Denisiya Pulendran stemmt sich auf die graue Trage und legt sich hin. Die schweren Kampfstiefel an den Füssen, streckt sie ihre Beine aus und betrachtet aus der Horizontalen, wie ihre Kollegin Saskia Feusi ihren Arm desinfiziert, eine Vene sucht und langsam eine dicke Nadel unter die Haut schiebt.
Neben Feusi steht ein Wachtmeister, der jede ihrer Handlungen verfolgt. «Tuts weh?», fragt sie mit einem prüfenden Blick zu ihrer Kollegin. Langsam bahnt sich die Nadel ihren Weg. «Feusi, würde der Soldat stark bluten, dann würden Sie auch nicht so zimperlich vorgehen», mahnt der Wachtmeister ungeduldig.
Neben den beiden Baslerinnen üben sieben weitere Sanitätssoldaten, wie sie Infusionen legen müssen. Die Hälfte liegt auf den Tragen und lässt sich stechen, die anderen versuchen nacheinander, die Venen zu treffen und den Schlauch mit der Kochsalzlösung anzuschliessen.
Der Soldat wimmert, die Soldatin liegt stoisch da
Die Rekruten sind erst in der fünften Ausbildungswoche, noch sitzen die Handgriffe nicht perfekt. «Ihre Kanüle hat den kontaminierten Tisch berührt. Wegwerfen», befiehlt der Wachtmeister. Feusi, 22, die eine Ausbildung als Medizinische Praxisassistentin abgeschlossen hat, ist unsicher. «Infusionen haben wir in der Ausbildung nicht gelernt», erklärt sie. «Und die Nadel ist ziemlich dick.»
Der junge Mann, der neben Feusi und Pulendran auf der Trage liegt, stöhnt, die Farbe schwindet so schnell aus seinem Gesicht, wie sich das Pflaster bei der Einstichstelle mit Blut vollsaugt. «Ist es normal, dass sich das kalt anfühlt?», fragt er den Wachtmeister. Pulendran, 21, hingegen liegt stoisch da, verzieht keine Miene. Sie beobachtet Feusi, hört den Vorgesetzten zu, um alles aufzusaugen.
Feusi und Pulendran gehören zu den begehrtesten Neuankömmlingen im Militär: den Frauen. Bei ihnen sieht die Schweizer Armee das grösste Potenzial, um gegen den Mitgliederschwund ankämpfen zu können. Kein Wunder: Zwischen 2015 und 2017 sank der Anteil der Aktiven um knapp sieben Prozent.
Frauen machen nur gerade 0,7 Prozent der Armeeangehörigen aus. Dafür bleiben jene Frauen, die einmal die Rekrutenschule absolviert haben, öfter dabei und machen Karriere. Hier liegt also noch einiges Potenzial.
Innerhalb des Militärs scheint die Ausbildung zur Sanitätssoldatin bei den Frauen äusserst beliebt zu sein: Ihr Anteil an dieser Truppe beträgt 8,5 Prozent. «Die Nähe zum Gesundheitswesen macht diese Truppe sicherlich attraktiver für Frauen», meint Schulkommandant Daniele Meyerhofer. Viele Rekrutinnen möchten später im Zivilleben in diesem Bereich arbeiten und wollen sich im Militärdienst bereits erste Fertigkeiten aneignen.
Die Armee lässt die Zügel etwas lockerer
Das ist auch bei Saskia Feusi so: Sie will Rettungssanitäterin werden. Weil die Plätze rar und begehrt sind, muss sie aus der Masse herausstechen. «Mit einem absolvierten Militärdienst kann ich das sicher», sagt sie und lacht. Feusi lacht beinahe während des ganzen Gesprächs und auch später, als sie wieder bei ihrer Kompanie ist. Auch wenn sie im grünen Tarnanzug dasteht, die Pistole am Oberschenkel fixiert, den «Mutz» tief ins Gesicht gezogen: Ganz ernst ist ihr Gesicht dabei nie.
Das ist bei Denisiya Pulendran anders. Sie nimmt das Militär extrem ernst und sagt auch vor ihrem Leutnant, dass für sie der Drill zu kurz kommt. «Den ersten Fünf-Kilometer-Marsch haben wir erst diese Woche, und erst noch nur mit dem halben Gepäck.» Sie blickt ein bisschen ratlos. «Wieso denn?», fragt sie den Leutnant beinahe vorwurfsvoll. Er zuckt mit den Schultern. «Damit Sie sich an die Strapazen gewöhnen können.»
Auch das ist eine Taktik der Armee, um die Zahl der Aussteiger zu senken. Der Leistungsdruck ist nicht von Beginn weg hoch, jeder soll erst eine gewisse Grundfitness erarbeiten, bevor die langen Märsche, das schwere Gepäck und die mühsamen Parcours kommen. «Auch sonst kommen wir den Rekruten entgegen», versichert Schulkommandant Meyerhofer. «Sie müssen die Kampfstiefel nicht immer tragen, dürfen während dem Dienst Büroarbeiten erledigen und wir haben auch die Verpflegung verbessert.» Die Armee will damit das Leben der Rekruten etwas einfacher machen.
Die Rekrutinnen bekommen einen freien Mittag, um mit der TagesWoche über ihr Leben in der Kaserne zu sprechen. Die jungen Frauen schwärmen von ihren Zugkollegen, mit denen sie schnell zu einer Einheit verschmolzen seien. «Wenn jemand nicht mehr den Berg hochlaufen kann, nimmt ihm ein anderer den Rucksack ab», erzählt Pulendran. «Ja, das bist dann ja meistens du, die zwei Rucksäcke schleppt», erwidert Feusi. Sie blickt Pulendran beeindruckt an. «Sie ist überall bei den Stärksten mit dabei.»
Eigentlich ist Denisiya Pulendran enttäuscht, dass sie bei den Sanitätssoldaten gelandet ist. Sie wollte zur Infanterie, wo die Voraussetzungen strenger sind, die physische Ausbildung härter ist. «Aber ich hab den Sporttest verkackt. Ich hätte immer noch hingehen können, aber halt ein Jahr später. Solange wollte ich nicht warten.» Sie entschied sich dann für die Sanitäter, weil sie später Medizin studieren möchte.
«Viele Secondos sagen, dass sie dem Land etwas zurückgeben möchten. Eine Einstellung, die vielen Schweizern fehlt.»
Auch eine Militärkarriere schliesst sie nicht aus. Und das, obwohl sie im Moment noch grösste Mühe hat mit der vorgeschriebenen Art, wie die anderen Militärangehörigen zu grüssen sind. «Aber ich hab noch eine Weile Zeit, das zu lernen.»
Pulendran ist überzeugt, dass eine starke Armee wichtig ist für jedes Land. «Mein Vater hat selbst im Krieg gekämpft. Ich weiss, was es bedeutet, wenn man einen Krieg verliert.» Ihre Eltern flüchteten aus Sri Lanka, Denisiya wurde in der Schweiz geboren. So sehr sie selbst den Militärdienst für sich einfordert, so sehr stellt sie sich auch gegen eine Wehrpflicht für alle: «Egal, ob Mann oder Frau: Wenn man nicht ins Militär will, sollte man nicht gehen. Es darf für niemanden eine Qual sein.» Sie sieht die Uniform und den Dienst eher als Privileg, wo jeder und jede alles geben darf und soll, um die Truppe zu unterstützen.
Die Einstellung von Pulendran beobachtet Schulkommandant Meyerhofer auch bei anderen Rekruten mit Migrationshintergrund: «Viele sagen, dass die Schweiz ihre Eltern aufgenommen hat, als diese nichts mehr hatten. Und dass sie selbst dem Land jetzt etwas zurückgeben möchten. Eine Einstellung, die vielen Schweizern fehlt.»
Wenn Meyerhofer vom Militärdienst spricht, klingt es mehr nach bezahlter Lebensschule denn aufgezwungenem Dienst. «Wenn ein Rekrut Leutnant wird, hat er in einem Jahr 60’000 Franken verdient. Das ist ein guter Lohn in diesem Alter», rechnet er vor. Für ihn ist deshalb der Zivildienst nur eine Option, wenn die Männer einen Gewissenskonflikt haben. «Aber auch hier finde ich, dass dies tiefer überprüft werden sollte. Wenn jemand die RS ohne Schwierigkeiten hinter sich gebracht hat, ist gründlich zu beurteilen, weshalb der Soldat plötzlich vor dem Wiederholungskurs einen Gewissenskonflikt entwickelt hat.»
Pulendran und Feusi laufen über den Kasernenplatz auf ihre Zimmer. Nachdem die Rekrutinnen am Morgen einen Vortrag zum Blutkreislauf besucht haben, müssen sie jetzt ihre Ausrüstung holen. Der moderne Bau erinnert von aussen an eine Mischung aus Amphitheater und Gefängnis, ein geschwungener Halbkreis mit schmalen Fenstern, jedes sieht genau gleich aus. Im Innern schmale, dunkle Gänge, von denen aus die Zimmer abgehen. Der Blick vom Fenster geht ins Tal, nachts sieht man die Lichter von Airolo.
Auch die Räume, nach Geschlechtern getrennt, sehen identisch aus: maximal sechs ausgefahrene Klappbetten, die nebeneinander stehen, in den Schränken dahinter Platz für das gesamte Gepäck der Rekrutinnen und ein verschliessbares Fach, in dem sie ihre Waffe aufbewahren. Ein uniformer Auftritt, hier verschmelzen alle zu einer grünen Masse. «Die Uniform gleicht vieles an», sagt auch der Schulkommandant. Obwohl auch er zugeben muss, dass Frauen nicht gleich behandelt werden wie Männer. «Es gibt immer mal wieder sexistische Sprüche. Wir müssen dafür sorgen, dass sich bei den Frauen kein Frust aufbaut.»
Bei Feusi und Pulendran waren es die bekannten Vorurteile, die sie am Anfang zu hören bekamen. «Entweder glauben die Leute, man will unbedingt mit vielen Männern zusammen sein oder man ist eine Kampflesbe», sagt Feusi. Es sei auch viel Unverständnis da von jenen Männern, die nicht freiwillig den Militärdienst absolvieren. «Aber ich glaube, dass sich mittlerweile alle damit abgefunden haben», sagt Pulendran.
Innerhalb der Gruppe hätten sie einen guten Draht zueinander. Deshalb war es für die beiden eine grosse Überraschung, als einer ihrer Kameraden am Ende der Vorwoche plötzlich in den Zivildienst wechselte. «Ich hätte das nie gedacht, er hat sich vorher nie über den Dienst beklagt.» Feusi wirkt verdutzt, dass jemand aus diesem Militär-Idyll ausbrechen möchte.
Pulendrans Eltern sind enorm stolz, dass sie sich so voller Elan in den Militärdienst stürzt. «Meine Mutter salutiert immer, wenn sie mich am Fenster sieht», sagt sie lachend. «Und mein Vater ist unglaublich stolz, dass auch ich eine militärische Karriere einschlage.» Pulendrans Bruder hat keinen Militärdienst absolviert.
Als Saskia Feusi ihren Freunden und ihrer Familie offenbarte, dass sie ins Militär möchte, war die Verblüffung gross. «Aber mittlerweile sind alle total stolz. Meine Schwester überlegt sich sogar, auch ins Militär zu gehen», erzählt sie.
Arbeitgeber haben wenig Verständnis
Verteidigungsminister Guy Parmelin setzt sich dafür ein, dass junge Frauen einen obligatorischen Informationstag zum Militärdienst besuchen müssen. «Ansonsten melden sich nur jene Frauen bei uns, die sich sowieso für den Dienst interessieren», erklärt Schulkommandant Meyerhofer. Jene, die von ihren Eltern, von Brüdern und Schwestern ein positives Bild der Armee erhalten. Aber um die Armee in ihrem jetzigen Bestand zu erhalten, brauche es deutlich mehr: «Für die Alimentierung brauchen wir 16’000 bis 18’000 Soldaten pro Jahr. Da reichen die Männer nicht mehr aus», sagt Meyerhofer.
Er will Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren früher an das Thema heranbringen. «Wir müssen an den Schulen präsenter sein können, um den jungen Frauen Karrierechancen aufzeigen zu können und auch falsche, verstaubte Bilder auszumerzen.» So will er die 100’000 Soldaten starke Armee langfristig sichern.
Frauen, die sich für den Dienst interessieren, empfiehlt Meyerhofer das Modell des Durchdieners. 300 Tage am Stück in der Kaserne. «Viele Arbeitgeber haben kein Verständnis dafür, dass eine Frau in den WK geht. So kann sie dieses Problem umgehen», erklärt er. Auch die Probleme, die sich bei einer Familiengründung ergeben können, würden so entfallen.
Saskia Feusi hat sich fürs Durchdienen entschieden. Doch bereits in der zweiten RS-Woche kamen ihr erste Bedenken. «Ich war kurz davor, alles abzubrechen. Zuhause haben alle gesagt, dass sie es verstehen würden, wenn ich zurückkomme. Aber jetzt bin ich froh, dass ich durchgebissen habe.»
Familie statt Militärkarriere
Als ihr Leutnant sagt, dass ihr letzter Diensttag im kommenden April sein wird, muss sie kurz leer schlucken. Ganz spurlos scheint das Ganze nicht an ihr vorbeizugehen. Aber sie beschwichtigt: «Ich bin jemand, dem nie seine Grenzen aufgezeigt wurden. Ich muss das hier machen, ich muss es endlich lernen.»
Es klingt wie aus einer Armee-Werbebroschüre. Weitermachen kommt für sie dennoch nicht in Frage. «Ich möchte eine Familie und kann mir nicht vorstellen, mein kleines Kind während eines Weiterbildungskurses abzugeben.»
Es ist kurz vor halb sechs, das Abendessen steht an. Die Kompanien treffen sich auf dem Platz vor der Kaserne, bilden einen Halbkreis um ihren Kommandanten. Die Soldaten sind aufgestellt nach Grösse. Feusi steht mit ihren 1,54 Metern am Ende. Beim Durchnummerieren ruft sie «25 Schluss». Wie es sich gehört. So, wie sie auch «Wachtmeister, Rekrut Feusi» rufen muss, wenn sie mit dem Ranghöheren sprechen will. Oder den Namen ihres Kommandanten, wenn sie auf andere Uniformierte trifft.
Die Soldaten werfen ihre Mützen auf den Boden, um ihnen gleich darauf zu folgen: Liegestütze stehen an. Ein Gebrüll geht los, jede Kompanie will lauter sein als die andere, wenn sie den Namen ihres Kommandanten schreit. Pulendrans Stimme ist auch aus der Kompanie heraus zu hören. Keine Schwäche zeigen.
Nach den Liegestützen kommen die Kniebeugen. Auch hier wird so laut gebrüllt, dass die einzelnen Parolen nicht mehr erkennbar sind. Danach gibt es nochmal Formationsrennen nach vorne. In Zweierreihen aufgestellt, dürfen sie nach einer Schlussinspektion endlich in den Speisesaal.
Nach der Kompanie der beiden Baslerinnen reiht sich bereits die nächste in Formation auf, um essen gehen zu können. Zuvorderst der Kommandant, eine Frau. Eine der 57 Prozent, die nach der Rekrutenschule ihre Karriere im Militär fortsetzen. Die grosse Zukunftshoffnung der Schweizer Armee.