Der Frieden diskriminiert diejenigen, die keinen Krieg führten

Boris Kozemjakin ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo. Als Vorsitzender des interreligiösen Rats von Bosnien-Herzegowina steht er für die Aussöhnung. Doch er fühlt sich als Bürger zweiter Klasse, da Juden vom Staatsdienst faktisch ausgeschlossen sind.

Boris Kozemjakin, 67, hegt die Hoffnung, dass die jüdische Gemeinde in Bosnien-Herzegowina wieder wächst.

(Bild: KATHARINA EBEL/HGFD)

Boris Kozemjakin ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo. Als Vorsitzender des interreligiösen Rats von Bosnien-Herzegowina steht er für die Aussöhnung. Doch er fühlt sich als Bürger zweiter Klasse, da Juden vom Staatsdienst faktisch ausgeschlossen sind.

Im austro-ungarischen Quartier Sarajevos, zwischen der Ferhadija-Moschee, der orthodoxen Mariä-Geburt-Kathedrale und der katholischen Kathedrale Herz Jesu befinden sich die Räume des interreligiösen Rats von Bosnien-Herzegowina.

Vor allem wegen des Bürgerkrieges der 1990er-Jahre ist das Verhältnis zwischen Muslimen, Katholiken und orthodoxen Christen im Land angespannt: «Es waren leider auch Religionsvertreter, die sich an der Kriegstreiberei beteiligt haben und die bis heute Kriegsverbrecher in Schutz nehmen. Hier im Rat unterhalten wir uns über solche Fragen, damit sie einem friedlichen Zusammenleben in der Zukunft nicht im Weg stehen», sagt Boris Kozemjakin. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Sarajevos sitzt derzeit dem Rat vor. Die jüdische Minderheit Bosnien-Herzegowinas hat sich im Krieg auf keine Seite gestellt und wird von keiner nationalen Gruppe besonders angefeindet. 

«Wir Juden sind als Gruppe viel zu klein, um uns nur um unsere Partikularinteressen zu kümmern. Deswegen setzen wir uns besonders für ein geeinigtes Bosnien-Herzegowina ein, in dem alle Bürger dieselben Rechte haben. Wir stehen dem bosnischen Staat am loyalsten gegenüber», sagt Kozemjakin.

«Babyboom» macht Hoffnung für die Zukunft

Danken tut der Staat das seinen jüdischen Bürgern allerdings nicht. Das Staatspräsidium wird gemäss dem Dayton-Vertrag immer aus drei Personen gebildet, einem Bosniaken, einem Kroaten und einem Serben. Wer nicht zu einer dieser Gruppen gehört, hat keine Aussicht, dieses oder ein anderes Staatsamt zu besetzen.

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Bosnien-Herzegowina, Jakob Finci, und der Vertreter der Roma im Land, Dervo Sejdić, reichten deswegen vor einigen Jahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage ein. Sie bekamen im September 2009 recht, doch geändert hat sich nichts. Wer sich nicht als Bosniake, Kroate oder Serbe definiert, bleibt weiterhin ausgeschlossen.

«Es ist traurig, dass meine Tochter nicht mehr hier lebt. Aber wer kann ihr das übel nehmen bei der Situation im Land?» 

Boris Kozemjakin macht sich allerdings eher generell Sorgen um die Zukunft des jüdischen Lebens in Bosnien-Herzegowina. Die letzte grosse Auswanderungswelle fand während des Krieges statt. Auch Boris Kozemjakins Tochter lebt mittlerweile mit ihrem muslimischen Mann in Israel. «Ich finde es traurig, dass sie nicht mehr bei uns ist. Aber wer kann es ihr denn übel nehmen bei der Situation im Land? Israel hat ihr die Möglichkeit gegeben, am Ben-Gurion-Flughafen zu landen und kurz darauf die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen», sagt Kozemjakin.

In Bosnien-Herzegowina leben heute noch etwas über 1000 Jüdinnen und Juden, die meisten davon in Sarajevo. Nur dort, in der Hauptstadt, und in Doboj finden noch regelmässig jüdische Gottesdienste statt. Das Durchschnittsalter in der Gemeinde ist recht hoch, die meisten Juden leben in gemischten Ehen, und besonders religiös sind nur die allerwenigsten. Nach einigen Jahren mit weniger als zwei Geburten wurden im Jahr 2015 ganze 13 Kinder in die jüdische Gemeinde Bosnien-Herzegowinas geboren. «Das ist ein jüdischer Babyboom. Es gibt wieder Hoffnung für die Zukunft des Judentums in diesem Land», sagt Boris Kozemjakin.

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