Bahnstreiks nerven. Aber die Bähnler haben gute Gründe, für ihre Rechte zu kämpfen, sagt unser in Berlin lebender Autor.
Deutschland gehe es gut, heisst es. Ökonomisch stehe das Land als Lokomotive der EU und als Geldgeber des Südens, als Zuwanderungsland par excellence, wenigstens als Hoffnungsfluchtpunkt für Millionen aus Ost und Süd da.
Nun, ein paar Probleme gibt es da allerdings schon noch.
Eines entpuppt sich als offenbar nicht «tot zu kriegendes» Ärgernis: der Lokomotivführerstreik. Das neunte Mal innerhalb eines Dreivierteljahres haben sie gestreikt. Zum neunten Mal ist die Berliner S-Bahn, die von der DB betrieben wird, genauso bestreikt worden wie die ICE-Flotte oder der Güterzugverkehr. Was bedeutete, dass allein in Berlin Hunderttausende über Tage, einmal immerhin sechs Tage lang, nicht wirklich vorwärtskamen, in überfüllten Bussen, U- und Strassenbahnen standen und im ganztägig sich ausbreitenden Stau feststeckten.
Ohne Bahn geht nichts mehr
Eines zeigt dieser Streik vorweg und in aller Deutlichkeit: Ohne die Mobilitätsangebote des öffentlichen Verkehrs, und zwar in ihrer Gesamtheit, funktioniert eine Stadt heute einfach nicht mehr. Es existiert eine Nachfrage nach Mobilitätsangeboten. Diese Nachfrage nach Fortbewegung in der Stadt wird durch den privaten Autoverkehr nie auch nur annähernd gedeckt werden können.
All die Leute, die auf diesen Perrons fehlen, steckten während des Streiks in Staus oder vollen Bussen. (Bild: BODO MARKS)
Und zwar aus einem ganz einfach Grund: Mit einem mit sechs Wagen und Platz für jeweils je etwa 150 Personen – also pro Zug mit einem Platzangebot für rund 900 Personen – ausgerüsteten S-Bahnzug kann rein platzmässig kein Strassenangebot konkurrieren, was städtischen Raum, der in Anspruch genommen wird, was Schnelligkeit und was Platzverbrauch pro Person betrifft.
Oder: Man stelle sich vor, die Pendler, welche täglich die Trams und die Busse sowie die S-Bahnen in der Region Basel benutzen, würden alle im Privatauto vorfahren! Es bräuchte zahlreiche Roche-Türme, um allein das entstehende Parkplatzproblem in den Griff zu bekommen.
«Erpresserische» Gewerkschaften – wirklich?
Aber davon ist natürlich dann, wenn Lokführer streiken, in der veröffentlichten Meinung keine Rede. Dafür wird von «Geiselhaft» geschrieben, in welche die Gewerkschaft der Lokführer «die Deutschen» nehme. «Spartengewerkschaften», heisst es ziemlich unisono im medialen Gerede, würden erpresserisch gegen Unternehmen und vor allem gegen «die Bevölkerung» vorgehen und müssten daher zur Räson gebracht werden.
Nun, «Spartengewerkschaften» sind oft berufsbezogene kleinere Gewerkschaftsorganisationen, die nicht den grossen (deutschen) Einheitsgewerkschaften, den Industriegewerkschaften oder der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi oder eben der Eisenbahnergewerkschaft angehören.
Nur: Warum sind denn vor allem im gesamten Dienstleistungsbereich, aber auch in der Gesundheitsfürsorge, den Medizinberufen und bei den Spezialisten, die uns den Flug in den Urlaub sowie unsere sanfte Landung am Zielort oder wieder zu Hause garantieren, kleine berufsbezogene Gewerkschaften entstanden?
Zudem: Claus Weselsky, der Lokführerboss, wie er genannt wird, spricht irgendeine ostdeutsche Mundart. Und das erinnert – wie originell, aber «Bild»-like einfach – an was? Jaja, an die DDR, an die SED und so weiter. Und schon hat man ein perfektes Feindbild, das man durch das unisono gestimmte Mediendorf jagen kann.
Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Weselsky seit 2007 Mitglied der CDU ist. Nur muss man ein für den gewählten Kampagnenjournalismus durchaus unpassendes Detail selbstredend nicht öffentlich machen, journalistische Redlichkeit hin oder her. Viel besser tönt es, wenn der erste Länderministerpräsident in Deutschland, der von den «Linken» kommt, in irgendeinen Zusammenhang mit diesem Ossi Weselsky gebracht werden kann, damit man im «richtigen» Feindbild platziert bleiben kann.
Nun kommt es im Lokführerstreik mindestens zu einem Monat Pause. Es läuft eine Schlichtung. Schlichtungen sind in Deutschland rechtlich gebundene Vorgänge. Innerhalb ihrer Dauer darf zum Beispiel nicht gestreikt werden – oder es darf keine Massnahme von Arbeitgeberseite gegen Angestellte des Betriebe in Szene gesetzt werden.
Schutzlos ausgeliefert
Man kann gespannt sein, was bei dieser Schlichtung herauskommen wird. Auf alle Fälle hat die GDL erfolgreich durchgesetzt, dass die Bahn als Arbeitgeber mit ihr, die ihre Mitglieder vertritt – inzwischen nicht nur Lokführer, sondern mehr und mehr auch Zugbegleiter und die Angestellten der Zugrestauration usw. – direkt und ausschliesslich, also ohne Hinzuzug der grösseren Gewerkschaft der Eisenbahner verhandeln muss.
Kürzlich, am 22. Mai hat der Bundestag mit den Stimmen der meisten CDU/CSU- und SPD-Abgeordneten ein sogenanntes Tarifeinheitsgesetz verabschiedet. Darin wird festgehalten, dass immer diejenige Gewerkschaft, welche in einem gesamten Unternehmen am meisten Mitglieder hat, die Tarifverhandlungsabschlüsse bestimmt. Was stillschweigend beinhaltet, dass Sparten- oder Berufsgewerkschaften mit wenigen, aber zum Beispiel speziell geforderten, speziell ausgebildeten, mit schwierigen oder nicht durchschnittlichen Aufgaben betrauten Berufsleuten den Interessen der Industrie- oder Dienstleistungsgewerkschaftszentralen und vor allem natürlich den Interessen der Unternehmer, bei denen sie arbeiten, ziemlich schutzlos ausgeliefert sein werden. Denn Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzinteressen usw. sind heute längst nicht mehr mit quasi zwei Seiten einer Medaille definiert, der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite nämlich.
Man muss sich fragen, weshalb in den letzten Jahren so viele kleine und berufsspezifisch ausgerichtete Gewerkschaften entstanden sind.
Gerade die enorme Überstundenleistung ohne genügenden zeitlichen oder finanziellen Ausgleich, den das Unternehmen Deutsche Bahn seit Jahren den Lokführern zumutet, weist auf ein Spartenproblem hin. Eine Angestellte an einem Bahnschalter nämlich hat, weil der Schalter nach Öffnungszeiten bedient wird, keine Überstunden zu leisten. Lokführer aber schon mit Regelmässigkeit allein deshalb, weil die technische Infrastruktur der Deutschen Bahn teilweise halbverrottet ist und es deshalb zu massiven Verspätungen und Wartezeiten für Lokführer in ihren Kabinen kommt.
Das Tarifeinheitsgesetz ist nichts anderes als eine vorgestrige Antwort auf ein Problem, welches immer stärker in den Vordergrund der Arbeitnehmerrechte rücken dürfte: die Spezialisierung von Arbeit und von Arbeitsverhältnissen. Man muss sich fragen, weshalb in den letzten Jahren so viele an Mitgliedern kleine, berufsspezifisch ausgerichtete Gewerkschaften gerade im Dienstleistungsbereich entstanden sind. Es existiert offensichtlich ein Bedürfnis.
Eines, welches entstanden ist, weil die Grossgewerkschaften und die Grossunternehmen gewisse ehemals durchaus in ihren Reihen organisierte Spartenberufs-Ausübende nicht mehr richtig vertreten respektive die Arbeitgeber Bedürfnisse des Arbeitsalltags dieser Berufssparten nicht berücksichtigt haben.
Gesetzgeberischer Schnellschuss
Mit diesem gesetzgeberischen Schnellschuss wird die im deutschen Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit für Arbeitnehmer mindestens tangiert, teilweise mehr oder weniger aufgehoben – etwa für Assistenzärzte oder eben auch für Lokführer, Piloten oder Flugüberwacher und vor allem auch für das immer komplexeren Arbeitsbedingungen ausgesetzte Pflege- und Kindererziehungspersonal. Ihre Bedürfnisse sollen nach dem Willen der CDU/CSU/SPD-Koalition verallgemeinert respektive in Tarifstrukturen eingebracht werden, die auf ihre Kosten sogenannte «Vernunft» in Abschlüssen generieren sollen.
Es ist bezeichnend, dass in den Tarifverhandlungen, welche die kleinen Spartengewerkschaften für ihre Mitglieder führen, der Begriff Überstunden immer eine zentrale Position einnimmt. Er spielt im Übrigen auch, wie bereits erwähnt, im Tarifstreit der GDL mit der Deutschen Bahn eine sehr wichtige Rolle.
Ärger über verlorene Zeit: Diese Passagiere fuhren mit einem der wenigen Züge, der trotz Streik noch fuhr. (Bild: Michael Probst)
Überstunden entstehen dort, wo es in Sachen Arbeitszeit nicht ordentlich, ausdefiniert und damit klar mit Anfang und Ende versehen zu- und hergeht. Es erfolgt nie inmitten einer Operation, welchen Schwierigkeitsgrades auch immer, ein Austausch der Ärzte oder des Pflegepersonals. Lokführer müssen weiterfahren, auch wenn wegen Verspätungen ihrer reguläre Arbeitszeit längst überschritten ist. Es steht nicht irgendwo auf dem flachen Land Ersatz zur Verfügung. Und so weiter.
Weil diese Probleme in den Tarifverhandlungen zwischen Grossgewerkschaften und Arbeitgeberverbänden oft keine wesentliche Rolle gespielt haben dürften, entstanden Spartengewerkschaften. Mindestens kann solcherlei von Fachleuten aus kleineren Gewerkschaften, welche sich auch mit spezifischen Betriebsproblemen vor Ort auskennen, genauer angegangen werden als von der Ebene des Grossen und Ganzen. Weil spezifische Berufsarbeit immer häufiger wird, da zahlreiche Arbeitsbedingungen komplizierter und gleichzeitig komplexer werden, wird es immer mehr spartengewerkschaftliche Bedürfnisse geben.
Vorgestriges Modell
Anstatt dieses Phänomen rechtsstaatlich rechtzeitig zu berücksichtigen und gesetzgeberisch zu verarbeiten, hat die deutsche Bundesregierung – und dies ausgerechnet unter der Federführung einer sozialdemokratischen Arbeitsministerin – mal ganz rasch ein vorgestriges Modell von Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in jeweils «starken» Verbänden organisiert, eben die «Tarifeinheit» pro Unternehmung, vorgelegt. Ob dieses Gesetz mit dem Grundgesetz übereinstimmt, ist fraglich.
Für Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet dies, dass die individuelle, die gruppenspezifische, die engagierte Arbeit im Dienste vieler Bewohnerinnen und Bewohner des Landes, also Erziehung, Bildung, Gesundheits- und Altenpflege sowie Mobilität, nicht wirklich anerkannt wird. All die öffentliche und PR-mächtige Beschwörung, wonach man diese Berufe «aufwerten» müsse, damit die Qualität der jeweiligen Berufsarbeit erhalten und Nachwuchs attraktive Arbeitsbedingungen vorfinden würde, wird mit solcher Gesetzgebungstechnik einfach lächerlich gemacht, in den Wind geschlagen und als unglaubwürdiges Gerede entlarvt.
Allerdings ist anzunehmen, dass damit keineswegs Ruhe an der «Berufsarbeitsfront» einkehren wird. Da könnten sich sowohl die unisono den Lokführerstreik verurteilenden Bahn-PR-Leute als auch deren mediale und grosskoalitionsparteipolitische Unterstützer noch ganz gehörig irren.