Hürlimann: Blocher lebt im Wahn des Diktators

Die «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP richtet sich nur rhetorisch gegen die ominösen «fremden Richter». Auch der viel beschworene «Mythos Schweiz» dient nur einem Zweck: der Isolation der Schweiz. Es ist die Rache des gestürzten Mächtigen.

(Bild: Keystone/Hans-Jörg Walter)

Die «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP richtet sich nur rhetorisch gegen die ominösen «fremden Richter». Auch der viel beschworene «Mythos Schweiz» dient nur einem Zweck: der Isolation der Schweiz. Es ist die Rache des gestürzten Mächtigen.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Grosse bleibt gross nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

(Bertolt Brecht, Das Lied von der Moldau)

Was will Blocher, was will die SVP mit ihrer neuesten Initiative eigentlich erreichen? Ihre seit Langem angekündigte Attacke gegen den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof passt nicht einmal in ihre eigene Parteigeschichte. Es war ein BGB-Bundesrat (Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei, Hauptvorgängerin der SVP), Friedrich Traugott Wahlen, der die Schweiz 1961 zum Eintritt in den Europarat führte. Damit verbunden war die schrittweise Anerkennung der Konventionen, welche bei diesem Eintritt bereits völkerrechtlichen Status hatten, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950.

I

Mit dem Eintritt als Vollmitglied in den Europarat war selbstverständlich die Anerkennung der Verfahrensweisen verbunden, welche bei späteren Konventionen, die nebenbei gesagt immer unter Mitwirkung der Schweiz entstanden sind, zur Anwendung gelangten. Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Bestandteil der schweizerischen Gerichtsstruktur. Die Richter dieses Gerichtshofes sind deshalb keineswegs «fremde», sondern für gewisse Verfahrensweisen vorgesehene Richter innerhalb des schweizerischen Rechtssystems.

Massgebend für die gerichtliche Beurteilung zum Beispiel von Menschenrechtsverletzungen ist im übrigen der folgende Artikel der Schweizerischen Bundesverfassung:

Art. 190 Massgebendes Recht
Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.

In der Schweizerischen Bundesverfassung ist mit dem Artikel 190 also exakt formuliert, was Behörden in ihrem Handeln berücksichtigen müssen: Bundesgesetze und Völkerrecht.

Völkerrecht meint alle durch die Schweiz ratifizierten Konventionen, unter anderen die Europäische Menschenrechtskonvention samt ihrer unabhängigen gerichtlichen Instanz, aber zum Beispiel auch die europäische Sozialcharta und anderes, was seit dem Wirken des damaligen schweizerischen Aussenministers, Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen, ab 1963 an völkerrechtlichen Verbindlichkeiten durch die Schweiz ratifiziert worden ist.

Rechtsanwendende Behörden sind nicht nur Gerichte, sondern auch die Gemeindeversammlungen, die Parlamente von Gemeinden, Kantonen und dem Bund. Rechtsanwendende Behörden sind Gemeinderäte, Gemeindepräsidentinnen, Regierungs- und Bundesratsmitglieder, Staatsanwälte, Untersuchungs- und Straf- wie auch Zivilrechtsrichter und Schwurgerichte.

Die Anwendung des Rechts in der Schweiz beinhaltet laut Bundesverfassung folglich die Anwendung des Völkerrechts dort, wo es durch politisches, juristisches oder verwaltungsbestimmtes Handeln berührt wird.

Eine knappe Zusammenfassung des Verhältnisses der Schweiz zu den Strukturen der Europäischen Menschenrechtskonvention erhält man hier:

1. http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/europarat/nicht-ratifiziert/zusatzprotokoll-emrk-schweiz-ratifziert
2. http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20131039
3. http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/europarat/zp-emrk/

Natürlich kann «die Schweiz» von ihr ratifizierte Konventionen und international geltende Rechtskonstrukte «kündigen».
Blocher und seine Adlaten behaupten, mit der Kündigung beispielsweise des Schengen-Abkommens oder der Bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, mit der Inkaufnahme der Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention und so weiter würde «die Schweiz» wieder ihre volle Souveränität erreichen.

Mit anderen Worten: Man wäre, wird behauptet, dann «wieder» alleiniger Herr im eigenen Haus. Die völkerrechtlichen Konventionen werden entweder als lästige Einmischung von aussen hingestellt oder als Diktat «fremder Richter» abgetan.

Mit der kürzlich vorgestellten Volksinitiative über den Vorrang des «inländischen Rechts» vor «internationalem Recht», sofern es nicht «zwingendes Völkerrecht» sei, versucht Blocher seiner seit Jahren inszenierten Rechthaberei gegen die Politik der anderen (gemeint sind damit alle anderen politischen Parteien und Bewegungen in der Schweiz ausser der SVP), quasi eine Krone aufzusetzen.

Wo «fremde Richter» walten

Die Auseinandersetzung über diese Initiative wird sich zuerst um Begriffe drehen. Der erste Begriff, den Blocher seit Jahren im Munde führt: «Fremde Richter». Deshalb die Frage: In welchen Fällen existiert eine für die Schweiz verbindliche Rechtssprechung durch Richter, welche ausserhalb der Schweiz, der «Rechtssouveränität» des Landes übergeordnet, Recht sprechen?

Es handelt sich um folgende institutionalisierte Schieds- und Gerichtshöfe mit supranationaler Autorität:

  • Das Ständige Schiedsgericht in Den Haag, welches als Schiedsgericht zwischen Staaten funktioniert, welche dieses Gericht als solches anerkennen (dazu gehört die Schweiz) und anrufen, um Streitigkeiten zwischen ihnen, den anrufenden Staaten, zu schlichten.
  • Den Internationalen Strafgerichtshof, Den Haag, welcher Verbrechen für Taten gegen die Menschlichkeit beurteilt, welche die UN-Menschenrechtscharta definiert, sowie Verbrechen gegen die in den Genfer Konventionen umschriebenen «Kriegs»-Rechte für die Staaten, welche dieses Gericht anerkennen (die USA anerkennt es zum Beispiel nicht). Der Gerichtshof verhandelt gegen Individuen, welche im Namen eines Staates oder einer Kriegsorganisation Verbrechen begangen haben, die durch den UN-Sicherheitsrat zur Anklage vor dem Gerichtshof gebracht werden.
  • Den Internationalen Gerichtshof, ebenfalls in Den Haag angesiedelt.
  • Sowie den Europäischen Menschengerichtshof in Strassburg.

Blocher geht es laut seinen eigenen Reden und Absichtserklärungen in erster Linie um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieses Gericht hat einige Male schweizerische Gerichtsurteile aufgehoben. Dabei handelte es sich sowohl um rechtsinstitutionelle als auch um individuelle Angelegenheiten.

Klar: Die Strassburger Richter beurteilen unter anderem Urteile letztinstanzlicher nationaler Gerichtsverfahren, welche zum Weiterzug an den Menschengerichtshof anerkannt worden sind. Sie urteilen auf Grund der Europäischen Menschenrechtskonvention. Einige schweizerische Rechtsinstanzstrukturen – gerade auch im Bereich der Strafuntersuchungsbehörden – mussten deshalb in vielen Kantonen der Schweiz innerhalb der letzten Jahrzehnte der Europäischen Menschenrechtskonvention angepasst werden – genau so, wie das auch in Frankreich, in Deutschland, in den skandinavischen Ländern usw. der Fall war. Das, ist erst einmal anzunehmen, passt Blocher nicht. 

Völkerrecht ist Völkerrecht. Da gibt es keine qualitativen oder gar quantitativen Unterschiede.

Die ganze Problematik, die Blocher und die SVP mit ihrer Initiative gegen angeblich «fremde Richter» anrichten, soll mit dem Hinweis, dass «zwingendes Völkerrecht» ausgenommen sei, verharmlost werden.

Was aber heisst «zwingendes Völkerrecht»?
Der Begriff existiert bloss bei der SVP – und bei einschlägigen rechtsextremen und rechtspopulistischen Kreisen in den USA und Europa.

Völkerrecht ist Völkerrecht – die Konventionen und Staatsverträge, welche dieses Recht ausmachen, sind alle zwingend, das heisst: für Signaturstaaten schlicht und einfach bindend. Hat eine Ratifizierung einer Konvention stattgefunden, schliesst sich der Staat den Rechtsinhalten der ratifizierten Konvention an. Da gibt es keine qualitativen oder gar quantitativen Unterschiede.

Angesichts solch medial inszenierter Begriffsverwirrung und angesichts der Tatsache, dass Blocher internationalem Rechtsgut in der Schweiz die Wirkungsberechtigung abspricht, lautet die Frage: Was will Blocher eigentlich mit seiner PR-Geschichte namens «keine fremden Richter» erreichen?

II

Eine Vermutung ist durchaus realitätsbezogen: Seit Jahrzehnten wird man in der Schweiz mit der durch Blocher wesentlich finanzierten Hetze gegen politische Gegner und gegen «Ausländer» konfrontiert (ersichtlich beispielsweise in der grafischen Gestaltung der SVP-Plakate zu entsprechenden Volksabstimmungen).

Das kollidiert hie und da mit dem Schutz vor hetzerischer Beschimpfung und rassistischer Verfolgung, welche die Europäische Menschenrechtskonvention jedem Individuum in den Mitgliedsstaaten der Konvention garantiert. Diese Kollisionsgefahr wird dabei seit mehr als 25 Jahren durch die PR der Blocher-SVP gut erkennbar nachgerade gesucht, um dann die angeblich beschränkte «Meinungsfreiheit» oder die durch «Strassburger Richterzensur» verhinderte «Meinungsäusserungsfreiheit» als Zensurgestus anprangern zu können. Wobei diese Freiheit für Verleumdung, für reine Hetze, für radikalverbale Bedrohungen von Individuen und Menschengruppen reklamiert wird. Es geht dabei immer um ein angebliches «Recht» auf die Leugnung des Holocausts oder anderer gezielter Völkermorde, um rassistische Attacken und um schlichte Geschichtsfälschungen sowie um das Recht, «Anti»-Stimmungen gegen «Feinde» der eigenen «Nation» auf der Grundlage von Lügen oder unstatthaften Übertreibungen zu erzeugen.

Nicht verhindert wird durch die Existenz der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren gerichtliche Vollzugsbehörde die rechtsextrem-rassistisch aufgebaute Hetzkampagnenpolitik, weder in Österreich, in Italien, in Frankreich, noch in der Schweiz. Aber sie stösst hie und da an jene Grenze, welche unter anderem der Menschengerichtshof in Strassburg immer wieder gegen willkürliches Beliebigkeitsrecht durchsetzt. Das hat insbesondere dort Auswirkungen, wo es um die Verfolgung von Minderheiten durch staatliche Instanzen oder politische Willkür jeglicher Gestalt geht. Der menschenrechtliche Prozess in Europa ist kompliziert, er ist langsam, aber er wirkt. Er wirkt nicht zuletzt dadurch, dass seine Prozesse und Urteilsverkündungen zu vielerlei Diskussionen über das Recht und seine Charaktere führen.

Widerspruch ist Herrenbeleidigung

Blocher postuliert einen «Herr im Haus»-Standpunkt als alleinige Grundlage der «Souveränität des Landes». In seinem Machtgebäude der SVP, ist er selbstredend Herr im Haus. Genau so, wie er der Herr in den von ihm mindestens stark mitkonzipierten Unternehmens- und Hedgefondskonstruktionen war (u.a. Pharmavision).

Widerspruch war da nicht vorgesehen. Genauer und bis heute geltend: Widerspruch ist Herrenbeleidigung und muss geahndet werden.

Die Wahl Blochers – durchaus mit ziemlich erpresserischen Mitteln vor allem dem Freisinn abgepresst – in den Bundesrat schien dann die Krönung einzuleiten, nämlich die Wahl als schweizerischen Bundespräsidenten ein paar Jahre später. 

Nach vier Jahren von Blocher im Bundesrat lag allerdings keineswegs eine beeindruckende «Bilanz» vor, sondern vor allem ein Katalog von oft ziemlich durchsichtigen Schlüpfereien gegen die «Political Correctness» und gegen das Asylrecht. So kam es zum Beispiel zu jener ausgerechnet vom Vorsteher des Eidgenössischen Justizdepartements in Ankara lautstark vorgetragenen Kritik am Antirassismusartikel im schweizerischen Strafrecht. Angeblich werde damit die Ehre der Türkei beleidigt (in der Verurteilung wegen des Völkermords an den Armeniern):

«Justizminister Christoph Blocher hat aus Rücksicht auf seine Gastgeber in Ankara die Anti-Rassismus-Strafnorm in Frage gestellt. In der Schweiz hagelte es scharfe Kritik. Ankara/Flims. – Christoph Blocher hat bei seinem Türkei-Besuch Verständnis für die türkische Kritik an der Schweizer Haltung zur Armenierfrage geäussert. Er kritisierte die Strafverfahren, die in der Schweiz gegen zwei prominente Türken laufen, welche den Völkermord an den Armeniern leugnen. Blocher kündigte an, er lasse eine Änderung der Anti-Rassismus-Strafnorm prüfen, die das Leugnen von Völkermord verbietet.»

(Quelle: Tages-Anzeiger, 5.10.2006, Seite 1/ über: www.humanrights.ch, PDF-Link)

In der Folge solcher «Ausrutscher», welche allerdings bis in die Details inszeniert waren, um dem Stammtisch und dessen Peinlichkeiten quasi höhere, «bundesrätliche» Weihen zu verleihen, mit dem Ziel, die «Normalität» des Stammtisches, der «Buurezmorge» von einst und dem ständig aufgezogenen Trachtenkitsch zu erzeugen, versuchte die SVP 2007 so etwas wie eine irreversible Legitimitätsgrösse für ihren Führer als dem einzigen «Volksbundesrat» zu erreichen. Das gelang dann aber keineswegs in dem Ausmass, wie es wohl gedacht und geplant war – und vor allem zur personellen Durchsetzung in der Bundesversammlung notwendig gewesen wäre. Als Folge wurde Blocher aus dem Bundesrat abgewählt.

Was danach und bis heute die schweizerische Politik massiv belastet, ist der Rachefeldzug des Nicht-Mehr-Wiedergewählten.

Der gescheiterte Sturm auf den Ständerat

Vor vier Jahren sollte auf Grund der «Analyse» und der Planung des Chefstrategen der SVP «der Ständerat» in die Hand der «grössten Partei» kommen. Blocher kandidierte im Kanton Zürich für den Ständerat. Brunner, der Parteipräsident im Kanton St. Gallen, Baader, der Fraktionspräsident im Nationalrat, Kanton Basel-Landschaft, Giezendanner, der Lastwägeler, im Kanton Aargau und Amstutz, eben erst mit einiger Mühe im Ständerat gelandet, im Kanton Bern.

Bei all diesen Majoritätswahlen wurden die genannten Herren, also die Spitze der Partei, nicht oder nicht wieder gewählt. Es ist durchaus am Platz, an dieses Wahldesaster zu erinnern, weil es nämlich eng mit dem Begriff «Volk» verbunden ist. Blochers «Volk» hat die angeblich volksnahen Herren allesamt nicht gewählt. Und zwar in Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht!

Es war nach diesem Wahlergebnis klar, dass weder der National- noch der Ständerat eine Bühne für folgenreiche populistische Auftritte mit «Nachrichtenwert» in den schweizerischen Medien darstellen würde. Bezeichnenderweise trat Blocher vor einigen Monaten auch aus dem Nationalrat zurück. Begründet hat er diesen Rücktritt mit der Bemerkung, das Parlament sei als Beschäftigungsprogramm für Politiker: «Zeitverschwendung!», «verbürokratisiert und überadministriert!», «viel schlimmer als früher!» Es gebe fast nur noch Berufspolitiker, welche Sitzungen zu irrelevanten Fragen abhalten. Wegen der Sitzungsgelder natürlich. (Quelle: «Blick»)

Mit offensichtlich ziemlich unbeschränkt zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln im Rücken befiehlt der «Chefstratege» der Partei, den Rechtsstaat Schweiz auszuhöhlen und die Vertragsverlässlichkeit des Staates Schweiz im internationalen Rechtssystem ad absurdum zu führen.

Blocher führt sich inzwischen so auf, als sei er die Person, an der weder die schweizerische Politik in ihrer Gesamtheit, noch zum Beispiel der schweizerische Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb, an der weder die schweizerische Nationalbank, noch die EU oder die UNO vorbeikomme. Er definiert, was «die Schweiz» ist. Alle, welche seine Definitionen nicht teilen, sind unschweizerisch, sind Verräter am Mythos Schweiz, sind EU-hörig und so weiter.

Ein Beispiel, wiederum aus dem «Blick»:

«Wenn man die Schweiz nicht ernst nimmt, sie entmystifiziert, ihre Geschichte entstellt und sagt, die Schweiz ist eigentlich gar nichts Rechtes gewesen, will man die Nation wegputzen. So kann man die Schweiz schneller Richtung EU auflösen.»

Und:

«Wenn man die Staatssäulen aufrechterhalten will, kann man nicht in die EU. Ich fordere Maissen auf, dies mit uns öffentlich zu diskutieren. Es ist ein Leichtes, ein Buch zu schreiben, ohne sich der Gegenseite stellen zu müssen.»

Wen fordert Blocher zur öffentlichen Diskussion auf?

Der Schweizer Thomas Maissen, 52, studierte Geschichte, Latein und Philosophie in Basel sowie in Rom und Genf. Er ist Professor für neuere Geschichte und leitet seit 2013 als erster Nicht-Deutscher das Deutsche Historische Institut Paris. Davor lehrte er an den Universitäten Heidelberg und Luzern, zudem war er Mitarbeiter der NZZ für historische Analysen. Maissen hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderen «Geschichte der Schweiz». (Quelle: NZZ)

Konkreter Anlass für die «Blick»-Vorlage von Blocher dürfte ein Artikel Maissens sein, publiziert in der «NZZ am Sonntag» vom 16.3.2015. Maissen weist in diesem Text auf die Unwahrheiten, Erfindungen und Beweihräucherungen hin, welche im Zusammenhang mit Begriffen wie «Rütli», «Bund der Eidgenossen» oder «Neutralität» sowie dem angeblichen «Volk von Brüdern» als «Geschichte» oder eben als «Mythos» namens Schweiz beschworen werden. Titel des Textes: «Rückwärts in die Zukunft».

III

Blocher richtet an die Adresse von Maissen den bemerkenswerten Satz: «Es ist ein Leichtes, ein Buch zu schreiben, ohne sich der Gegenseite stellen zu müssen.» Der Satz hat aber erst einmal weder mit Maissens Text in der «NZZ am Sonntag» zu tun noch mit irgendeinem von Maissens umfangreichen wissenschaftlich-publizistischen Werken, etwa seiner «Geburt der Republik» oder seiner «Die Geschichte der Schweiz» sowie «Schweizer Geschichte im Bild».

Eine wissenschaftliche Abklärung historischer Faktenlagen ist laut Blocher «ein Leichtes». Was Blocher als sein Selbstverständnis mit so einem Satz preisgibt: Er behauptet mit diesem Satz nichts weniger, als dass er derjenige sei, an dem man sich messen müsse, wenn man über die Geschichte der Schweiz publiziere. Dabei muss er – in seinem Verständnis und im publizistischen Geschwätz seiner «intellektuellen» Adlaten (Mörgeli, Somm, Köppel usw.) – der Träger der einzigen «Wahrheit» über den Mythos Schweiz, natürlich weder forschen noch forschen lassen. Nein. Er weiss es.

Das Einzige, was er machen lässt, bevor er zum Beispiel irgendwelche «Persönlichkeiten» in Vorträgen auf seine «Linie» herunterlädt, ist eine Art von Wikipedia-Kurzfassung über komplexe Persönlichkeits- oder Zeitgeschichtsumstände. Ansonsten genügt ihm seit jeher seine innere Zwiesprache mit dem Mythos namens Schweiz. Allenfalls braucht er natürlich noch ein paar PR-Standards, die man ihm vorformulieren muss. Also beschäftigt er Stichwortgeber, damit er dann lautstark und völlig unsachlich – das heisst fern jeglicher nachzuweisenden Sachlage – die «Gegner» seiner «Wahrheit» öffentlich in den Senkel stellen kann. Selbstredend zum Gaudi seiner peinlich unwissenden Zuhörerschaft, die sich auf ihre Bildungsferne erst noch was einbildet!

Diese Person soll die Zukunft der Schweiz bestimmen? Dieser Person soll es möglich sein, die Schweiz aus dem internationalen Rechtsverbund, genannt Völkerrecht, herauzuzerren? Diese Person soll bestimmen, was in 10 oder in 20 Jahren aussenpolitisch oder eben auch aussenrechtspolitisch für die Schweiz gelten soll? Und zwar ungeachtet irgend einer aktuellen oder auch akuten Situation, national wie international?

Es ist die Rache des gestürzten Mächtigen, der Wahn eines Diktators.

Blocher will mit seinen Verfassungs-Initiativen weit über seine Lebenszeit hinaus festschreiben, wie die Schweiz im Innern (Migration) wie auch nach aussen (europäische Integration) politisch handeln muss.

Er will die Isolation der Schweiz. Was auch bedeutet: Er zwingt die Schweizerinnen und Schweizer, wenn sie ihm denn mehrheitlich folgen sollten, in die von ihm ausdefinierte Isolation. Was nichts anderes als ein Apartheidsystem bedeutet: Hier die «weissen» Schweizerinnen und Schweizer. Dort, ausserhalb, benutzbar, aber nicht mit Rechten menschenrechtlicher Grössenordnung versehen, die «Anderen», die «Fremden». Es ist die Rache des gestürzten Mächtigen, welche die Kinder und die Kindeskinder auszutragen haben werden. Das ist, mit Verlaub sei es erwähnt, der Wahn eines Diktators.

Will «man» das ?

Will man nicht endlich, und vielleicht doch noch rechtzeitig, diesem rechtszerstörerischen Tun insofern ein Ende bereiten, als man Blocher und die SVP auf Bundesebene über alle «Gräben» hinweg, aber im Interesse rechtsstaatlicher und demokratischer Prozessfreiheit stoppt? Man stoppt ihn unter anderem dadurch, dass man Initiativtexte, welche eindeutig gegen die Bundesverfassung und gegen die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz (Vertragstreue) gerichtet sind, als das erklärt, was sie sind: Im Verständnis der geltenden Bundesverfassung einfach verfassungswidrig.

«Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.»

(Bertolt Brecht, Das Lied von der Moldau)

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