Zehn Jahre war der Wahlbasler Matthias Kuge für Médecins sans frontières weltweit auf Kriegsschauplätzen von Liberia bis zuletzt in Syrien im Einsatz. Er zieht eine kritische Bilanz der westlichen Entwicklungshilfe, ist aber dennoch ein wenig Weltverbesserer geblieben.
Er hatte Karl Marx gelesen und – mit Begeisterung! – Ethnologie studiert. Dann hängte er noch eine Lehre als Krankenpfleger an. «Ja, ich wollte einen richtigen Beruf lernen», sagt Matthias Kuge als Begründung, «und nicht an der Uni bleiben oder in einem Museum landen, um Masken abzustauben.»
Wir sitzen draussen in einem Café der Basler Innenstadt, die Sonne brennt schon am Morgen auf die umliegenden Hausdächer. Kuge rührt in seinem schwarzen Kaffee, er trägt ein weisses Hemd, die Haare kurz geschnitten, auf der Nase eine kreisrunde John-Lennon-Brille, die gleiche wie vor 20 Jahren.
Aufgewachsen in der Nähe von Frankfurt am Main, kam Kuge für die Berufslehre nach Basel ins Bruderholzspital. «Wegen meiner Brille und meines Studiums wollten die zuerst prüfen, ob ich nicht zwei linke Hände habe.» Nach einem Praktikum liessen sie sich aber rasch davon überzeugen, dass er etwas kann. Später machte er eine zweijährige Ausbildung als Anästhesist, und vor gut zehn Jahren stieg er bei Médecins sans frontières ein, der grössten medizinischen Nicht-Regierungsorganisation.
Leben retten mit Rollenspielen
Um medizinische Nothilfe zu leisten, sollte er fortan von Sri Lanka über Tschetschenien und Kongo bis nach Haiti in verschiedenste Krisenregionen der Welt gelangen. Dabei lebte Kuge oft getrennt von seiner Frau, die in Basel blieb.
Bei seinem ersten Einsatz in Liberia, Westafrika, konnte er gleich seinen Sinn fürs Praktische beweisen und nebenbei auch private ethnologische Studien betreiben. Mit einem Jeep war er für ein Projekt der ambulanten Gesundheitsversorgung an der Grenze zur Elfenbeinküste unterwegs, in dem Gebiet, in dem der später wegen Kriegsverbrechen verurteilte Präsident Charles Taylor seinen Feldzug begann.
Da stellte er fest, dass in den Dörfern viele Kinder bei der Geburt starben, weil die örtlichen Hebammen zu wenig gut ausgebildet waren. Also gab er ihnen einen Kurs, etwas, das er in einem Schweizer Spital mit einer strikten Aufgabentrennung nie hätte tun dürfen. Zunächst bereitete er einen Vortrag vor mit den wichtigsten medizinischen Verhaltensregeln. Die Hebammen aber sprachen nicht an. «Das ist halt keine schriftliche, sondern eine orale Kultur», sagt Kuge. Schliesslich kam er darauf, mit den Hebammen Rollenspiele zu machen. Dann hat es funktioniert.
«Ohne Einbezug der Betroffenen gibt es keine Nachhaltigkeit»
Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die der inzwischen 58-jährige Kuge gewonnen hat: Man soll ein Projekt nicht gegen den Willen der lokalen Bevölkerung durchziehen. Noch geschehe dies viel zu oft, und aus diesem Grund funktioniere die Entwicklungshilfe oftmals nicht. «Ohne Einbezug der Betroffenen gibt es keine Nachhaltigkeit», sagt er und erzählt als Beispiel von einem Gesundheitsprojekt in der Elfenbeinküste, das er nach Jahren wieder besucht hat: Nichts sei davon übrig geblieben. Westlichen Journalisten würden auf Medienreisen nur Projekte gezeigt, die funktionierten, sagt er.
Manchmal tobte der Krieg auch so heftig, dass die Hilfsorganisation, die 1999 mit dem Friedensnobelpreis geadelt worden war, ein Projekt aufgeben musste. So arbeitete Kuge, inzwischen zum Verantwortlichen für Anästhesie bei Médecins sans frontières Schweiz aufgestiegen, letztes Jahr in einem Spital in Syrien. Er war im Nordosten des Landes, im Gebiet der Freien Syrischen Armee, die gegen das Assad-Regime kämpft. «Das war schon sehr heftig!» Assads Truppen setzten Fassbomben ein, die sie mit Flugzeugen abwarfen. Kuge sah verstümmelte Erwachsene, verbrannte Kinder. Er hat dort Tag und Nacht als Anästhesist gearbeitet, machte Narkosen, während ein Chirurg operierte. «Das macht man drei vier Wochen, dann ist man erledigt.»
Entführte Helfer
Das Spital befand sich im Keller eines Wohnhauses, die Einrichtung war primitiv. Andererseits musste er sich bei solchen Noteinsätzen auch nicht mit Bürokratie herumschlagen wie in einem westlichen Spital. Schliesslich wurde die Gefahr von Entführungen aber zu gross, sodass es für Médecins sans frontières zu riskant wurde, weiterzumachen.
Dies sei eine Tendenz, die auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz festgestellt habe: Der Respekt vor den humanitären Helfern schwindet – es gibt immer mehr Entführungen. Für die Freilassung eines einzigen Opfers werden Summen bezahlt, die in die Millionen gehen können, vermutet Kuge. Und wenn eine Organisation oder ein Staat nicht auf die Lösegeldforderungen eingeht? «Dann werden die Opfer so lange behalten, bis dennoch gezahlt wird.»
«Nach zehn Jahren als Nothelfer besteht die Gefahr, dass man abgebrüht wird.»
Für ihn persönlich war die Furcht vor Entführungen nicht der Grund, weshalb er Ende letzten Jahres seinen Job kündigte. Um sich selbst hatte er keine Angst. Was dann? «Nach zehn Jahren besteht die Gefahr, dass man abgebrüht wird», sagt er, während die Sonnenstrahlen unseren Tisch erreichen. Er hatte auch genug vom «NGO-Zirkus», wie er sagt, von diesem Leben in einer Blase: So wohnte er bei vielen Einsätzen nicht bei der lokalen Bevölkerung, sondern in einem Hotel, und er ging mit dem Auto zur Arbeit statt wie die Einheimischen zu Fuss. Dabei ist es der Kontakt mit der Bevölkerung, den er besonders schätzt.
Ideen für eine bessere Welt
Neulich flog er zur Erholung nach Abidjan, in den grössten städtischen Ballungsraum der Elfenbeinküste, so wie andere auf die Kanarischen Inseln reisen. Rein privat. Er besuchte dort eine Freundin. Im Armenviertel Yopougon hat er ein ganz normales afrikanisches Leben gesehen. Das faszinierte ihn. Er wälzt Pläne, einmal ein Filmteam von Arte dorthin zu begleiten. Eine weitere Idee von ihm ist es, ein Computerspiel zu entwickeln, mit dem Pflegepersonal in Afrika lernen kann, wie man mit Verbrennungsopfern umgeht. Schriftliche Anleitungen bringen nichts, findet er. Ein bisschen Weltverbesserer ist Matthias Kuge also geblieben.
Aber einer, der ganz pragmatisch ist: Er sucht sich nämlich auch einen neuen Job. «Ich könnte mir gut vorstellen, wieder als Krankenpfleger zu arbeiten», sagt er. In dieser Branche findet man auch mit 58 Jahren rasch wieder eine Anstellung. Dass er nicht alle Welt damit verdient, stört ihn nicht. Bei Médecins sans frontières hat er gelernt, mit wenig auszukommen.