Er arbeitete bis zu 80 Stunden pro Woche als Unternehmensberater auf der ganzen Welt, doch irgendwann hatte Kilian Wagner genug von der Businesswelt. Nun will er den Brillenmarkt revolutionieren. Dafür gründete er sein eigenes Label und verkauft die preiswerten Designerstücke fortan auch im Kleinbasel.
Klischees können täuschen. Auf den ersten Blick wirkt Kilian Wagner wie so eins: Er hat die obersten Knöpfe des Hemdes offen, gelierte Locken und spricht in geschliffenstem Hochdeutsch – ein scheinbar typischer HSG-Abgänger. Doch das ist Kilian Wagner nicht – das heisst, nicht mehr.
Vor sechs Jahren schloss er die Elite-Uni in St. Gallen ab. Es trieb ihn zuerst zum amerikanischen Unternehmensberatungsriesen McKinsey & Company. Dort beriet er unter anderem einen der grössten Fleisch-Exporteure Brasiliens.
Er arbeitete auch mal 80 Stunden pro Woche und brachte es bis zum Projektmanager – doch nach fünf Jahren hatte Wagner genug: «Selbst wenn du in dieser Welt CEO wirst, bist du immer von anderen Leuten abhängig.» Er wollte selber etwas aufbauen. Statt der «Kohle» entschied er sich fürs «erfüllte Leben» – Wagner wählte das Risiko. Finanziell sei das «natürlich» ein Abstieg gewesen.
«Ein langweiliger Markt»
Er tat sich mit Peter Käser zusammen, ein Surfkollege, mit dem er seit dem Studium befreundet ist. Für ihr gemeinsames Start-Up VIU nutzte der ehemalige Unternehmensberater Wagner seine Erfahrungen von McKinsey und ging «analytisch» vor. Potenzial sahen die beiden «überzeugten Brillenträger» im Schweizer Brillenmarkt: Alle drei Jahre wird pro Brillenträger eine neue Brille gekauft.
Die Hälfte aller Brillen sei schwarz oder grau. «Ein langweiliger Markt», wie Wagner meint. Beherrscht ist die Branche von wenigen Herstellern, unter anderem vom italienischen Weltmarktführer Luxottica. Eine halbe Milliarde Menschen tragen ihre Brillen. Ray-Ban, Oakley und fast alle anderen bekannten Brillen-Marken gehören zum Konzern. Mit ihrer Marktbeherrschung halten die Konzerne die Einkaufspreise für Optiker künstlich hoch – und so liegt in der Schweiz der Durchschnittspreis für eine korrigierte Brille bei 600 Franken. «Willst du einen guten Rahmen, kostet sie locker 1000 Franken – oder mehr.»
Wagner scheint alle wichtigen Zahlen stets im Kopf zu haben, wann immer nötig kann er sie fallen lassen, um sein Gegenüber zu überzeugen. Man spürt den McKinsey-Berater noch in ihm. Der hohe Preis der Brillen sei nicht mit der Qualität zu rechtfertigen. Diese sei meistens nur durchschnittlich. Die vielen Mittelsmänner und die Vertriebsleute verdienen mit. Beides schalten die VIU-Macher mit eigener Produktion, dem Online-Vertrieb und dem Verkauf im eigenen Laden aus. So kosten ihre korrigierten Designer-Brillen meist unter 200 Franken.
Ein Familienbetrieb in den Dolomiten
«Wir wollen das Verhältnis zur Brille verändern», sagt Wagner und doppelt nach: «Sie müssen mehr Spass machen.» Der ehemalige Unternehmensberater weiss, wie man für seine Produkte einen eigenen Markt schafft. Anstatt alle drei Jahre sollten sich die Leute jedes Jahr eine neue Brille kaufen können. Doch dafür müssten sie cool, günstig und dennoch von hoher Qualität sein.
Für ersteres taten sich Wagner und sein Kollege mit dem Schweizer Designer-Duo Aekae zusammen, es kam noch ein Optiker dazu und die Suche nach einer Brillenfabrik begann. Von Mailand aus fuhren sie los und besuchten mehr als 20 Manufakturen in Norditalien. Doch vieles, was sie in den Fabriken gezeigt bekamen, war zusammengesetzte Massenware aus Fernost von mittelmässiger Qualität.
Erst in der Nähe des Bergorts Cortina d’Ampezzo in den Südtiroler Dolomiten wurden sie fündig. Ein kleiner Familienbetrieb produziert hier seit über 30 Jahren Brillenfassungen und garantiert sowohl faire Arbeitsbedingungen wie auch die Qualität. Im VIU-Laden im Kleinbasel hängt ein Foto des Betriebs. In einem Weiler am Waldrand liegt die kleine Fabrik, die man leicht auch mit einem Stall verwechseln könnte. Wenn Wagner und seine Kollegen den Betrieb besuchen, übernachten sie jeweils beim ehemaligen Geschäftsführer, der das Unternehmen seiner Tochter übergeben hat. Am Waldrand betreibt der alte Mann ein kleines Bed & Breakfast.
Vielleicht ist Wagners Optimismus Programm. Schliesslich war Überzeugungsarbeit jahrelang sein Kerngeschäft.
Mittlerweile betreibt Wagner mit seinen Kollegen zwei Flagshipstores – in Zürich und Basel. Den Kleinbasler Laden an der Feldbergstrasse 70 fanden sie per Zufall. Eigentlich schauten sie sich eine andere Liegenschaft an, doch im Vorbeigehen sahen sie einen Aushang für Nachmieter im Schaufenster des ehemaligen Mediencafés – schliesslich konnten sie die Liegenschaft übernehmen.
Der nächste Schritt: nach Deutschland
Sie legten das Eichenparkett unter dem Teppich frei, restaurierten die Stuckatur an der Decke und stellten selbstdesignte, graue Brillenregale hinein. Noch zwei oder drei weitere Läden sollen in anderen Schweizer Städten folgen. Und Wagner hat noch grössere Pläne: «Der nächste grosse Schritt ist die deutsche Expansion.» Zuerst soll ein Laden in München eröffnet werden und wenn möglich, auch woanders.
Deutschland sei «ein wenig preissensitiver» als die Schweiz. Bei solchen Wörtern spürt man wieder Wagners Hintergrund in der Wirtschaftswelt. Lange Arbeitszeiten sind für ihn eine Frage des «Lifestyles», seine Kundschaft bei VIU soll «happy» sein und er möchte das Unternehmen die nächsten fünf bis zehn Jahre selber «shapen», das heisst es aufbauen und weiterentwickeln.
An der Zuversicht des 33-Jährigen glaubt man zu spüren, dass es seinem «Baby» gut geht. Doch vielleicht ist dieser Optimismus auch Programm. Schliesslich war Überzeugungsarbeit jahrelang Wagners Kerngeschäft. Auch wenn er die Businesswelt hinter sich lassen wollte, nahm Kilian Wagner diese Fähigkeiten mit in sein «erfülltes Leben». Im Weg stehen werden sie ihm hier sicher nicht.