«Völkerwanderung» und die Angst ums «christliche Abendland»

Massenmigration sorgt in Europa seit Alters her für Angst vor dem Untergang der eigenen Kultur. Doch jene, die fliehen, haben gar keine andere Wahl, als sich neuen Lebensraum zu suchen – denn eine Rückkehr nach Hause ist oft unmöglich.

Die Hunnen kommen: Sainte Geneviève versucht die Pariser von der Flucht vor Attila und seinen Horden abzuhalten.

Massenmigration sorgt in Europa seit Alters her für Angst vor dem Untergang des Abendlandes. Doch jene, die fliehen, haben gar keine andere Wahl, als sich neuen Lebensraum zu suchen – denn eine Rückkehr nach Hause ist oft unmöglich.

I

Ohne Zweifel:
«Völkerwanderung» beinhaltet eine unterschwellig wirkende Bedrohung.

Wenn ein Volk auf diesem Planeten «wandert», zieht es natürlich nicht – freiwillig – in wüstes Land, in leere, unbewachsene Gegenden. Fruchtbare Landschaft, Orte, in denen es Wasserquellen gibt, Pflanzenwachstum, Böden, deren Erde bebaubar ist, sind heute nirgendwo mehr menschenleer – sofern sie es je, seit es Menschen gibt, gewesen wären.

Das wandernde Volk trifft also auf andere Völker.

Das schafft Begegnungen, welche Verunsicherungen, Ängste, Aversionen, soziale und wirtschaftliche Spannungen, schliesslich unhaltbare Zustände beinhalten können. Krieg ist dabei keine Ausnahmeerscheinung.

Wer in diesen Tagen den Begriff «Völkerwanderung» in politische und gesellschaftliche Diskussionen einbringt, erzeugt, ob gewollt oder nicht, bei vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen das hier geschilderte Angstbild und daraus abgeleitet ein ziemlich klar auf Abwehr, auf Verneinung, auf «Rückzug ins Eigene» programmiertes Meinungsbild.

In der Schule hat «man» gelernt, dass das grosse römische Reich von den Germanen, den Goten, den Vandalen, den Hunnen und anderen Volksstämmen, meist aus dem Osten, aus Innerasien, aus den russischen Weiten stammend, überrannt und zerstört worden sei. In der Folge, wurde im durchschnittlichen schweizerischen, deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht oft genug kolportiert, sei über Europa das «dunkle Mittelalter» hereingebrochen und habe jahrhundertelang jeglichen Fortschritt verunmöglicht. Diese Feststellungen beziehen sich auf meine Kenntnisse von Geschichtslehrmitteln deutschsprachiger Schulbuchverlage, welche bis vor etwa 25 Jahren als allseits anerkanntes Unterrichtsmaterial dienten.

Heraufbeschworene Gefahr der Veränderung

Zur Begriffsproblematik im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Flüchtlingssituation in Europa hat Radio SFR kürzlich ein Gespräch mit dem Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer geführt: 

Indem man einen geschichtlichen Prozess, dessen Verlauf genau so umfangreich und komplex war, wie sein Zustandekommen vielfältig, nämlich die zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert weite Teile West- und Südeuropas treffende «Völkerwanderung» in einen Vergleich mit den zur Zeit herrschenden Fluchtbewegungen aus Syrien, aus Libyen, aber auch aus afrikanischen Staaten setzt, beschwört man die Gefahr einer von Flüchtlingen aus Aussereuropa erzwungenen Veränderung europäischer Gesellschaftsstrukturen.

Der ungarische Ministerpräsident Orbán sagte denn auch, demagogisch verkürzt selbstredend: «Ich denke, wir haben das Recht zu entscheiden, dass wir keine grosse Zahl an Muslimen in unserem Land haben wollen.»

Ein Satz, der am xenophob aufgeladenen Stammtisch, auf Facebook und so weiter «sofort» einleuchtet. Schliesslich handelt es sich bei Ungarn, christlich, sofern überhaupt religionsbezogen, europäisch – wenn auch mit interessanten sprachgeschichtlichen und siedlungsgeschichtlichen Herkunfts-Eigenheiten – um ein EU-Mitglied, also um ein europäisches Land. Und Europäer sind nun einmal, abgesehen von kleinen Gruppen auf dem Balkan, nicht Muslime. Nicht wahr!!

Dieses «nicht wahr» ist allenthalben zu hören, laut und nachgeplappert einerseits; beleidigt andererseits vor allem von Politikern vorgetragen, die dann auch gleich noch anfügen, man werde doch wohl die Wahrheit noch sagen dürfen (Wahrheit erscheint dabei immer im Singular).

Man sagt «christliches Abendland» und meint: Ein Land ohne Farbige, ohne Aussereuropäer.

So tönt es nicht nur bei Orbán. Die europäischen Rechtsnationalisten und (Neo)-Faschisten haben das angebliche Europa respektive Deutschland, die Schweiz, Österreich oder auch Dänemark Stiftende des Christentums längst als ihre stillschweigende Übereinkunftsbegrifflichkeit und zugleich als übergeordnetes Momentum gegen Migration über nationale Grenzen hinweg ganz allgemein adaptiert.

Mit «Christentum», also etwa dem theologischen Diskurs darüber, beispielsweise der lebenspraktischen Anweisungen der Bergpredigt oder anderer deutlicher Aussagen über Gut oder Böse in den neutestamentlichen Bibelteilen hat diese Bezugsposition Rechtsnationaler (und, schon ein wenig verdrängt, aber noch nicht vergessen, etwa der sächsischen Pegida-Hetzsprache gegen Minderheiten jeglicher Couleur) nichts zu tun.

Der Begriff «Christentum» oder «europäisches Christentum» ist bei den Rechtsnationalisten und den Rechtsextremen längst ein Synonym für schlichte rassistische Begrifflichkeit im sozialen Begriffsfeld. Man sagt «christliches Abendland» und meint: Ein Land ohne Farbige, ohne Aussereuropäer. Eine «homogene» Staatsbevölkerung, aus der «Multikulti» aussortiert und ausgeschieden werden müsse.

In der engeren Nation, etwa der Schweiz oder Frankreich heisst es dann, ganz uneuropäisch: Ein Land ohne Ausländer. Um diese Absicht zu verschleiern, wird seit einiger Zeit im Versuch, Begriffsbildungen für machtpolitische Durchsetzungsabsichten zu konstruieren und quasi alltäglich werden zu lassen, immer wieder das «christliche» Europa beschworen.

Ein Europa, das es in seinem Alltag nicht gibt.

Eine Schweiz, ein Österreich, ein Deutschland, ein Frankreich, welche in dem jeweiligen realen (nationalen) Alltag längst anderen Leitparametern ausgeliefert ist: 25 Prozent Rendite auf «Investitionen» zum Beispiel, überhaupt der inzwischen in der Politik und in den Medien wenig vielfältig, dafür eindrücklich allein geltende Massstab der Geldbesitzvermehrung für die Geld-«Elite». Etwas weniger ins ideologische, dafür aber um so mehr ins praktische Gewicht fällt das, was man «Konsumfreiheit» nennt.

Nun ist diese Freiheit natürlich nicht per se «schlecht» oder ablehnungswürdig. Aber sie ist von ihrer Natur her eigentlich keine absolute Freiheit, auch, weil in ihrem Umfeld ökologische oder soziale  Probleme auftreten können. Probleme, welche die Gesellschaft, den Staat, das Recht etwas angehen. Probleme, die sowohl global als auch innerhalb Europas und in einzelnen Staaten in Europa immer wieder Ausmasse annehmen, die nicht zum alles verdrängenden Machtlustgefühl der über alles bestimmenden Geld–«Eliten» passen. Und genau deswegen verleugnet, als «Unterstellungen», als «nicht objektiv» und, besonders beliebt, als «Verschwörungstheorien» abgetan werden.

Von wem?

Von denen, welche die Macht zur Sprachregulierungen haben.

II

In diesen Kontext drängt seit Beginn der Sommermonate 2015 der syrisch-irakische Flüchtlingsstrom auch nach Europa – nachdem vorher innert kurzer Zeit weit über vier Millionen Menschen in den Libanon und nach Jordanien sowie in die Türkei geflohen waren.

Solange diese Millionen Menschen dort waren, hat man sich politisch weder auf europäischer Ebene noch in Deutschland oder der Schweiz darum gekümmert, dass «Hilfe vor Ort» – also im Libanon, in der Südtürkei, in Jordanien oder beispielsweise auch im Iran – im notwendigen Ausmass und innert nützlicher Fristen geleistet worden wäre.

Vielmehr hat man während Jahren vornehmlich und lautstark darüber diskutiert, wie man den «Strom» flüchtender Menschen nach Europa unterbinden könnte. Man hat also zum Beispiel die Botschaftsasylanträge abgeschafft. Man hat mit dem Dublin-Abkommen dem so genannten Erstland für Flüchtlinge den ganzen Anerkennungsprozess an den Hals gehängt und sich im nördlichen Europa gleichzeitig – auch und gerade medial – mokiert über die italienischen und die griechischen Versäumnisse.

Als der Strom von Flüchtlingen nach Europa zunahm – auch, weil die Kapazitäten in Kleinstaaten wie dem Libanon – oder dem EU-Mitglied Malta mit seiner exponierten geografischen Lage – total ausgeschöpft waren, wurde von vielen Politikern (gerade auch von so genannt «christlichen» Parteien, sowohl in Deutschland – die CSU – als auch in Österreich – die ÖVP – wie in der Schweiz – die CVP) plötzlich das Schlepperwesen zum hauptsächlichen, wenn nicht gar dem alleinigen Grund für das Anschwellen des Flüchtlingsstromes nach Europa erklärt.

Schlepper wurden in Westeuropa während des Kalten Krieges gerne als Helden verehrt, welche DDR-Bürgern zur Flucht in den Westen verhalfen.

Dass Schlepper ein Geschäft mit Flüchtlingen machen, ist natürlich rein «objektiv», rein nach irgendwelchen juristischen Massstäben in westeuropäischen Staaten gemessen, oft genug ein kriminelles Tun. Mindestens aber ist das Schleppertum unschön.

Aber gerade dies ist eine sehr alte Geschichte:

Wo immer es Verfolgte gab, gab es auch Menschen, die gegen Entgelt bereit waren, Fluchten zu organisieren. Schlepper wurden in Westeuropa bis vor etwa 25 Jahren, namentlich in der Bundesrepublik Deutschland während des Kalten Krieges, gerne als Helden verehrt, welche DDR-Bürgerinnen und -Bürgern oder solchen aus der Tschechoslowakei zur Flucht in den Westen verhalfen. Dass sie dafür Geld kassierten – manchmal sogar von deutschen Staatsstellen – wurde nie problematisiert.

Dass heute Zehntausende syrische Flüchtlinge – Menschen, die um ihr Leben rennen! – bereit sind, Fluchthelfern Geld zu bezahlen, ist aus zweierlei Gründen gut verständlich:

1. Es geht Zehntausenden darum, überhaupt am Leben bleiben zu können, und

2. weist die Fähigkeit, Fluchthelfer oder eben Schlepper zu bezahlen auf gesellschaftliche Verhältnisse hin, welche vor dem Bürgerkrieg in Syrien alltäglich gewesen sind. Es gab zum Beispiel ein funktionierendes Bankenwesen für die Allgemeinheit. Es gab die Möglichkeit, Sparguthaben für «später» anzureichern. Kurz: Es existierte unter der Assad-Diktatur ein allgemeinverbindliches ziviles Rechtswesen.

Viele syrische Familien sind aus diesem Grund in der Lage gewesen, Erspartes für ihre Flucht einzusetzen. Das sind keineswegs grosse Vermögen, sondern Sparguthaben, die «man» während eines Arbeitslebens zur Seite gelegt hat.

(In diesem Zusammenhang kann man daran erinnern, dass während der Nazizeit sehr viele jüdische Menschen, ganze Familien, für ihre Flucht aus Europa hinaus auch an nicht oder nicht nur aus rein humanitären Gründen aufgebaute Fluchthelferorganisationen Geld bezahlt haben.)

Die Flüchtlinge in den Lagern frieren und hoffen auf etwas, das nicht eintrifft, nämlich die Rückkehr.

Wäre ich betroffen, und hätte ich irgendwelche, und wären es bloss bescheidene, Mittel zur Verfügung, ich würde sie selbstredend für mein Überleben einsetzen – auch wenn ich danach nichts mehr besitzen würde.

Wegen Schlepperbanden allerdings ist der Flüchtlingsstrom aus Syrien, aus dem Irak und – zur Zeit etwas in mediale Vergessenheit geraten – aus Libyen (Lampedusa!) nicht entstanden, sondern wegen eines flächendeckenden, das Gebiet des Irak wie von Syrien umfassenden mörderischen Bürgerkriegs.

Der irakische Bürgerkrieg dauert, mal intensiver, mal etwas aus der «Berichterstattung» hinausgerutscht, seit Bushs und Blairs Irakkrieg im Frühjahr 2002 an. Der syrische Bürgerkrieg steht inzwischen im vierten Jahr. In den beiden Nachbargebieten sind seit 2002 bis heute insgesamt fast zehn Millionen Menschen immer wieder auf der Flucht.

Man muss sich einfach vor Augen führen, was das heisst:

«Man» flieht meistens nicht einmal, quasi von A nach B. Und bleibt dann in B, bis man wieder nach A zurückkehren kann.

Man muss, will man überleben, meistens erst von A nach B, dann von B nach C fliehen, weil in B eine andere Bürgerkriegspartei Mördereien beginnt. C ist aber wiederum im Bereich von Fassbombeneinsätzen der syrischen Armee oder von den Scharfschützen und den Panzergeschützen all der von Katar oder Saudi-Arabien mit unbegrenzter Anzahl Menschenvernichtungswaffen ausgerüsteten Söldnerarmeen unter ständigem Beschuss, also muss man nach D weiterfliehen. Vielleicht auch nach Jordanien, in den längst von in die Flucht getriebenen Menschen überfüllten kleinen Libanon oder in die Türkei.

Dort, in einem Drittland, wird man dann wieder herumgeschoben, in Lager eingezwängt, zur totalen Untätigkeit gezwungen. Es kommt die kalte Jahreszeit. Man friert, man hofft auf etwas, das nicht eintrifft, nämlich die Rückkehr. Es folgt das Frühjahr, und man wird alltäglich belehrt, dass die Kriege in der Heimat einfach weitergehen.

Was würde ich in einer solchen Situation machen – sofern ich überhaupt noch in der Lage wäre, irgend etwas zu unternehmen?

III

Sind die Flüchtlinge aus Syrien, jene aus dem Irak, jene aus Libyen, jene aus dem Süd-Sudan, jene aus Eritrea und so weiter, an Leib und Leben bedroht?

Natürlich ist nicht jede flüchtende Person beispielsweise aus einer Millionenstadt wie Aleppo direkt, von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod konfrontiert worden. Allerdings: Sehr viele Menschen in dieser Stadt wurden getötet, weil sie zum Beispiel Nahrungsmittel beschaffen wollten, damit ihre Familie nicht verhungert. Es ist eine oft unmittelbar, aber auch eine mittelbar erfahrene Todesdrohung, anonym, nicht gegen eine bestimmte Person gerichtet, sondern gegen Zivilisten, gegen Kinder, gegen dich, gegen mich, genauer: Gegen Menschen, die sich auf Strassen, Plätzen, in Hauseingängen bewegen, nichts als bewegen.

Die individuelle Person kann nichts gegen diese anonyme Todesbedrohung unternehmen. Ja, sie ist ihr sehr oft solange ausgesetzt, als sie am Ort verbleibt, wo diese Drohung ununterbrochen existiert.

Auf diese oder ähnliche Weise entsteht dann ein Flüchtlingsstrom.

Natürlich sind einige Länder und deren polizeiliche, asyltechnische und rechtliche Einrichtungen von einem derart angeschwollenen Flüchtlingsstrom, wie er seit einigen Wochen über den Balkanweg auf Europa «überschwappt», überfordert.

Keine Ein-für-allemal-Lösungen

Politisch ist diese Überforderung – wie die Beispiele Deutschland, Österreich und Schweden eindrücklich zeigen – gut zu verarbeiten, wenn sich Politikerinnen und Politiker nicht scheuen, Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten, momentane Problemsituationen offen zu diskutieren und daneben an den menschlichen Anstand und die mitmenschliche Hilfsbereitschaft zu appellieren. Das geht. Da wird dann vielleicht einmal eine Grenze kurzfristig geschlossen.

Da fahren ein paar Züge nicht.

Wenn ein Unwetter Züge stoppt, gibt es darüber keine Diskussion. Wenn ein menschliches Unwetter, nämlich ein mörderischer Bürgerkrieg, ein paar logistische Probleme schafft, wird leider von vielen Verantwortlichen in diversen Ländern auch in der EU sofort vergessen, was Hilfestellung im Augenblick der Not bedeutet.

Nun hat man also ein Sommerproblem in Europa, in der EU.

Es ist nicht das erste Problem, welches die EU in einem ihrer Grundsätzen trifft. Ständig gab es solche Krisen, und nie wurden «grosse», also Ein-für-allemal-Lösungen gefunden. Wie soll so etwas in einem nicht homogenen Verbund, in einem Staatenbündnis überhaupt je möglich sein?
Es ist auch nicht möglich im Alltag der kleinsten Einheiten innerhalb einer Gesellschaft, sei es die Familie oder eine Wohngemeinschaft, genau so wenig wie etwa im Staat namens Schweiz oder im Kanton namens Basel-Stadt und so weiter.

Vis-á-vis des Flüchtlingsstromes 2015 zeigen deutsche Regierungspolitiker – nicht alle, aber diejenigen, welche die Hauptverantwortung tragen – eine erstaunliche Flexibilität und zugleich eine Grundsatztreue gegenüber den internationalen Flüchtlingskonventionen gerade auch gegen die Hetzer und Xenophoben von Rechtsaussen und gegenüber jenen rein juristisch argumentierenden Bedenkenträgern, welche versuchen, mit dem Potenzial der Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung Wahlkampf zu betreiben oder sonstwelche politischen Suppen zu kochen.

Unsinn ist leichter auszusprechen als Sinnvolles zu erarbeiten.

In der Schweiz bewirtschaftet die SVP Begriffe wie «Asylindustrie», «Asylchaos», «Scheinasylanten», «Wirtschaftsmigration» und auch den Begriff «Völkerwanderung» systematisch. Ihr Wahlkampf besteht wesentlich aus gerade noch nicht strafbarer Hetze gegen Flüchtlinge, gegen Fremde und gegen Menschen, welche gegenüber Flüchtlingen, Fremden offenere Haltungen einnehmen als die SVP-Propaganda. Kritisiert man die Verantwortlichen dieser hetzerisch angelegten Wortschöpfungen, behaupten diese geschwind und immer (man kann sich darauf verlassen), man bedrohe mit solcher Kritik die Meinungsfreiheit. Das ist natürlich Unsinn. Aber Unsinn ist leichter auszusprechen als Sinnvolles zu erarbeiten.

Deshalb stelle ich hier drei Ausschnitte aus Reden vor, welche anfangs September, also zu einer Zeit, in der das Flüchtlingselend in Europa so offenkundig geworden ist, dass es nicht mehr übergangen werden konnte, während der Asylgesetzrevisionsdebatte im schweizerischen Nationalrat gesprochen wurden:

«60 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Ein Bruchteil eines Bruchteils dieses Flüchtlingsstroms wird bis Ende Jahr in der Schweiz um Asyl bitten, nämlich ungefähr 30’000 Menschen – 30’000 von 60 Millionen Flüchtlingen; das sind die Dimensionen, die wir uns vor Augen halten müssen.

Mit diesem verhältnismässig extrem kleinen Anteil versucht die SVP nach wie vor ungerührt, ein Asylchaos in der Schweiz herbeizureden und herbeizuschreiben. Dem kann nicht genug widersprochen werden. Die Zahl der Asylsuchenden in der Schweiz mag derzeit zugenommen haben, und am einen oder anderen Ort ist es vermutlich in der Tat schwierig, genügend Unterkünfte bereitzustellen. Doch deshalb haben wir noch längst kein Chaos, sondern eine Herausforderung, der wir uns mit Kreativität und Engagement stellen können und stellen müssen, denn die Asylverfahren dauern in der Schweiz lange, teilweise über Gebühr lange. Das führt dazu, dass die Betroffenen viel zu lange im Ungewissen sind, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen oder ob sie wieder in ihr Herkunftsland zurück müssen.»
(Silvia Schenker, SP)

«An sich ist es unverständlich, dass wir über eine derartige Vorlage einen ganzen Tag lang diskutieren müssen, denn diese Vorlage ist in einer früheren Phase von uns allen gewünscht worden. Es ist versucht worden, diese Diskussion vor den Hintergrund des Schlagwortes ‹Asylchaos› zu stellen. Dabei geht es um eine strukturierte Revision des Asylgesetzes, wie wir sie schon früher gemacht haben.

Es geht darum, Zustände zu verhindern, die eine Ausnahmesituation im Sinne von Artikel 55 des Asylgesetzes hervorrufen. Es geht darum, das Chaos zu verhindern, das die SVP offenbar so gerne hätte, um daraus Kapital zu schlagen. Wenn die SVP als grösste Partei unseres Landes die Gemeinden auffordert, Widerstand zu leisten gegen klare gesetzliche Abläufe, so ist das ihrer eigentlich unwürdig, es zeigt aber auch, worum es hier geht.»
(Kurt Fluri, FDP)

«Die Aufnahmepolitik betreffend der zurzeit stattfindenden Völkerwanderung nach Europa, die in erster Linie die Schlepper bereichert, setzt eindeutig falsche Anreize und weckt falsche Hoffnungen. Je mehr Personen mittels Schleppern nach Europa kommen, desto mehr werden ihnen folgen. Die Dramen werden mit einer grenzenlosen Aufnahmepolitik nicht aufhören, vielmehr wird sie die Situation erst recht anheizen. In der aktuellen Diskussion ist es deshalb umso wichtiger, dass klar unterschieden wird zwischen an Leib und Leben verfolgten Flüchtlingen nach der Genfer Konvention, Kriegsflüchtlingen, und eben illegalen Wirtschaftsmigranten.

Wir haben heute die Situation, dass unsere Asylunterkünfte wie auch unsere finanziellen und personellen Ressourcen massgeblich von Personen in Beschlag genommen und aufgebraucht werden, die weder an Leib und Leben verfolgt sind noch aus einem Kriegsgebiet stammen. Rund 40 Prozent aller Asylgesuche des laufenden Jahres wurden von Personen aus Eritrea eingereicht. Syrer machen hingegen lediglich sieben Prozent aus.»
(Heinz Brand, SVP)

(Quelle: Amtliches Bulletin – Die Wortprotokolle von Nationalrat und Ständerat)

 

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