Manchmal wird Ruedi Bachofner wehmütig. «Früher kauften wir bei Frau X am Kiosk die Zeitung, im Tante-Emma-Lädeli unsere Lebensmittel, bei Herrn Y gingen wir essen – und sie alle kamen zu uns zum Haare schneiden.» Man habe sich gegenseitig unterstützt im Gewerbe, heute sei das anders.
Ruedi Bachofner ist im Iselin-Quartier aufgewachsen und hat den grössten Teil seines Berufslebens ebenfalls dort gewirkt. Seit 30 Jahren sind er und seine Frau selbstständig und führen den «Coiffeur zem goldige Schärli». «Früher hatte ich mal eine goldene Schere, die ist aber nicht mehr zeitgemäss», lacht der 66-Jährige und seine grauen Schnurrbartspitzen zittern vergnügt.
Jeder Gewerbler schaut für sich
«Zudem hiess es hier nicht immer Coiffeur, sondern man sagte Haarschneiderei oder auf Baseldeutsch: Heerlifilzer. Aber auch das ist nicht mehr zeitgemäss.» Wichtig war den Bachofners aber, dass der Name bodenständig bleibt und sich nicht plötzlich neumodische französische oder gar englische Begriffe einschlichen.
Eingeschmuggelt hat sich über die Jahre aber eine leise Frustration. Immer wieder spricht Bachofner über Loyalität. Ein Dialog finde im Quartier kaum statt zwischen den Gewerbetreibenden, was auch die gegenseitige Unterstützung untergrabe.
Heute sind Frisuren wie die der grossen Fussballstars gefragt und der Coiffeurtermin soll sofort und nicht erst übermorgen möglich sein; viele wollen auf dem Nachhauseweg etwas im Stehen essen oder es gleich mitnehmen; Filialen grosser Marken mit grossem Angebot und langen Öffnungszeiten haben Tante Emma verdrängt. Die Welt ist sprunghaft geworden.
Die ethnische Diversität im Iselin-Quartier trage ihren Teil dazu bei. Viele, so Bachofner, blieben unter sich. Die türkischen Lebensmittelhändler gehen zum türkischen Coiffeur, die thailändischen Angestellten essen im Restaurant ihrer Landsleute und die Schweizer Gewerbler tun es ihnen mittlerweile gleich.
Nicht nur der Blick zurück stimmt Bachofner wehmütig, auch die Zukunft bereitet ihm Sorgen: «Viele Leute, die ein Gewerbe eröffnen, brauchen heute keine wirkliche Ausbildung mehr dazu; hier ein Kurs, dort ein Wirtepatent, das wars. Aber mit diesen Qualifikationen kann man nicht andere ausbilden. Das wird sich früher oder später in der Situation für angehende Lehrlinge niederschlagen.»
Bachofner betont aber: «Dies betrifft das Gewerbe – gegen die Menschen als Privatpersonen, egal woher sie kommen, habe ich überhaupt nichts.»
Fehlt ihm der Dialog im Quartier, so erlebt Bachofner ihn doch immer noch jeden Tag bei seiner Arbeit. Die Wände des Salons sind in angenehmem Lila gehalten, die Bäume werfen durchs Fenster tanzende Schatten an die Wand. Bachofners kennen ihre Kunden – dass die Beziehung zu ihnen persönlich ist, liegt ihnen sehr am Herzen. Und so sind die Bachofners so etwas wie günstige Therapeuten. «Die meisten Kunden kennen wir schon lange und die Situation beim Haareschneiden ist eine intime», berichtet Bachofner.
Der Kopf ist eine sehr verletzliche Zone, viele Menschen mögen es nicht, wenn sie ein Fremder dort anfasst. «Bei Kindern ist es einfach zu erkennen», wirft Andrea Bachofner ein: «Wenn sie es mögen, schlafen sie ein, wenn nicht, schreien sie.» Aufgrund dieser Intimität und der 1:1-Situation öffnen sich viele Leute dem Coiffeur und erzählen von ihren Problemen, manchmal auch den Freuden.
Viel sagen muss der Coiffeur seinerseits nicht, oftmals reicht ein offenes Ohr. Wenn er doch um seinen Rat gebeten wird, antwortet er zuerst mit ironischem Ton: «Jetzt spricht Doktor Bachofner.»
Die Kundschaft besteht vor allem aus Kollegen und Bekanntschaften, die schon seit Jahren den Weg «zem goldige Schärli» auf sich nehmen, selbst wenn sie nicht mehr im Quartier wohnen. «Einer kommt sogar extra aus Luzern», sagt Bachofner. Man spürt, das wärmt sein Herz, zeugt es doch von eben dieser Loyalität, die ihm inzwischen im Quartier fehlt.
Früher oder später stellt die Stammkundschaft die Bachofners und ihren Salon vor Probleme: Sie stirbt.
Deshalb nimmt er regelmässig den Weg ins Altersheim auf sich, um den Stammkunden, die nicht mehr kommen können, dort die Haare zu schneiden. «Oder er geht ins Spital», ergänzt der Kunde, der gerade unter Bachofners Händen sitzt, und lächelt ihn im Spiegel dankbar an.
Früher oder später stellt die Stammkundschaft die Bachofners und ihren Salon aber auch vor Probleme: Sie stirbt. Deshalb bietet nun eine zusätzliche Coiffeuse mit entsprechender Ausbildung Maniküre und Nagelpflege an, um neue, vielleicht jüngere Kundschaft anzulocken.
Doch Bachofner weiss: Es ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein. «Ohne Freude würde ich das schon lange nicht mehr machen und hätte wie viele Berufskollegen in eine andere, lukrativere Branche gewechselt.» Ursprünglich hat er den Beruf ergriffen, weil er «halt eine Lehre machen musste». Er war schon in jungen Jahren gerne kreativ – da war Coiffeur naheliegend.
Einen Moment lang ists wie früher
Will er denn nicht noch etwas anderes machen? «Oh, ich mache vieles», winkt Bachofner lachend ab. Piccolo in der Fasnachtsclique, Tennis, Zunft, seit Kurzem auch noch Golf. Seine 66 Jahre merkt man ihm nicht an.
Als er seinen Kunden verabschiedet, klopfen sie sich gegenseitig auf die Schulter und lachen. Als der Kunde aus der Tür tritt, ruft Bachofner ihm noch nach: «Wenn du draussen bist, erzähle ich der Journalistin dann, was du für ein Siech bist.»
Gelächter, die Tür fällt ins Schloss, im Laden kehrt wieder Ruhe ein und für einen Moment fühlt es sich wohl so an wie früher. Die Bäume vor der Tür sind noch dieselben wie damals. Die Bachofners fegen die Haare zusammen und haben dabei ein Lächeln auf den Lippen.
«Coiffeur zem goldige Schärli», Strassburgerallee 104, Basel.