Es geht nicht darum, dass wir Flüchtlingen aus Syrien aus dem guten Herz heraus helfen, weil sie «Menschen wie wir» sind, sondern um einen nüchternen Umgang mit einer dramatischen Situation. Alois-Karl Hürlimann über humanitäre Pflicht und Kriegsgeschrei.
I
In seiner Kolumne in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» vom 8.11.2015 schrieb der Philosoph Slavoj Žižek unter dem Titel «Wie geht es Ihnen heute?» (online nicht verfügbar) mit Blick auf die Flüchtlingswelle unter anderem das Folgende:
«Wir sollten dem Drang widerstehen, unsere Nächsten kennen zu lernen und zu verstehen. Was ist, wenn sich herausstellt, dass sie mehr oder weniger sind wie wir, ungeduldig und gewalttätig, fordernd und zumeist Teil einer Kultur, die vieles nicht akzeptieren kann, was wir für selbstverständlich erachten? Man sollte den Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und humaner Empathie durchtrennen. Wir sollten helfen, weil es unsere Pflicht ist, ohne Sentimentalität, die in dem Moment zusammenbricht, wenn wir begreifen, dass die meisten Flüchtlinge eben nicht “Menschen wie wir“ sind (nicht, weil sie Ausländer sind, sondern weil wir auch nicht Menschen wie wir sind).»
Beim Erstlesen haben mich diese Sätze irritiert. Nach einigem Nachdenken begriff ich – glaube ich – Žižeks Forderung als eine nach Nüchternheit. Pflichterfüllung ist vor allem in der additiv fortscheitenden Zeit eines Lebenslaufs meistens eine nüchterne Angelegenheit. Man erfüllt alltäglich die Aufgaben, die einem gestellt sind. Man erfindet nicht am laufenden Band ein neues Alltagsleben. Arbeits- und Freizeitabläufe erhalten mit zunehmender Lebenszeit ihre individuellen, manchmal auch ihre sozialen Charakteristiken.
Wie soll man mit Flüchtlingsmassen umgehen?
Der Philosoph Slavoj Žižek schrieb, dass wir helfen sollten, weil es unsere Pflicht sei. Aber wir sollten uns vor Sentimentalität hüten. Dann geschahen die Terrorattentate von Paris. Nun ist die Flüchtlingsproblematik zusätzlich belastet. Viele Medien und zahlreiche Politikerinnen und Politiker unterstellen jenen, welche Flüchtlinge in Europa nach wie vor vorübergehend aufnehmen wollen – weil es anders nicht gehe – , die sträfliche Vernachlässigung der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Es wird von Krieg, von Sarkozy sogar vom «totalen Krieg» geredet. Notwendig aber ist vor allem eines: Nüchternheit.
Hie und da stehen individuelle und soziale Charakteristiken miteinander im Streit. Konfliktlösungen sind erfahrungsgemäss dann am erfolgreichsten, wenn zusätzlich zu den Streitpunkten nicht allzu viele moralische Ansprüche, Glaubensbekenntnisse, Ideologien – und unter denen namentlich Religiöses – in den Konfliktlösungsprozess hineingepackt werden. Natürlich sind die dann gefundenen Lösungen nicht von ewigem Wert. Aber sie können eine martialisch glänzende Situation mit Helden, Getöteten (im konkreten und in vielen übertragenen Wortbedeutungen) und vielen Verletzungen auf allen beteiligten Seiten vorerst einmal stoppen.
Im Bereich militärischer Abläufe spricht man diesbezüglich von «Waffenstillstand». Solche Stillstände mögen diffus erscheinen. Sie kennen vorderhand keinen Sieger. Gewollte Stillstände aber bringen Lebensrettung, bringen Zeit für weitere Lösungssuche. Stillstände können den Raum für das Sprechen und für die Sprache im Sinn der Kommunikation öffnen.
Der Mensch als Gleichheit in endgültig definierter Konformität existiert nicht und nirgendwo.
In diesem Zusammenhang sollte man in Europa nebst zahlreichen Wanderungsmobilitätserscheinungen von jährlich Hunderttausenden Menschen etwa innerhalb der EU oder innerhalb des Schengenraums auch die gegenwärtige Fluchtbewegung aus Syrien und aus Libyen in den Norden behandeln.
Vernunft bedeutet in diesem Zusammenhang, nicht so zu tun, als seien Syrerinnen oder Syrer ein Mensch: die Syrerin, der Syrer. Den als Typ eindeutig definierten Menschen als gleichförmiges Wesen, als gegebene oder auf ein bestimmtes geografisches Gebiet eingegrenzte «Normalität» ohne Abweichung gibt es nicht. Der Mensch als Gleichheit in endgültig definierter Konformität eines Landes, und dies Zeit seines Lebens darin eingesperrt – erst noch oft nur in der männlichen Form singular angewandt (der Muslim, der Russe, der Ami … oder, vor nicht allzu langer Zeit mit grauenhaften Folgen: der Jude) – existiert nicht und nirgendwo. Auch nicht als Masse, in der es nur eine – also keine – Individualität geben würde.
Syrerinnen und Syrer sind Individuen. Schweizerinnen und Schweizer sind genau so wie Syrierinnen und Syrer Individuen. Niemand ist «gleich». Das Wort von «Menschen wie wir» ist in Konfliktsituationen bereits für kleinste Abweichung von der Norm (also von «wir» ein äusserst bedrohlicher Begriff. Er beinhaltet Automatismen, sehr präsent unter anderem als «meine» Erwartung, dass, wenn jemand ein «Mensch wie wir» ist, seine oder ihre Individualität, Sprache, Hautfarbe oder seine oder ihre «Kultur» «gleich» sein muss wie «unsere» Individualität, unsere Sprache, unsere Hautfarbe, was natürlich immer meint: Meine Hautfarbe, meine individuelle Geschichte, meine (hausgemachte) Ideologie.
Eine Gesellschaft ist kein Individuum.
Auch Organisationen – zum Beispiel die hauptsächlichen Kommunikationsmittel wie Sprache und Mobilität, zum Beispiel der Staat, zum Beispiel eine Religion, zum Beispiel ein Industrieunternehmen oder eine Bank – sind keine Individuen.
Andersherum:
Ein Individuum ist nicht «die» Gesellschaft, ist nicht «der Staat», ist nicht VW oder UBS, sondern eine einzelne Person – die vielleicht in der Schweiz geboren worden ist, die vielleicht zum reformierten Christen getauft worden ist, die vielleicht bei der UBS an einem Schreibtisch sitzt und dort ihr Geld zum Leben verdient.
Genauso gut kann diese einzelne Person in Syrien geboren worden sein. Sie ist vielleicht alawitisch oder schiitisch religiös erzogen worden, vielleicht ist sie beim syrischen Staat als Lehrerin oder bei einer Sparkasse in Aleppo als Manager tätig. Im Unterschied zum Individuum, welches zur Zeit in der Schweiz lebt, muss das Individuum, welches in den letzten vier Jahren in Syrien gelebt hatte, vor dem Bürgerkrieg, vor Mord, vor Vergewaltigung und der Tötung des zivilen Lebens fliehen.
Das in der Schweiz lebende Individuum, es kann das schweizerische Bürgerrecht haben, muss dies aber nicht, lebt in einer Gesellschaft ohne Krieg innerhalb ihres Staatsgebiets. Es muss nicht fliehen, um am Leben bleiben zu können.
II
Žižek hat seinen kleinen Text unter dem Titel «Wie geht es Ihnen heute?» vor dem 13. November 2015 geschrieben. Noch waren 130 später an verschiedenen Orten in Paris ermordete Menschen, welche an jenem Freitag wie Zehntausende in der Stadt unterwegs waren, von Todesgefahren, ja von Todesnähe unbehelligt am Leben. Es existierte für sie kein erkennbares Risiko, ihren abendlichen Ausgang nicht zu überleben.
Die Mörder, islamistische Terroristen, handelten heimtückisch. Sie töteten Menschen, über die sie nachweislich nichts wussten. Sie töteten nicht, weil sie sich hätten verteidigen müssen. Sie hatten keinen Feind, der ihnen mit dem Tod gedroht hätte. Ihr Feind, sofern es einen solchen überhaupt hätte geben können, war – und ist – ein Phantom, welches aus Zuschreibungen und Behauptungen besteht.
Diese beinhalten ideologisch-religiösen Dogmatikunsinn. Unsinn, der durch Prediger und durch «Führer» mit konkreten Machtansprüchen über «die Menschheit» mithilfe zahlreicher Utensilien der gegenwärtigen Kommunikationstechnik auf eine verbrecherische Vollzugsebene gezoomt wird. Unsinn heisst hier nicht, dass die Mordtaten in irgendeiner Art verharmlost werden.
Wer sich als terroristisch handelnder Mörder benimmt, hat keinen Anspruch auf komplizierte oder historisch verästelnde Erklärungsversuche.
Die Anwendung dieses Wortes im Kontext des 13. November 2015 bedeutet für mich: Es gibt für die mörderischen Folgen dieses dogmatischen Giftes, welches sich im Netz vor allem auf den Koran bezieht, keinerlei Rechtfertigung. Man muss dafür auch keine «erfinden» oder haarspalterisch zusammensuchen. Wer sich derart als terroristisch handelnder Mörder benimmt und sich nach seinen Taten aus seinem eigenen Leben hinausbombt, hat auf einer vernünftig gehandhabten politischen Ebene, und zwar auch auf einer gegenüber staatlicher oder wirtschaftlicher Unterdrückung und totalitären Machtansprüchen von Regierungen, Diktaturen, Armeen sehr kritischen Ebene, keinen Anspruch auf komplizierte oder historisch verästelnde Erklärungsversuche.
Eine andere Ebene, die rechtsstaatliche, muss anderen prozessualen Bedingungen folgen:
Überlebt ein Terrorist oder eine Terroristin seine respektive ihre mörderische Aktivität, hat eine solche Person in einem Rechtsstaat Anspruch auf ein faires Strafgerichtsverfahren, also auch auf eine Verteidigung.
Man sollte diese beiden Ebenen nicht durcheinanderbringen. Man sollte sie auch nicht gegeneinander ausspielen. Etwa, indem man als Staat erklärt, weil terroristische Aktivitäten verbrecherisch seien, dürfe man als Staat seinerseits zu Mitteln ausserhalb des eigenen staatlichen Rechts greifen, also etwa zu «gezielten Tötungen» wie Mord mittels Kampfdrohnen. Dafür gibt es in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat im Westen normalerweise keine institutionell abrufbare Erlaubnis.
Die Frage lautet: Zwischen wem herrscht Kriegszustand?
Nun greifen französische Politiker und solche in Europa und in Nordamerika zum Begriff «Krieg». Nicht zum ersten Mal in Bezug auf den – sich selbst so ernannten – islamistischen Terror. Aber dieses Mal in einem Kontext namens «Bürgerkrieg in Syrien» und «IS».
Man sagt zum Beispiel, dass der IS als Terrorgruppe Krieg gegen Europa oder gegen «den Westen» führe. Also herrsche sui generis Kriegszustand. Die Frage lautet dann allerdings: Zwischen wem herrscht Kriegszustand?
Hollande, Putin, Obama und Merkel sagen: Der Krieg wird vom IS gegen den Rest der Welt geführt.
Erdogan und die saudische Prinzengarde erklären vor allem Assad und «die» Kurden zu Kriegsverursachern und Kriegstreibern. Obama wiederum hat als Ziel unter anderem den Sturz des Assad-Regimes verkündet. Von den übrigen am Bürgerkrieg in Syrien Beteiligten spricht man, wenn man überhaupt von ihnen spricht, von «Rebellen» (gegen wen?) oder von der «syrischen Opposition». Dass diese Gruppierungen genau so Mord, Vergewaltigung, Zerstörung betreiben wie der IS und das syrische Militär, wird der Einfachheit halber nicht wahrgenommen und schon gar nicht in das Gewaltbild namens Syrien aufgenommen.
Fakt ist: Der Krieg existiert.
Man weiss das. Seine Existenz bringt Tod. Über 250’000 getötete Zivilpersonen (eine vorsichtige Schätzung) innert vier Jahren Bürgerkrieg. Über vier Millionen Menschen sind aus Syrien geflohen, weil sie überleben wollten. Millionen Menschen versuchen, innerhalb Syriens den Mördern auszuweichen.
Ein Desaster, wenn man den einfachsten humanen Massstab anlegt, nämlich denjenigen, dass jeder Mensch das Recht auf sein Leben hat.
Solche Massstäbe aber interessieren gewisse Politiker in europäischen Ländern, welche unbedingt an die Macht kommen möchten, überhaupt nicht. Da wird der Terror in Paris sofort mit der Flüchtlingsproblematik verbunden. Erst einmal bloss rhetorisch. Es wird unterstellt, dass unter den Flüchtlingen zahlreiche Terroristen sind, die als «Schläfer» (Bundesrat Maurer) auf die Stunde ihres Einsatzes warten.
Der ehemalige französische Präsident Sarkozy ging noch weiter und erklärte: «La guerre que nous devons livrer doit être totale».
So weit in der Begrifflichkeit der Beschreibung einer Situation von Mord und Terror gingen weder Präsident Hollande noch der sozialistische Ministerpräsident Vals, aber auch nicht Frau Le Pen, die Vorsitzende des Front National. Klar wurde durch die Verwendung der Vokabel vom «totalen Krieg» Sarkozys Absicht, Wahlkampf zu betreiben. Wahlkampf auf Kosten vieler trauernder Angehöriger von Getöteten, von zahlreichen rechtschaffenen muslimische Bürgerinnen und Bürgern Frankreichs, auf Kosten der polizeilich, strafrechtlich, politisch Handelnden in Frankreich, welche persönlich komplexen und auch nervenaufreibenden Herausforderungen ausgesetzt sind, die ihre ganze psychische wie physische Kraft absorbieren dürften.
III
Sarkozy zeigt, gezielt geplant, ein typisches politisches Propagandaverhalten:
Er zielt auf Hass anstatt auf Lösung.
Genauer:
Er inszeniert sich als Superman. Erkennbar ist, dass hinter seiner Wortwahl Medienberater, also professionelle Sprachverführer stehen. Diese Crew, der Sarkozy nicht zum ersten Mal blindlings und in gestanztem Sprechvortrag folgt, mag etwas von augenblicklicher Nachrichtenmarktbeherrschung verstehen.
Sie unterstellt, dass dieser Terrorakt, ein eigentlich ziemlich unvergleichlicher (die einzigen Vergleiche in der westlichen Welt nach 1989: 9/11, Madrid und London) ihrem Chef Sarkozy zur erneuten Wahl ins Präsidentenamt verhelfen könnte. Also raten sie ihm, in der bodenlosen Übertreibung verbal noch weiter zu gehen als das, was sich zum Beispiel Frau Le Pen gerade noch erlauben könnte, damit sie vor den nächsten Präsidentenwahlen nicht aus Abschied und Traktanden fällt.
Er, Sarkozy, kann sich erlauben, auf «die» Muslime loszugehen, sie unter den Generalverdacht der Untreue zu Frankreich, ja als Drahtzieher en masse für die Ermordung von Franzosen zu stellen. Frau Le Pen aber muss sich bemühen, diesen Untreuevorwurf bloss auf muslimische Individuen zu richten, sonst würden sie und der FN sofort unter den Rassismusverdacht gestellt. Sarkozy darf rassistisch hetzen, Le Pen kann es nicht, will sie als Kandidatin für das Präsidentenamt ernst genommen werden.
In Deutschland operieren sowohl die CSU als auch die AfD mit ähnlichen Anspielungen auf «die Muslime» gegen «Flüchtlinge». In der Schweiz ist solcherlei längst weit über die SVP hinausgewachsen.
Der Begriff «Flüchtling» wird zum Popanz.
Diesen Popanz, von zahlreichen Chefredaktoren, Kolumnisten, Kommentatorinnen oder Parteisprechern in die Medienwelt gesetzt, soll dazu beitragen, dass der Begriff «Flüchtling» mit Unsicherheit, Angst, «fremder Kultur», Islamismus aufgefüllt schliesslich mit einem Generalverdacht behaftet ist, nämlich dem verkappten Terrorismus, den «er, der Flüchtling» quasi nach Europa transportieren würde.
IV
Plötzlich wurden sie immer mehr. Zuerst zogen sie nach Westen, in den Libanon. Dieses kleine Land wurde zum Ziel für eine Million Menschen aus Syrien. Dort leben sie in Bidonvilles, in Zeltstädten, versuchen, weiterzukommen, um zum Beispiel den Winter überleben zu können. Jordanien, die Türkei, der kurdische Teil des Irak: Millionen Menschen flüchteten – und das ist wörtlich zu verstehen -, weil sie in ihrer Stadt, in ihrem Land mit hoher Wahrscheinlichkeit ums Leben kommen würden.
Sie sind Opfer des Bürgerkriegsterrors.
Seit einiger Zeit strömen Hunderttausende nach Europa.
Eigentlich konnte das niemanden überraschen. Seit Jahren toben diese mörderischen Bürgerkriege in Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen. Millionen Menschen sind davor auf der Flucht.
Die deutsche Bundeskanzlerin hat in der sich zu einem ziemlich unbeherrschbaren Chaos ausweitenden Flüchtlingskrise im Libanon, in der Türkei, auf dem Balkan und in Südosteuropa gehandelt. Sie hat sich nicht nur, wie von ihr von vielen politischen «Beobachtern» eigentlich erwartet, mit Zeltlieferung, mit Kochgeschirr, Schlafsäcken in den Libanon oder in die Türkei reagiert, sondern mit der Bereitschaft, Flüchtlinge in weitaus höherer Zahl als bisher gewohnt vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Dies nebenbei gesagt in Übereinstimmung mit den meisten Bundesländern und vielen Kommunen.
Was wäre die Alternative gewesen?
Georg Dietz hat in seiner jüngsten «Spiegel»-Kolumne unter dem Titel «Exzesse der Engstirnigkeit» jene Leitartikler und Kolumnisten, die Frau Merkels Flüchtlingspolitik in Grund und Boden verdammen – etwa der Chefredaktor des «Handelsblatt», der laut Dietz geschrieben hat, Angela Merkel sei «die Kanzlerin der Flüchtlinge, aber nicht die der Deutschen» die Lektüre ernstzunehmender, weil exakt recherchierender Medien empfohlen, etwa den «Economist»:
«Haben Sie zum Beispiel mal nachgelesen, was jüngst der ‹Economist› geschrieben hat, fast immer Gradmesser der journalistischen Vernunft, der Angela Merkel auf dem Titel feiert als ‹die unverzichtbare Europäerin›?
‹Die Flüchtlinge wären eh gekommen›, steht da. ‹Sie hat gehandelt, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Zäune werden den Zustrom nicht verhindern. Frau Merkel kann weder die Kriege beenden, die die Menschen aus ihren Häusern treiben, noch kann sie die Politik verändern der Länder, durch die diese Menschen müssen. Ihre Kritiker bieten keine glaubhafte Alternative an. Wenn die Länder der EU nicht internationales und europäisches Recht brechen wollen und Flüchtlinge ertrinken oder erfrieren sehen wollen, müssen sie die Ansprüche der Asylbewerber ernst nehmen. Die Frage ist: Wird das geordnet passieren oder chaotisch?›»
V
Um auf Žižek`s Feststellungen über «Menschen wie wir» zurückzukommen:
Krieg erzeugt Flucht.
Bekannt ist, dass Bürgerkriege die Spitze der vorstellbaren Grausamkeiten gegen Individuen produzieren. Alles Schreckliche droht an jeder Strassenecke.
Oft bleibt nur die Flucht.
Es flüchtet nicht «der Muslim» oder «der Christ» (nebenbei gesagt: Sowohl aus dem Irak als auch aus Syrien sind Hunderttausende Christen geflohen – was einen Hinweis auf die beiden Regimes, nämlich jenes von Saddam Hussein wie jenes der Assads gibt: Es waren und sind keineswegs islamistische Einreligionsdiktat-Regimes). Es flüchten Familien. Familien, die sich trennen, um zum Beispiel jemanden vorauszuschicken, der die Möglichkeiten eines Weiterlebens der Familie in einer sichereren Umgebung erkundschaften soll. Andere bleiben zusammen, nehmen alle denkbaren Beschwernisse in Kauf, um miteinander überleben zu können.
Diese Menschen sind nicht «gut» oder «böse», sie sind nicht alle «gleich». Sie sind so heterogen wie wir alle ungleich sind, unverkennbar als ICH unsere Persönlichkeit entwickeln.
Die Menschen fliehen vor dem Terror, dem sie in ihren Ländern ausgesetzt sind. Dieser Terror wird namentlich durch dieselben islamistischen Truppenverbände und Banden verübt, welche die Terrorattentate in Paris befohlen und ausgeführt haben.
Der Untergang des Abendlandes tritt weder heute noch absehbar ein, wenn ein paar Hunderttausend Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa kommen.
Flüchtenden Asyl zu gewähren ist eine durch das Völkerrecht in Form diverser Genfer Konventionen stipulierte Pflicht für Staaten und deren politisch Handelnde, welche von Krieg und Verwüstung nicht betroffen sind. Aus der Pflicht ergeben sich, manchmal erst nach einer Zeit voller chaotischer Zustände, Organisations- und Umgangsformen, welche das Leben aller Beteiligten vor Ort und meistens auf Zeit alltagsfähig werden lassen.
Das betrifft sowohl die Sicherheit der «Einheimischen» wie die Akzeptanz ihnen bisher unbekannter oder nicht konkret erlebter Lebensformen durch Flüchtlinge.
Der Untergang des Abendlandes jedenfalls tritt weder heute noch absehbar ein, wenn ein paar Hunderttausend Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa kommen.
Mit anderen Worten:
Nüchternheit ist gefragt.
VI
Eine Nachbemerkung:
Hinter den Bürgerkriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Libyen – abgesehen von Einmischungen aus den USA, Russland oder zum Beispiel Pakistan – steckt überall vor Ort auf Seiten der islamistischen Terroristen Logistik, steckt moderne Kriegsbewaffnung, stecken zahlreiche Söldner aus vielen Ländern und steckt sehr viel Geld. Es ist bekannt, dass Saudi-Arabien ein Hort von Geldgebern, sektiererisch-religiöser Propaganda und der Organisation von Verführung Jugendlicher an den so genannten Rändern europäischer Gesellschaften zu wahhabistischer Dogmatik ist.
Über militärische Verwicklungen Saudi-Arabiens (als Staat) mit dem IS, den Taliban, mit sunnitischen «Rebellen» in Syrien und so weiter will ich hier nicht spekulieren. Fakt ist, dass es solche Verwicklungen in grossem Ausmass gibt. Eine dieser Fakten ist recherchiert und unumstösslich klar: Saudi-Arabien züchtet mit militärischen Einmischungen, Bombardements und Vormärschen ins Landesinnere im Jemen einen neuen Bürgerkrieg heran.
Was unternimmt die europäische oder die US-Politik dagegen?