Grössenverhältnisse – wie SVP und FDP ihr Gewicht überschätzen

Die FDP will mit der SVP zusammen den Bundesrat dominieren und gleichzeitig die Bilateralen retten. Doch beides zusammen geht nicht.

Der Baum der Bilateralen: Bilden SVP und FDP die Regierungsmehrheit, könnte die Belastung der Beziehungen zu Europa zu gross werden.

(Bild: Nils Fisch)

Die FDP will mit der SVP zusammen den Bundesrat dominieren und gleichzeitig die Bilateralen retten. Doch beides zusammen geht nicht.

I
Vor den Wahlen in die beiden schweizerischen Parlamentskammern wurde viel über die «Zukunft des Landes», über dessen «Souveränität» oder dessen «Unabhängigkeit» respektive «Freiheit» geredet.

Interessant dabei: Ausser den Oberbegriffen kam fast nichts vor, das mit Inhalt zu tun hatte.
Vor allem die beiden Parteien mit den grössten Werbebudgets und den im Normalfall anonymen Grossspendern im Rücken haben sich gar nicht erst mit konkreten politischen Problemen beschäftigt. Dafür stellten sie Filmchen und Liedchen sowie Bildchen mitsamt einem halbsüssen Wauwau ins Netz, oder sie stellten den Kleinen der Grossen Hüpfburgen zur Verfügung – was das politisch aussagen sollte, bleibt das Geheimnis der Werber.

Nun ja, wenn es denn politisch etwas konkreter wurde, erklärten die einen, man müsse nun sofort den Volkswillen durchsetzen. Der Volkswille für die «Zukunft des Landes» liege in der Einschränkung der Zuwanderung in das Land. Das habe die Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) verlangt, und diese sei gutgeheissen worden. Zudem wolle der Volkswillen, dass dem Asylmissbrauch sofort Einhalt geboten werde. Vollzug, Ausweisung, Abschiebung, nicht irgendwelche Diskussion sei angesagt. Die SVP behauptete, sie sei die einzige Vollzieherin des «Volkswillens».

Die anderen erklärten, man müsse die Bilateralen schützen. Wenn man sie, also die FDP wähle, wähle man die Sicherung der Bilateralen.

Diese beiden «Positionen» wurden aber ohne jegliche konkrete Aussage über das WIE verkündet.

Nun stellt man fest, dass die eine, die SVP, die eindeutige, und die andere, die FDP, die kleinere Wahlgewinnerin ist. Bei den Nationalratswahlen haben sie etwas über 44 Prozent jener hinter sich gebracht, die gewählt haben. Im Ständerat sieht das etwas anders aus.

Die EU wird die Personenfreizügigkeit niemals aufgeben. Schon gar nicht für bilaterale Verträge mit der Schweiz.

Sehr bald allerdings kommt es nun zur Realität. Im Laufe des Jahres 2016 stellt sich die ganz und gar konkrete Frage, wie denn die Bilateralen geschützt werden können, wenn gleichzeitig die durch die MEI in die Verfassung gedrückte Beschränkung der Einwanderung einem existenziellen Rechtsgut der EU widerspricht. Die EU wird dieses Rechtsgut niemals aufgeben. Schon gar nicht für bilaterale Verträge mit der Schweiz, welche ja nicht die EU, sondern eben die Schweiz kündigen muss, will sie den Verfassungssatz über die Einwanderungsbeschränkung wirklich in Gesetzesform und damit zum Vollzug bringen. Die Personenfreizügigkeit ist elementarer Bestandteil der meisten bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz.

Fällt die Personenfreizügigkeit, fallen automatisch auch die Bilateralen. So ist es vertraglich ausgehandelt und gültiges Vertragsrecht zwischen der Schweiz und der EU (und deren 28 Mitgliedstaaten, was in der Schweiz mit geradezu peinlich zu Tage tretender Nichtinformiertheit über die Struktur der EU am laufenden Band übersehen wird). Die Personenfreizügigkeit ist das eine existenzielle Junktim, an dem die Bilateralen hängen.

Das andere besteht in der Anerkennung der EU-Rechtsnormen für alle die bilateralen Verträge berührenden Aktivitäten durch die Schweiz. Dass dies ein «fremdes» Junktim ist, hat sich die Schweiz selber zuzuschreiben. Wäre sie seinerzeit in den EWR eingetreten (was Blocher mit viel Getöse verhindern half), wäre sie jetzt wie Norwegen, Island oder Liechtenstein am Rechtsprozess der EU mitentscheidend beteiligt.

II
Die FDP will also die Bilateralen schützen. Sagt sie unverdrossen.

Erst einmal:
Als ob dies nur sie unternehmen würde!
Jedenfalls sind die Beziehungen zur EU von Seiten der SP und von Seiten der CVP sowie der anderen Mitteparteien bedeutend unverkrampfter und auch sehr viel konkreter (durch die grossen Parteifamilien der europäischen Christdemokraten, der europäischen Sozialdemokraten und der europäischen Grünen) als bei der ständig – wegen angeblich gemeinsamer «bürgerlicher Politik» – zur SVP und ihrem absoluten Dominator Blocher schielenden FDP (deren europäische Parteifamilie innerhalb des Europäischen Parlamentes und in der EU-Kommission auf rechtsstaatlich aufgebauter Gemeinsamkeit beharrt, wie man das vor allem von den liberalen Belgiern und den liberalen Niederländern sowohl im EU-Parlament als auch in der Kommission kennt).

Dann aber:
Gleichzeitig mit der politischen Aufgabe, das äusserst schwierige Dossier für Verhandlungen mit der EU bezüglich der Personenfreizügigkeit weiter aufzubauen, will die Schweizerische FDP zusammen mit Blochers Partei vier Bundesräte, und damit eine sogenannte Rechtsmehrheit im siebenköpfigen Bundesrat herstellen.

Klar ist:
Diese rechte Mehrheit müsste dann eine «rechte», das heisst eine nicht auf Solidarität innerhalb der Gesellschaft aufgebaute Politik betreiben, sondern eine nach nach dem Willen von Blocher und Co. Erste diesbezügliche Inhalte liegen vor: Es soll im Vollzug der MEI-Abstimmung bis Februar 2017 darum gehen, Einwanderung entgegen der Personenfreizügigkeit, unter anderem vereinbart im Öffnen von Schengen für die Schweiz – und natürlich im Öffnen der Schweiz für die Inhalte EU – respektive Schengenstaaten, zu beschneiden, zu kontingentieren, damit zu spezialisieren und, natürlich, schlussendlich nach Belieben der SVP mit ihrer Xenophobiemaschine zu unterbinden.

Dann steht die SVP-Durchsetzungs-Initiative vor der Abstimmung. Dazu kommt das, was Blocher mit «fremde Richter» umschreibt: Die Schweiz soll sich aus völkerrechtlichen Strukturen abmelden, um auch rechtlich angeblich «souverän» handeln zu können. Diese Initiative ist gegen die europäische Menschenrechtskonvention gerichtet, sie richtet sich auch gegen den Europäischen Gerichtshof (EUGH) und wohl auch gegen alle Haager Abkommen.

Dies sind Blochers bisher formulierte Konditionen, um auf seine seit Jahrzehnten mit seinen Millionen gegen den gesellschaftlichen Konsens in der Schweiz gerichtete destruktive Obstruktion zu verzichten oder sie mindestens zurückzufahren, und zwar völlig offensichtlich sine qua non.

Dazu kommen «nationalökonomische» Egoismen, welche den Sozialstaat Schritt für Schritt aushöhlen sollen. Diesbezüglich besteht mit Teilen der FDP eine hohe Übereinstimmung.

Hat Aussenminister Burkhalter den führenden FDP-Leuten nie erläutert, was es braucht, um die Bilateralen angesichts des MEI-Verfassungssatzes zu retten?

Werden diese Konditionen von der von SVP und FDP angestrebten Bundesratsmehrheit – vielleicht auch, weil es schlicht um die unmittelbare, kurzfristige ökonomische Zukunft des Landes geht, was eine Regierung ja nicht einfach aussen vor lassen kann – nicht so vollzogen, wie Blocher und Co. das wollen, werden Blocher und Co. ihre sogenannte «Opposition» weitertreiben. Da nützt dann auch der Hinweis von FDP-Müller und Co. nichts, man habe nun doch mit einem zweiten SVP-Bundesrat, und zwar einem, den die Partei gewollt habe, die «Zauberfomel»-Konkordanz ins Gleichgewicht gebracht.

Wie die FDP in diesem Kontext die Bilateralen retten will, ist wohl Inhalt einer weiteren Zauberformel innerhalb der schweizerischen Politikstruktur.

Frage:
War Herr Müller schon mal in Brüssel? Oder, was seinem Aargau ja näher liegt, im EU-Parlament, welches seinen Sitz in Strassburg hat?
Oder:
Hat Herr Burkhalter, Aussenminister der Schweiz, FDP, zeitweiliger OSZE-Vorsitzender, laut SVP-Propaganda, ein «Landesverräter», den führenden FDP-Leuten nie erläutert, was denn genau in der schweizerischen Politik unternommen werden müsste, damit die Bilateralen angesichts des MEI-Verfassungssatzes «gerettet» werden können? Hat Herr Schneider-Ammann, FDP, als Wirtschaftsminister auch für die Forschung zuständig, den führenden Leuten der FDP nie erläutert, dass Forschung ohne verfahrensgleichberechtigte Verträge und Personenfreizügigkeit über Landesgrenzen hinweg ohne irgendwelche Begrenzung heute nicht mehr funktionieren kann?

Klar ist:
Zu retten ist nichts, wenn die Personenfreizügigkeit von der Schweiz her in Frage gestellt oder gar abgeschafft werden müsste, indem «man» den Verfassungssatz über die Einwanderung umsetzen müsste.

Es ist schon zu erkennen, dass sich die FDP mit ihren beiden Allerweltssätzen, also der «Sicherung der Bilateralen» und der «Wahl von zwei SVP-Bundesräten», egal, was das im politischen Alltag also auch in beiden Parlamentskammern und in der «direkten Demokratie» bedeuten würde, in einer selbstgebauten Falle sitzt. Erstaunlich für eine Partei, die immerhin Gründerin der Republik und der Konföderation ist. Erstaunlich auch, wie wenig Rechtsstaatsbewusstsein in der heutigen Führung dieser Partei vorhanden zu sein scheint.

III
Besonders erstaunlich aber ist, wie wenig in der Schweiz zurzeit über die sehr bald sehr aktuell werdenden wirtschaftspolitischen Probleme gesprochen wird. Das ist auch eine Folge jener vom ehemaligen SP-Nationalrat und Preisüberwacher Strahm in einer seiner Kolumnen im «Tages-Anzeiger» festgestellten servilen Haltung zahlreicher Journalisten in der Schweiz gegenüber Blocher und dem ganzen rechtsnationalistischen und xenophoben Getue der SVP.

Dasselbe, ausdrücklich Strahms Thesen bestätigend, sprachlich aber um einiges zugespitzter, hat Ringiers Kolumnist Frank A. Meyer im «Sonntagsblick» ausgerechnet am Wahltag publiziert:

«Die ‹Neue Zürcher Zeitung› hat erkannt, dass rechte Politik und rechte Ökonomie zwei Seiten der gleichen Münze sind, wenn man die soziale Marktwirtschaft durch radikale Marktwirtschaft ersetzen will. Marktismus als publizistisches Programm! Das deckt sich mit der Politik des SVP-Eigners: Er verbindet Marktliberalismus mit Populismus, weil nur so breiter Erfolg in der Bevölkerung zu erreichen ist. Die SVP ist die erfolgreichste Populistenbewegung Europas – die reaktionäre Avantgarde.»

Überaus deutlich beschrieb der Dramatiker und Essayist Lukas Bärfuss unter dem Titel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» eine für viele Schweizerinnen und Schweizer gut nachvollziehbare Sicht auf den Zustand der öffentlichen Schweiz:

«Am lautesten ist nach wie vor das Schweigen über das Verhältnis zur Europäischen Union. Die Situation ist einfach auch zu kompliziert: staatsrechtlich, diplomatisch und ökonomisch undurchschaubar und obendrein für jeden Politiker im Wahlkampf eine unerhörte Peinlichkeit. Wie soll er seinen Wählern auch erklären, was sie damals, am 9. Februar 2014, bei jener Abstimmung über die Masseneinwanderung, angerichtet haben? Und dass das Heiligste aller schweizerischen Heiligtümer, so himmelsgleich und gnadenreich, dass selbst Spieledesigner es nicht gewagt haben, es in Plastik zu giessen, die direkte Demokratie nämlich, für diesen Unfall verantwortlich ist ? Den nationalen Karren hat er so tief in den Dreck gefahren, dass keiner weiss, wie er jemals wieder fahrbaren Boden unter die Räder bekommen soll.»

Die öffentliche Schweiz tut so, als liesse sich mit der EU schon irgendein Arrangement betreffend des EU-Grundrechts der Personenfreizügigkeit, welche ausdrücklicher Bestandteil der Bilateralen der Schweiz mit der EU sind, finden. Dies nur, damit die auf Blochers Ideologiediktat hereingefallenen MEI-Zustimmer, Minarettenfeinde und wohl bald auch «Durchsetzungstäubeler» ihre «direktdemokratischen» Allüren nach Belieben weitertreiben könnten.

Nur:
Das wird niemals gehen.

Die EU-Kommissionsmitglieder, vom Präsidenten bis zu den einzelnen Fachkommissarinnen und -kommissaren, welche mit der Frage der Neuaushandlung der Bilateralen so, wie es «die Schweiz» wünscht, befasst sind, haben alle deutlich gemacht: Ohne Personenfreizügigkeit geht nichts. Und ebensowenig geht, wenn sich die Schweiz den EU-Rechtsebenen verschliesst. Ohne Rechtsgrundlage, ohne Akzeptanz der dritten Gewalt, die in der EU sehr wohl funktioniert (EUGH), wird es im Vergleich mit anderen Drittstaaten keinerlei bilaterale Bevorzugungen der Schweiz im Verhältnis zur EU (mehr) geben.

Die Nachbarn der Schweiz, allen voran Deutschland – für die Schweiz wirtschaftlich absolut lebensnotwendig –, haben klargemacht, dass die EU nicht in der Lage ist, dem Nichtmitglied Schweiz diesbezüglich auch nur dem Schein nach nachzugeben.

Klar ist:
Für die Aufrechterhaltung der Bilateralen zwischen der Schweiz und der EU besteht für die Schweiz in Bezug auf das Junktim «Personenfreizügigkeit» sowie in Bezug auf die Anerkennung der Rechtswege innerhalb des Verhältnisses der Schweiz mit der EU als supranationaler Rechtsebene keinerlei diplomatischer Spielraum.
Wer das Gegenteil behauptet, lügt.

Daraus ergeben sich genau zwei Möglichkeiten:
1. Der Verfassungsartikel über die Masseneinwanderung wird wieder aus der Verfassung hinausbefördert, und die Blocher’sche Initiative gegen «fremde Richter» kommt nicht in die Verfassung (müsste also in der wohl zu Stande kommenden Volksabstimmung genau so wie die «Durchsetzungsinitiative» abgelehnt werden) oder
2. die Schweiz verzichtet, weil sie die bilateralen Verträge mit der EU wegen des MEI-Verfassungssatzes kündigen muss, auf all diese Verträge mit der EU.

Perfid ist es, wenn Blocher und Co. behaupten, das sei weiter nicht tragisch, weil man ja noch das Freihandelsabkommen aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit der damaligen EWG habe.

Perfid deshalb, weil es die EWG in der damaligen Form schon längst nicht mehr gibt. Das geht vom Geld bis hin zu detaillierten technischen Daten für Produktionen aller Art, das geht von Forschungszusammenarbeit bis hin zu Bildungsabschlüssen, das geht von der Verkehrsinfrastruktur bis ins längst lebensnotwendige alltägliche europäische Logistikwesen. Das geht vor allem wegen der veränderten Zuständigkeiten im Verhandeln von Wirtschaftsverträgen jeglicher Art zwischen einzelnen EU-Staaten und Dritten nicht mehr. Die Verhandlungen werden von der EU-Kommission im Auftrag des EU-Rates geführt. Und zustimmen muss, was beim Freihandelsabkommen noch nicht der Fall war, neben den 28 Mitgliedsstaaten-Parlamenten vor allem auch das EU-Parlament.

Die Einbildung, die EU werde der Schweiz schon entgegenkommen, wenn sie mit der Abmeldung drohe, ist nur eines: vollständig unrealistisch.

Es ist im Übrigen äusserst naiv anzunehmen, die EU würde den Austritt der Schweiz aus dem bilateralen Vertragswerk zwischen ihr und der EU – zustande gekommen vornehmlich auf Wunsch und wegen der Bedürfnisse der Schweiz – einfach so hinnehmen. Es ist naiv anzunehmen, dass für die EU das Freihandelsabkommen aus den Siebzigerjahren in diesem Zusammenhang tabu wäre. Neue Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz auch in diesem Bereich, also dem Handel, sind eher eine Wahrscheinlichkeit als keine. Und es gelten dann die Bedingungen, die damit zu tun haben, dass heute nicht eine EWG, auch nicht eine EG, sondern eine EU existiert.

Natürlich kann sich «die Schweiz» aus Europa abmelden. Die EU wird nicht in die Schweiz «einmarschieren», sollten sich Blocher und Co. mit ihren Abmeldungsplänen durchsetzen.

Die Einbildung allerdings – von Blocher und seinem neuen Hauptsprachrohr Köppel und von ein paar Bankern (etwa dem wegen seiner Überheblichkeit gegenüber der US-Justiz in den USA gefallenen ehemaligen Privatbankier Hummel, dessen Bank weggepustet worden ist, oder dem SVP-Nationalrat Matter) am laufenden Band in die Welt gesetzt –, man werde der Schweiz schon entgegenkommen, wenn sie mit der Abmeldung drohe, ist nur eines:
vollständig unrealistisch.

IV
Nun wird in der Schweiz gerne auf die innere Widersprüchlichkeit der EU oder auf deren angeblich existenzielle Krise hingewiesen. Man tut mit gut eingeübter Hochnäsigkeit gegen das angeblich junge, unreife, handkehrum aber auch bürokratisierte EU-Europa so, als ob die Zeitläufte sowieso gegen die EU gerichtet seien und man nur ein wenig abwarten müsse, bis das Gebilde auseinanderbreche. Dann aber habe man mit der «Willensnation» und ihrer «Souveränität» sowie der ewigen «Neutralität» in «Unabhängigkeit» (oder umgekehrt…) in der Schweiz die besten Karten, weil man dannzumal nicht, wie alle anderen in Europa, mit Trümmeraufräumen beschäftigt sei. Dazu passt dann der Rekurs auf Marignano oder auch auf den Wiener Kongress sowie, natürlich, auf die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts.

Allerdings passt das schweizerische 1847/48 nicht in dieses Denkmuster. Und genau das ist bezeichnend. Es geht den nationalistischen Rechten nicht um «Demokratie», schon gar nicht um «Rechtsstaat», sondern ersichtlich um ein Konstrukt, mit dessen Hilfe sie Macht ausüben können. «Demokratie» gilt nur für die «Einheimischen». Wer «einheimisch» ist, bestimmt die Volksmehrheit. Alles andere wird diesem Verständnis von Gesellschaft und deren Strukturen untergeordnet, namentlich das, was einen Rechtsstaat und seine Garantien für Individuen ausmacht.

Dies ist nicht nur das Programm der SVP.
Es ist auch das Programm des Front National.
Es ist das Programm der FPÖ, von Orban, vom Flämischen Block, von NPD und AfD und anderen SVP-verwandten Erscheinungen, etwa den Schwedendemokraten.
Nur:
Sogar in Österreich existiert eine Publizistik, welche diese Stracher-SVP-Hetzetüden deutlich und öffentlich hinterfragt, kritisiert, auf deren Gefährlichkeit für das Zusammenleben innerhalb kleinster Einheiten (Quartier, Dorf, Kanton oder Bundesland) verweist und darüber, wie sich viele dagegen wehren, berichtet.
Dasselbe gilt für Frankreich, für Belgien, für die Niederlande, sehr deutlich und klar auch für Deutschland.

Die «Liberalen» akzeptieren mit ihrer Vorstellung von einem «rechtsbürgerlichen» Bundesrat, dass die SVP die Grenzziehung zu rassistischen Hetzereien am laufenden Band überschreitet.

In der Schweiz aber scharwenzelt die sich selber als politischen Liberalismus bezeichnende Partei (FDP/die Liberalen) und das dieser Partei sehr nahestehende Intelligenzblatt NZZ mit den bigotten Rechtsnationalisten und xenophoben Hetzkampagnen-Machern herum und nennen als Ziel einen «mehrheitlich (rechts-)bürgerlichen Bundesrat».

Diese «Liberalen» akzeptieren mit ihrer Vorstellung von einem «rechtsbürgerlichen» Bundesrat, dass die SVP die Grenzziehung zu rassistischen und völkerrechtswidrigen Hetzereien am laufenden Band überschreitet. Sie akzeptieren, dass die politische Begrifflichkeit der Schweiz durch die Millionen aus dem Vermögen des SVP-Parteidominators Blocher, angeblich, um «das Volk» zu wecken, seit Jahrzehnten bewusst, geplant, werbetechnisch gekonnt verdorben wird. Sie akzeptieren eine Bundesratsmehrheit, welche von den Launen und den Machtgelüsten von Blocher und seinen Boys respektive seinem Geld abhängig sein wird, das heisst im Klartext: Gerade im Bereich der Bilateralen, die man angeblich «sichern» will, schlicht handlungsunfähig sein wird, wenn man denn die Fiktion des rechtsbürgerlichen Bundesratsmehrheit aufrechterhalten will.

Aussenpolitisch geht das natürlich gar nicht. Ich habe oben versucht, dies darzustellen.

Innenpolitisch geht es aber auch nicht, weil die SVP – nicht alle SVP-Politiker, aber sehr viele, vor allem jene, die der Partei seit langer Zeit einen Antirechtsstaats-Kurs aufzwingen – den Föderalismus, die bedeutendste Grundlage der modernen Schweiz, mit einer nationalistischen, einer typisch deutschschweizerischen «Mehrheitsideologie» über kurz oder lang vernichten würde, hätte sie die Macht dazu. Etwa in einem 4:3 Bundesrat, in welchem sie die FDP-Mitglieder laufend kujonieren würde mit der Drohung, man würde ansonsten wieder die Opposition aufnehmen.

Was Blocher unter «Opposition» versteht, sollte man nun allerdings langsam auch beim Freisinn, also bei der FDP/die Liberalen, gemerkt haben: Hetze. Übles Nachreden. Und womöglich, wenns dann so weit ist: Ausschaltung Andersdenkender.

V
Die Grössenordnungen in der engeren Welt, in der sich die Schweiz mittendrin befindet, also in Europa, sind immer wieder und werden auch in Zukunft immer wieder in Frage gestellt. Auch, weil Europa eben kein 1000-jähriges Einheitsreich ist, welches sich da auftut, sondern die heterogene Zusammensetzung von Menschen, Gesellschaften, Sprachen, Geschichten, auch der Wirtschaft, der Bildung, welche diesen kleinen, dichtbevölkerten Kontinent ausmacht. Nach dem ungeheuerlichen Zusammenbruch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte die Herausforderung, das langsame Verschwinden des Kontinents als dem einzigen machtbestimmenden globalen Faktor und seine Rückkehr quasi zu sich selber so zu gestalten, dass eine gewisse Friedfertigkeit herrscht, nicht Krieg, nicht Verderben.

Diesbezüglich ist man mal schneller, mal langsamer unterwegs.
Aber die Rückkehr zu 1000-Jahre-Machtansprüchen ist realistisch betrachtet unmöglich. Daran ändert auch ein Blocher nichts – er kann höchstens die Schweiz derart blockieren, dass sie schliesslich jegliche Selbstständigkeit verliert, weil sie keine Partnerschaften mehr findet.

VI
70 Prozent derjenigen nicht einmal 50 Prozent, welche als Berechtigte ihr Wahlrecht auch wahrgenommen haben, haben nicht SVP gewählt. Die SVP ist weit von einer Wählermehrheit entfernt. Natürlich ist sie für schweizerische Verhältnisse ziemlich erfolgreich.
Aber eben keine Mehrheit.

Die reale Mehrheit von 70 Prozent Wählerstimmen soll nun ausgerechnet durch jene Partei, der man die demokratische und die rechtsstaatlich organisierte Schweiz verdankt, mittels zweier Bundesräte zugunsten einer «rechtsbürgerlichen Mehrheit» in der Regierung an Blochers SVP ausgeliefert werden?

Ist das im Sinn dieser Mehrheit?
Ist das im Sinn des Rechtsstaates und des Wirtschafts- und Sozialstaates Schweiz?

Ist es nicht eher an der Zeit, sich mit den tatsächlichen Problemen, welche die Politik zu lösen hat, zu beschäftigen?
Etwa die Energiewende. Etwa die tatkräftige Mitarbeit an der Befriedung bürgerkriegszerstörter Länder. Etwa die aktive Mitarbeit in der EU. Ja, auch Letzteres. Vor allem Letzteres.
Das wäre unter anderem auch eine Anstrengung liberaler Politik für die Schweiz wert. Nicht neoliberales Geplänkel an der Seite von xenophoben Scheuklappen-Produzenten.

 

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