Therwil als Sinnbild für die Verwechslung von Assimilation und Integration

Wieder einmal steht man als einigermassen gebildeter Zeitgenosse kopfschüttelnd vor einem «Ereignis», das zu einer Religions- oder gar Kulturfrage hochstilisiert wird. Hinter dem neuesten deutschschweizerischen Medienhype steckt einmal mehr die Verwechslung von Integration mit Assimilation.

(Bild: Nils Fisch)

Wieder einmal steht man als einigermassen gebildeter Zeitgenosse kopfschüttelnd vor einem «Ereignis», das zu einer Religions- oder gar Kulturfrage hochstilisiert wird. Hinter dem neuesten deutschschweizerischen Medienhype steckt einmal mehr die Verwechslung von Integration mit Assimilation.

I
Zwei aus Syrien stammende und offensichtlich in einer muslimischen Sekte durch ihren darin tätigen Vater eingesperrte Brüder besuchen die Sekundarschule in Therwil bei Basel. Aus Gründen, die sie religiös nennen, haben sie einer Lehrerin den täglichen Handschlag verweigert. Die Schulleitung hat sie schliesslich, wenn ich das richtig verstanden habe, von der Handschlagpflicht mit der Lehrerin und von Handschlägen mit allen ihren Lehrkräften dispensiert. Und das ist nun der neueste Medienhype zum Thema «Integration» in der deutschen Schweiz.

Ob es überhaupt eine «Handschlagpflicht» gibt?

Ob der Handschlag mit einem Lehrer, einer Lehrerin ein kultureller Wert ist?

Ab wann eine Verweigerung eines Handschlages von männlichen Jugendlichen innerhalb einer Schule – also einer obligatorischen Veranstaltung – gegenüber einer Frau eine Verletzung der Gleichberechtigungsgarantien der Verfassung darstellt?

Es geht um ein Sinnbild

Es scheint in der Deutschschweiz aktuell wieder einmal so zu sein:

Da hat «man» nun wieder so ein Sinnbild, um angeblich notwendige Grenzen zu ziehen, damit man die eigene Kultur und deren Werte glasklar vor aller Augen «schützen» kann.

Schützen vor wem?
Vor zwei Jungs aus dem Einflussbereich eines  wahhabitischen Sektenclubs?
Oder schützen vor der Religion namens Islam?
Oder schützen vor «den» Ausländern, den Andern, den «Kulturlosen»?

Der Handschlag drückt vielleicht – nur vielleicht – eine gewisse gleichberechtigte Ehrerbietung aus. Und zwar eine gegenseitige, sofern es wirklich ein gleichberechtigter Handschlag ist.

Was stellt den Wert eines Handschlages auf der Sekundarstufe einer Schule dar?

Ob der Handschlag einer Lehrerin oder eines Lehrers gegenüber pubertierenden Schülerinnen oder Schülern Gleichberechtigung ausdrückt?

Ob diese Gleichberechtigung von beiden, die sich die Hand geben, als solche verstanden wird?

Genauer:
Was stellt den Wert eines Handschlages – womöglich einer von mehreren vorzunehmenden Handschlägen auf der Sekundarstufe einer Schule, wo mehrere Lehrer täglich den Unterricht gestalten – dar?

Es gibt diesbezüglich auch Formen, welche die «Gnade der Beachtung» durch Höherstehende zum Ausdruck bringen sollen: Indem man in irgend einer hierarchischen Ordnung unter dem  höherstehend lebenden Menschen angesiedelt zum Handschlag gezwungen wird, kommt allenfalls erzwungene Anerkennung des eigenen, niedriger angelegten Status gegenüber dem Handschlagerzwinger zum Ausdruck. So etwas  kann natürlich auch auf ein  Kind zutreffen, das vom Erwachsenen in die herrschende Gesellschaftsordnung hinein erzogen werden soll.

Da müsste man wohl doch etwas genauer auf die Lehrkräfte vor Ort, also jene der Sekundarschule in Therwil eingehen. Ihnen zuhören. Vermutlich bekäme man keine Einheitsantwort, sondern würde wahrscheinlich feststellen: Da gibt es verschiedene Meinungen, vielleicht sogar solche, die sich ziemlich widersprechen. Man müsste dem Schulleiter die Möglichkeit geben, eine vielleicht komplizierte Frage aus dem Schulalltag differenzierend, unter Umständen  auch nicht endgültig beantworten zu können.

Noch lange nicht jede Begrüssung «im Westen» erfolgt per Handschlag.

Der Chefredaktor der BaZ weiss es ganz genau und stellt in einem Leitartikel apodiktisch fest:

«Zu diesen Regeln gehört es, dass wir uns im Westen per Handschlag begrüssen – unabhängig von Alter, Geschlecht, politischer Gesinnung, sexueller Orientierung, Einkommen oder ob wir uns  vegetarisch ernähren oder mit Fleisch. Alles andere gilt als Kränkung, als schwere Kränkung.»

Das tönt. Und zwar will Somm erkennbar eindeutig einen Sprachton schaffen: Alles klar. Handschlag ist der einzige Grussausdruck «bei uns im Westen».

Nur: Mit der Realität «im Westen» hat diese Behauptung wenig zu tun. Die behauptete allgemeingültige Eindeutigkeit existiert nicht.

Erst einmal:

Noch lange nicht jede Begrüssung «im Westen» erfolgt per Handschlag.

  • Wenn ein Polizist einen Autofahrer zur Seite winkt, weil er eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten hat, verlangt er die Wagenpapiere und einen Ausweis. Von Handschlag keine Spur.
  • Der Kondukteur betritt einen Wagen im fahrenden Zug und sagt allenfalls «Guten Tag». Dann kontrolliert er die Fahrausweise. Von Handschlag keine Spur.
  • Die tägliche Arztvisite im Krankenhaus: Vielleicht wird der Name der Patientin oder des Patienten, vor dessen Bett die Arztgruppe steht, von der Oberpflegerin genannt. Vielleicht fragt der Chefarzt: «Wie geht es Ihnen heute?» Handschlag? Jedenfalls ist ein Handschlag nicht die Regel.
  • Ich habe über 30 Jahre lang auch Zeit in baselstädtischen Lehrerzimmern verbracht. Manchmal habe ich dabei eine Kollegin oder einen Kollegen mit Handschlag begrüsst. Ich habe aber niemals alle anwesenden Kolleginnen und Kollegen, wenn ich in ein Lehrerzimmer eingetreten war, einzeln mit Handschlag begrüsst, sondern allenfalls mit: «Guten Morgen.»

Im weiteren:
Es existiert etwa die Kultur der «gnädig», «huldvoll», «bescheiden» dargebotenen Hand, eine Kultur, die allerdings in Mehrfachbedeutungen  aufgeteilt ist: Damen des Adels hielten für Nichtadlige ihre Hand hin, wo die Nichtadligen dann einen Ring formelhaft küssen «durften» respektive nach den Regeln des Adels küssen mussten.

Dieser Wert, in Mitteleuropa wohl seit der Zeit der Minnesänger und der Ritterturniere überliefert, hat einen doppelten Symbolwert: Einerseits die Überhöhung des Adelsstandes bis hin zu seiner absolutistischen Variante. Anderseits die Verehrung der Frau; nicht jeder Frau selbstredend, sondern bloss der adligen Frau.

Dasselbe pflegen heute noch katholische Bischöfe, Kardinäle oder der jeweilige Papst zu inszenieren. Wobei festzuhalten ist, dass, meistens übrigens je höher der Rang des huldvoll die Hand hinhaltenden Hierarchen ist, desto eher dessen Neigung auffällt, gegenüber den womöglich in einen Knicks oder in eine Kniebeuge sich begebenden «Untertanen», den Beugenden, die Beugende quasi in deren Beugung aufzuhalten oder, je nach Kamerasichtweise, aufzufangen und wieder in senkrechte Stellung zu bringen.

Auf die Idee, dieses Niederbeugen zum Handkuss vor dem «Höherstehenden» einfach abzuschaffen, kommt in der katholischen Traditionssystematik aber natürlich niemand. Ob das auch eine «Handschlagbegrüssung» im Sinn von Somm darstellt?

Das Handgeben von Prominenten in der Öffentlichkeit ist nichts anderes als ein billiger PR-Gag.

Bekannt ist die oberflächliche Handschlagaktivität von meist männlichen Prominenten, die automatisiert läuft. Sie strecken ihre Hände vielen Leuten entgegen, die sie gar nicht kennen. Ist der Kreis der zu Begrüssenden für den Prominenten kleiner, kann man beobachten, dass das Händeschütteln nicht von einem Augenblick des Hinschauens auf die Person, der  die Hand gegeben wird, begleitet ist. Der Kopf der prominenten Person begrüsst gleich ein oder zwei andere in der Nähe oder auch etwas weiter weg Stehende.

Das Handgeben ist in solcher Hinsicht nichts anderes als ein billiger PR-Gag. Begrüsst wird dabei niemand. Die Berührung der Handfläche soll ein «Dabeisein» vorgeben, eine Art intime Nähe.

II
Vielleicht haben die beiden Schüler in Therwil einer  Lehrerin aus «religiösen» Gründen den Handschlag verweigert. Vielleicht auch aus pubertären Gründen. Oder aus einer Mischung von altersbedingtem Gehorsam und altersbedingter Auflehnung gegenüber Autoritäten. Man stellt wohl kaum eine falsche Vermutung an, wenn man den Vater der beiden hinter der Verweigerungshaltung erkennt.
Auf «Spiegel online» wird über ein Interview der beiden Brüder, 15 und 14 Jahre alt, mit der «Sonntagszeitung» berichtet:

«Das Interview gaben die Brüder in einem Nebenraum der König-Faysal-Moschee, in der ihr Vater als Imam das Freitagsgebet predigt. Sowohl der Vater als auch ein Medienbeauftragter des Islamischen Zentralrats in der Schweiz waren bei dem Gespräch dabei.
Auf die Frage, ob sie durch ihre Handschlag-Verweigerung die Würde der Frau verletzten, antwortete der jüngere Bruder, sie schützten vielmehr die Würde der Frau: ‹Wir orientieren uns an Prophet Mohammed. Er ist unser Vorbild. Und er hat nie Frauen berührt – ausser seine eigene.› Niemand könne sie zu einem Handschlag zwingen. ‹Falls wir die Hände wieder schütteln müssten, wäre das eine Diskriminierung gegen uns.›

Natürlich stellen sich Fragen: Seit wann haben die beiden Brüder den Handschlag mit einer Lehrerin verweigert?

  • Wurde diese Weigerung angekündigt?
  • Hat die Schulleitung mit dem Vater der beiden Jungs gesprochen?
  • Ist die Lösung, wie sie der Schulleiter kommuniziert hat, im Einvernehmen zwischen allen Beteiligten erreicht worden ? Oder vielleicht zu Lasten der Lehrerin?
  • Besteht an der Schule eine Ordnungsregel, wonach Schülerinnen und Schüler alle Lehrkräfte mit Handschlag begrüssen müssen?
  • Besteht eventuell eine andere Schulregel, wonach nur jene Lehrperson, welche die erste Schulstunde im Tag unterrichtet, mit Handschlag begrüsst werden muss. Oder begrüsst werden soll? Oder begrüsst werden darf?
  • Gab oder gibt  es anders begründete Handschlagsverweigerungen an der Schule?

(Als ehemaliger Lehrer auf der Sekundarstufe – Orientierungsschule – in Basel habe ich Handschlagsverweigerungen durch Schülerinnen und Schüler immer wieder erfahren, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Abgesehen davon, dass ich selber gar nicht regelmässig Handschlagbegrüssung durchgeführt habe. Bis zu meiner Pensionierung 2007 jedenfalls existierte darüber in Basel keine Vorschrift, also keine Regelung).

Aus diesem Stoff einen derartigen Medienhype zu inszenieren, ist eine massive Übertreibung eines lokalen Vorgangs.

Jenseits zahlreicher Fragen, welche bezeichnenderweise von gewissen Medien, welche die Handschlagsverweigerung zu einer Staatsaffäre erster Ordnung  hochgetrimmt haben, vorerst ersichtlich nicht gestellt worden sind, lässt sich eindeutig festhalten: Aus diesem Stoff einen derartigen Medienhype zu inszenieren, ist  eine massive Übertreibung eines lokalen Vorgangs.

Wieder einmal steht man als einigermassen offener, auch einigermassen gebildeter Zeitgenosse kopfschüttelnd vor einem «Ereignis», das einerseits ohne jede Spur einer Sachkenntnis zu einer «Religionsfrage» hochstilisiert und anderseits, ebenso fern jeglicher Kenntnis von Schulalltag, als «Leitungsschwäche» eines Schulleiters gebrandmarkt wird, um drittens festzuhalten, die Kultur «bei uns im Westen» bestehe aus der Begrüssung im Handschlag – was als singuläre Aussage über Begrüssungsformen nun einfach eine absolut falsche Aussage ist.

III
Erkennbar ist, wenn man all die Meinungsäusserungen miteinander vergleicht: Hinter dem neuesten deutschschweizerischen Medienhype steckt einmal mehr die Verwechslung von Integration mit Assimilation.

Assimilation drückt aus:
Jemand ordnet sich unter. Nimmt den Charakter der Gegend respektive der Gesellschaft auf, in die er gezogen ist. Verlässt seine eigene Biografie total, um in eine nicht mehr als individuell zu erkennende verallgemeinerte Biografie, wie das Gastland angeblich eine von  jemandem der «hergekommen» ist erwartet, zu schlüpfen.

Solche Assimilation steht dann allerdings ständig im Zweifel, sei es  beispielsweise wegen der Hautfarbe des Assimilierten, dem Tonfall in der angepassten Sprache, der Haarfarbe und so weiter.  Die «Gunst»  des «Volks» der SVP  kann nur erhalten, wer so aussieht, wie man meint, dass man auszusehen habe, um als «normal» zu gelten.

Ansonsten ist es die Regel, dass Assimilierte trotz totaler Assimilation nicht als Gleiche anerkannt werden, weil «man» gegen das Fremde ist. Fremd ist dann natürlich der Welsche, der Basler (arrogant) oder die Zürcherin (Blufferin).

Das Verlangen nach totaler Anpassung tönt für all jene, die nicht wissen, woher ihre Mutter oder ihr Grossvater in «die Schweiz» eingewandert sind,  logisch. Klar. «Normal». Schliesslich war «man» vorher da, hat die eigene «Bildungsgeschichte», und zu der gehört in der Darstellung von BaZ-Chefredaktor Somm und anderen angeblich der Handschlag.
Ob das so ohne weiteres  stimmt?

Als Primarschüler in den Fünzigerjahren gaben wir einer Lehrperson nicht die Hand. Wir zeigten ihr unsere Fingernägel.

In meinen Primarschuljahren in einem Bauerndorf in der Innerschweiz, sie fanden in den Fünfzigerjahren statt, habe ich nie irgend eine Lehrperson per Handschlag begrüssen können. Einer Lehrerin oder einem Lehrer durfte man die Hand gar nicht geben, weil die Lehrperson in ihrem – man kann das so sagen – gesellschaftlichen  Wert weit über einem Kind angesiedelt war.

Bei einer meiner damaligen Lehrpersonen musste man als Schüler jeden Morgen die Hände zeigen. Grund: Die Sauberkeit der Fingernägel wurde kontrolliert. Was für mich wegen meiner Herkunft aus einer Nichtbauernfamilie nie ein Problem war, für viele Bauernjungs allerdings schon. Es existierten damals in den meist sehr einfachen Bauernhäusern in der Innerschweiz keine Badezimmer, um an ein Beispiel von «Kulturveränderung» innerhalb der letzten 50 Jahre zu erinnern.  

Handschlag war damals sowieso weitherum unüblich.
Hat der Bauer seinen Bauernknecht am Morgen mit Handschlag begrüsst, bevor er ihm irgendwelche Arbeitsbefehle gab?
Hat man der Serviertochter bei der Begrüssung am Stammtisch die Hand gegeben?
Hat man dem Stammtischbruder die Hand gegeben?

Ich erinnere mich gut, dass an Stammtischen oft keine Handbegrüssung, vielmehr, wenn es hochkam, ein Klopfen mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte als Begrüssungsritual gehandhabt wurde. Wer mit den Knöcheln klopfte, gehörte dazu.

Handschlag?

Hat man sich beim Einrücken in einen WK als Soldat per Handschlag begrüsst?
Hat einem ein Offizier zur Begrüssung die Hand gegeben?
Ich habe so etwas jedenfalls nie erlebt. WK-Militärdienst allerdings ist sicherlich ein «Kulturwert» mindestens  für sehr viele «diensttaugliche» Männer in der Schweiz. Stellt der nicht in meiner Erinnerung steckende Handschlag, weil er in meinen WK-Diensten nie stattgefunden hat, eine Wertverminderung meiner «Kultur» oder gar eine «des Westens» dar?

Die «Kulturwerte» des Handschlags eignen sich nicht für eine Perimeterpauschale in Sachen «Assimilation».

Ich denke, dass der Handschlag bei jeder Begrüssung im Westen keineswegs so verankert oder gar ein «Kulturwert» ist, wie das Somm in seinem BaZ-Leitartikel darstellt. Kurz: Die «Kulturwerte» des Handschlags eignen sich nicht für eine Perimeterpauschale in Sachen «Assimilation». Sie eignen sich aber, wie von Somm vorgeführt, in seinen Augen offensichtlich ausgezeichnet, um Stimmung gegen das Andere, das «nicht Eigene» – was immer das Eigene denn auch sei – zu machen.

Der Unterschied von Integration und Assimiliation

Integration bedeutet im Gegensatz zu «Assimilation»  nichts anderes als einen ziemlich durchgehenden gesellschaftlichen Prozess. Natürlich existieren in einem demokratischen Staat Vorgaben, die einen Integrationsprozess durchführbar machen und begleiten müssen.

Dazu gehört die Anerkennung des Rechts, und zwar auf allen seinen zivilisatorischen Gestaltungs- und Anerkennungsebenen. Es gehört die Anerkennung der Gleichheit für alle Bewohnerinnen und Bewohner in der Sozialgesetzgebung beispielsweise genau so dazu wie die Schulpflicht, die Steuerverpflichtung genau so wie die Meinungsäusserungsfreiheit innerhalb des definierten Rahmens, der vor Verleumdung und Rassismushetze schützt.

Diese Vorgaben gelten für alle, also für solche, die Bürgerinnen oder Bürger sind, die zugewandert sind und in diesem Staat bleiben und für solche, die nur für eine vorübergehende Zeit darin leben.

Die Zugewanderten sollen so sein, wie man meint, selber zu sein.

Prozesse sind im Gang, das heisst: in Bewegung. Sie haben die Neigung, nicht aufzuhören, sondern sich laufend weiter zu entwickeln. In einer offenen Gesellschaft gibt es  den Status des endgültig Erreichten eher nicht. Endgültiges existiert zwar in den Wunschvorstellungen vieler Menschen. Allerdings beziehen sich diese Wunschvorstellungen meistens nicht auf sich selber, sondern auf «die Anderen».

Die Zugewanderten sollen so sein, wie man meint, selber zu sein. Sich selber erlaubt man aber schon, sich zu entwickeln, seine Ehe zu scheiden, wenn man genug hat, die Kinder in die Selbständigkeit zu schicken, damit man noch «etwas vom Leben» hat, das neue Automodell anzuschaffen, das exotische Urlaubsdomizil auszuwählen, neue Kleider en masse einzukaufen und sich mit allem einzudecken, was einen «jung» hält oder mindestens «jung» aussehen lässt.

Das heisst: Individuell verändert sich eine Person oft  am laufenden Band. Sie passt sich an, lernt Neues kennen und vielleicht schätzen oder gar lieben. Da eine Gesellschaft aus lauter Individuen besteht, ist der Veränderungsprozess eine allgemeine gesellschaftliche Erscheinung.

Den Popanz des Fremden aufzubauen, ist viel einfacher, als die Macht der Finanzindustrie einzudämmen.

Mit der Realität solcher Verhaltensweisen  lässt sich natürlich keine politische Katastrophenstimmung erzeugen. Die PR-Übertreibung ist auch auf Grund von Machtgelüsten von Einzelpersonen oder von Interessengruppen im Staat allgegenwärtig. Die Prozesse der Veränderungen gehen zwar durchaus vorwärts. Aber gewisse ökonomische, vor allem finanzindustrielle Bewegungen laufen schneller, lassen tiefer fallen oder schwingen nachkrisenhaft viel zu hoch hinauf, um dann wieder abzustürzen, als dass die eher schwerfälligeren Beweglichkeiten gesellschaftlicher Prozesse die notwendigen Verarbeitungen wirklichkeitsnah auffangen und verarbeiten könnten.

Den Popanz des Fremden aufzubauen, ist viel einfacher, als die Macht der Finanzindustrie oder der globalisierten  Riesenkonzerne mindestens einzudämmen und ihnen eine soziale Verpflichtung – sehr wohl eine globalisierte – abzuverlangen.

Mir scheint, die Handschlagverweigerung an einer Schule in Therwil bei Basel ist Teil dieser Popanzbeschwörung.

Wie soll man dann aber mit dieser Verweigerung des Handschlags umgehen?

  1. Tiefer hängen. Es ist ein sehr lokales Problem. Es muss lokal angegangen und es muss eine tragbare Lösung für das Zusammenarbeiten und Zusammenleben im Dorf, in der Schule, also bei den direkt Beteiligten und Betroffenen möglich werden.
  2. Man muss gerade auch als kommentierender Chefredaktor oder als engagierte Feministin die Übertreibung vermeiden. Wenn zwei Minderjährige mit einem Vater im Hintergrund, der als Imam in einer offensichtlich wahhabistisch ausgerichteten, also eher eine sektiererische Religionsausübung betreibenden Moschee predigt, von ihrem Glauben reden, soll man ihnen zuhören und zugleich auf die Erkenntnis der Relativität ihrer Glaubensansichten für «ALLE» bei ihnen hinwirken. Nicht selber mit sektiererisch vorgetragenen Kommentarauftritten (was Somm gemacht hat, was einige FB-gewohnte Feministinnen weitergeteilt haben) zündeln.
  3. Sollte der Vater der beiden Jungs die allgemein gültigen Schulregeln der Gemeinde oder des Kantons nicht anerkennen, muss er diesbezüglich belehrt werden. Bei weitergehender Nichtanerkennung bleibt, unter Beibehaltung der Schulpflicht nur der Besuch seiner Jungs in einer staatlich anerkannten Privatschule.
  4. Ist der Handschlag nicht Teil der Schulordnung, dann ist die ganze medial inszenierte Aufregung nichts anderes als ein unwürdiges Theater auf Kosten einer Schule und zweier Buben.

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