einmischung hingegen eher in einem Hang zur Belehrung der Umwelt von der sicheren Warte des Neutralen herab. Er war in seinem Auftreten eine Art Vorzeige-Schweizer. Er belehrte die Deutschen über das, was in ihrem Namen an Unrecht durch Hitler, aber indirekt erst auch und dann angeblich ausschliesslich durch die Sowjetunion auf die Welt gebracht wurde. Hofer lehrte einige Jahre  an der FU in Berlin und war dort einer der Protagonisten in der entstehenden Kaltkriegsrhetorik, deren eine Ursache (Hitlers Nazidiktatur) er in Deutschland tiefgelagert sah.

Hofer diagnostizierte die Fortschritte «der Deutschen» hin in eine westliche Demokratie, welche seiner Ansicht nach nur im Kampf gegen die Sowjetunion und gegen deren Fünfte Kolonnen erreicht werden konnten. So kam Hofer dann auch in die innerschweizerische Politik und wurde mit seinem Gesinnungsschnüffelgebilde namens «Hoferclub» ein Inspirator der «Abwehr des schleichenden Kommunismus» in «unserer Schweiz», namentlich beim SRG-Radio und vor allem allem beim damals noch «jungen» Fernsehen. Ihm selber wurde später die Nähe, in die er dadurch zu einem Cincera oder zu einem Peter Sager usw. geriet, ziemlich peinlich.

Man weiss auch, wenn man sich mit den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren in Europa beschäftigt, welchen Einfluss der damalige Bonner NZZ-Korrespondent Fred Luchsinger, später NZZ-Auslandchef und NZZ-Chefredaktor, auf Adenauer hatte – oder umgekehrt Adenauer auf Luchsinger. Die NZZ jedenfalls war bis zum Rücktritt Adenauers 1963 quasi die Lautsprecheranlage adenauerscher Politik, vor allem von Adenauers Westintegration der Bundesrepublik Deutschland. 

Anders gesagt:

Man war als «Schweiz» dabei, Weltmeinung – wenigstens in der Eigenwahrnehmung – mitzubestimmen. Man stellte, etwa als NZZ, absolut gesetzte Perimeter der grossen aktuellen Weltpolitikbeurteilung und über die  jüngere Weltgeschichte zur Verfügung, ohne dass man wirklich dabei sein musste. Man war meinungsstarker Zuschauer.

Äusserlich stimmte das alles erst einmal auch – wenigstens ein wenig. 

Nachdem die britische Vorstellung einer reinen Freihandelszone im Rahmen der OECD am Willen der «Sechs» (Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Niederlande und Luxemburg) für ein qualitativ und quantitativ schnelleres und vor allem auch etwas sozialer ausgestattetes ökonomisches Wachstum gescheitert war, gründeten die Briten und sechs weitere Staaten (die neutralen Österreich und Schweden, die Schweiz, dann Dänemark, Norwegen und Island) das Europa der Sieben, wie das Gebilde kurzzeitig genannt wurde, die EFTA, also jene britisch ausgedachte «Freihandelsassoziation». Sie wurde bald erweitert mit Portugal und Finnland.

Allerdings war diese EFTA von Beginn weg der weitaus dynamischeren EWG in allen wesentlichen ökonomischen Daten und Belangen weit unterlegen, was Grossbritannien bereits zwei Jahre nach Gründung der EFTA veranlasste, ein Beitrittsgesuch an die EWG zu richten. 

Die schweizerische Europapolitik läuft im «Rattenkäfig».

Von diesem Zeitpunkt weg, so kann man es heute analysieren, läuft die schweizerische Europapolitik im «Rattenkäfig», mindestens im phantasielos gestalteten Kreis  herum.

Alle anderen europäischen Staaten, auch die neutralen (Schweden, Österreich, Finnland) und später, nach dem Fall der Mauer die  osteuropäischen, haben politisch und kulturell unglaublich viel in Bewegung gesetzt, sowohl gemeinsam als auch jeweils innerstaatlich, und zwar als volle souveräne Staaten. Auch die wenigen westlichen Nicht-EU-Staaten und Noch-EFTA-Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) sind vertraglich untereinander und mit der EU im EWR existentiell verbunden. 

Nur die Schweiz, Russland und Weissrussland sowie bis vor kurzer Zeit die Ukraine, Moldawien und, wenn man es denn unbedingt zu Europa zählen will, Georgien haben «bilaterale» Vertragszustände mit der EU, das heisst in diesem Fall sehr wohl: mit Europa (weil der EWR einmal zu Gesamt-Europa und damit vertraglich auch zur EU gehört).

Soziale und vor allem auch ökonomische Entwicklungen laufen natürlich nicht fehlerfrei ab. Nicht ohne immer wieder mehr oder weniger ins Stottern zu geraten. Nicht ohne von Krisen heimgesucht zu werden. Nicht  ohne Schäden und Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten oder Diktatversuchen durch «Eliten» zu produzieren und wieder auf einen allgemein erträglichen Konsens hin zu verändern. 

Allerdings: Auch die inneren Kreisbewegungen in der Schweiz laufen nicht «gerade», vielmehr holpert und poltert, stottert und kriselt es da seit vielen Jahren ganz gehörig. 

C

Nun wird in Grossbritannien mit dem Austritt aus der EU geliebäugelt und auch gedroht. In Frankreich erhält der Front National bei den jüngsten Wahlen zum EU-Parlament 25 Prozent der nicht eben zahlreichen Wahlstimmen.

In Österreich steigert sich die SVP-Bruderpartei FPÖ bei denselben Wahlen auf über 20 Prozent Wähleranteil. In Skandinavien erhalten rechtsnationalistische und präfaschistische Kreise Zustimmung von rund 10 Prozent der Wählenden, während in Ungarn die Rechten (Fidez und andere, auch eindeutig nazistisch-antisemitische Rassisten) eine qualifizierte Mehrheit erreicht haben.

Mit anderen Worten: Die EU hat Probleme, ja Schwierigkeiten, die an ihr Selbstverständnis gehen. 

Die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen wurden als gewaltiger «Rechtsruck» oder als «EU-Absetzbewegung» kommentiert. Es lohnt sich allerdings schon, diese Behauptung etwas genauer zu untersuchen. Die Wahlergebnisse für die Parlamentsfraktionen sehen wie folgt aus:

  Grün/Linke  Sozial-
demokraten 
Grüne  Liberale  EVP  ECR  EFD  Fraktionslose
(meist extrem rechts)    
2009-2014 4,6% 25,5% 7,3% 10,8% 35,8%  7,4%  4,0%  4,3%
2014 6,9% 25,0% 6,7% 8,9% 29,9% 9,3% 6,4% 6,9%

Die Fraktionen Grün/Linke, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale und EVP (Europäische Volkspartei) bilden den Lissabonbogen innerhalb des EU-Parlaments. Die Fraktionsmitglieder sind in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten nach dem Proporzwahlrecht (auch in GB und Frankreich usw.) gewählt worden. Die Fraktionsstärken entsprechen folglich den Wähleranteilen der Parteien.

Zum Lissabonbogen – von mir so benannt, weil diese Fraktionen dem Lissabonvertrag zugestimmt haben; der Lissabonvertrag ist quasi die erste verfassungsähnliche EU-Grundgesetzanlage – gehörten 2009 84 Prozent der EU-Parlamentsabgeordneten. Nun, 2014, sind es 77 Prozent.

Von einem «Erdrutsch» gegen «die EU» kann nach den letzten EU-Wahlen nicht gesprochen werden.

Das heisst: Von einem «Erdrutsch» gegen «die EU» kann nach den letzten EU-Wahlen eigentlich nicht gesprochen werden. Mit anderen Worten: Was laut und schreiend durch die Medienwelt rennt, spiegelt deswegen noch lange nicht die Realitäten wieder.

Das gleiche gilt für den zweiten Aufschreikomplex, der nach den letzten EU-Parlamentswahlen bedient wurde: die Wahlbeteiligung. Erstens: Die Beteiligung war  keineswegs einheitlich hoch oder einheitlich niedrig. Vielmehr spiegelte sich in der Wahlbeteiligung nationales Wahlverhalten wieder: hohe Beteiligungen in Belgien, in Italien, niedrige bis niedrigste in osteuropäischen Ländern.

Besonders deplatziert allerdings sind Kritiken über angeblich mangelnde Legitimation wegen ungenügender Wahlbeteiligung, wenn sie in der Schweiz gegenüber Drittstaaten erhoben werden. Wer da mit dem Zeigefinger auf andere fuchtelt, zeigt gleichzeitig mit drei Fingern gegen sich selber: Wahlbeteiligungen in der Schweiz, sowohl national als auch kantonal oder kommunal gehören zu den niedrigsten in allen Demokratien weltweit – und bei Referenden und Initiativabstimmungen werden 50 Prozent Beteiligung nur höchst selten erreicht. 

D

Zusammengefasst: Die EU ist keineswegs «am Ende».

Das EU-Parlament hat sich gerade eben gegenüber Partikularinteressen namentlich des britischen Premierministers, der seine Wiederwahl im nächsten Jahr mit Anti-EU-Parolen sichern will, sehr souverän gezeigt. Camerons Erpressungsversuch, bei der Wahl von Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten werde Grossbritannien erwägen, die EU zu verlassen, hat sich als Luftnummer erwiesen. Das EU-Parlament hat die Erpressungsdrohung einfach ignoriert. Punkt.

Probleme kommen und gehen. Auch politische Parolen kommen und gehen. Übrigens auch Personen und deren Parolen, welche in der Schweiz so tun, als besässen sie die absolute Wahrheit in Fragen der Politik oder der Ökonomie, bezogen beispielsweise auf die angeblich ewig andauernde schweizerische Institution namens «Bankgeheimnis». 

Letzteres hat sich innert kürzester Zeit als äusserst brüchig erwiesen, allen blocherschen, merz’schen und (Kaufmann-)SVP-Unkenrufen zum Trotz. Und zwar allein deshalb, weil sich die rechtsstaatlich einigermassen organisierte Staatenwelt das Treiben schweizerischer Bankiers mit deren Steuerhinterzieherprogrammen nicht mehr gefallen liessen. Wohlverstanden: Es waren die Banken selber, also die Bankiers, welche gegenüber den USA und Frankreich, neuerdings auch gegenüber Deutschland zuerst klein beigaben, weil sie halt in diesen Staaten weiter geschäften wollen.

Und so wird es vermutlich von allen einigermassen gut aufgestellten schweizerischen Unternehmen in Sachen EU auch gehandhabt werden: 

Wenn sich herausstellt, dass es ohne die Bilateralen nicht geht, Schweizer Firmen aber dank SVP-«Diplomatie» ausgegrenzt werden, wird es entweder zu mindestens einem Teilauszug vieler Unternehmen aus der Schweiz kommen, oder die politische Agenda der so genannten «bürgerlichen Parteien» kommt unter massiven Druck von Seiten der «Wirtschaft», SVP hin oder her.

Von Bedeutung ist zur Zeit, dass man in der Schweiz weitherum offensichtlich nicht wahrnimmt, wie all das Anti-EU-Geschwätz innerhalb der EU-Staatenwelt ankommt. Es kommt nicht nur bei vielen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern europaweit nicht besonders gut an, sondern auch bei vielen ganz und gar gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürgern. Man lässt sich ausserhalb der Schweiz von Nichtwissern und Hetzparolenverkündern nicht gerne als EU-Trottel hinstellen. 

Da bringt dann weder die Beschwörung der «Unabhängigkeit» noch die Berufung auf «Marignano» (1515) oder gar auf Morgarten (1315) noch auf die Restauration nach dem Wiener Kongress von 1815 irgend etwas von Belang. Ausser viel unhistorisches Gedöns, welches im übrigen auch für viele Schweizerinnen und Schweizer im Bereich von Heimatkitsch angesiedelt sein dürfte. 

Immerhin: Nach 1815 kam dann nach nicht allzu langer Zeit für die Schweiz 1848, nachdem die nachnapoleonisch restaurierte «Alte Eidgenossenschaft», eine Kopie der habsburgisch-metternichschen Welt voller Rechtswillkür und feudalem Getue, in der Schweiz im Sonderbundkrieg von 1847 ohne viel Federlesens ad absurdum geführt worden war.

Nun, die Gedenkjahre mit einer 7 oder einer 8 am Jahreszahlschluss sind zur Zeit rein kalendarisch nicht en vogue! Aber sie kommen bestimmt wieder.

Nächster Artikel