Die Szenerie hat etwas Demütigendes. Es ist ein Samstag im März 2004, der 1. FC Köln hat vor 50’000 Zuschauern gegen den VfB Stuttgart mit Marco Streller und Hakan Yakin 2:2 gespielt. Nach der Partie interessiert sich kein Mensch für Marcel Koller, den Trainer des im Abstiegsstrudel steckenden Heimteams.
Die Journalisten bilden stattdessen eine riesige Traube um Kölns Manager Andreas Rettig und erörtern die Frage: «Ist Koller noch tragbar?» Und der steht mit seinen 1,73 Metern verloren in einer Ecke des WM-Stadions von Köln-Müngersdorf und murmelt Durchhalteparolen die anfangen mit «Solange rechnerisch noch etwas drin ist …».
Ein Update nach dem Freitagstraining beim FCB und eine voraussichtliche Aufstellung für den Samstag gegen GC in der Info-Box am Ende des Beitrags
Vier Monate ist es her, dass Marcel Koller beim 1. FC Köln als Notnagel angeheuert hat. Keine drei Monate später ist Köln abgestiegen und Koller in die Wüste geschickt. Köln hat im Lokalhelden Wolfgang Overath einen neuen Präsidenten, und der macht alles neu.
Viele Jahre später beschreibt Marcel Koller seine erste Auslandsstation ausführlich: «Der Sprung von St. Gallen und Zürich ins fussballverrückte Köln – das war schon ein Sprung in ein anderes Gewässer. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich die Erfahrung, wie das ist, wenn man eine richtige Breitseite bekommt.»
Aufgeschrieben ist das in einer Biografie mit dem unbescheidenen Titel «Marcel Koller – Die Kunst des Siegens». Sie entsteht auf dem Höhepunkt von Kollers Trainerschaffen. Er hat Österreich an die Europameisterschaft 2016 geführt und das Land liegt dem Schweizer zu Füssen. Anfangs skeptisch bis ablehnend beäugt, bringt es Koller zum «Wunderwuzzi», wie ein Siebesiech von Vorarlberg bis nach Wien genannt wird.
Die Entzugserscheinungen
Wie schnell sich Ruhm und Erfolg verflüchtigen können, wird Marcel Koller nach der verpatzten EM und einer verpassten WM-Qualifikation wieder vor Augen geführt. Seit November 2017 beurlaubt, verspürt er «Entzugserscheinungen», ehe ihn Ende vergangener Woche der FC Basel erstmals kontaktierte.
Es ist nach dem Rauswurf von Raphael Wicky und dem kurzen Interregnum von Alex Frei viel von Erfahrung die Rede, die der FC Basel dringend benötige, um sich sportlich zu stabilisieren und damit etwas Ruhe in den aufgewühlten Laden zu bekommen. Mit dieser Hoffnung wird Marcel Koller verknüpft, seit Donnerstag in Amt und Würden als neuer Cheftrainer.
Ein Musterschüler von Hennes Weisweiler und der Klon von Christian Gross.
Im Erfahrungsrucksack des 57-jährigen Zürchers steckt vor allem viel GC. Für die Grasshoppers hat Koller 428 Spiele in der Nationalliga A bestritten. Nie hat er für einen anderen Verein gespielt. Unter dem grossen Hennes Weisweiler, als dessen Musterschüler er gilt, gewinnt Koller 1983 das erste Double; sieben Meistertitel und fünf Cupsiege werden es insgesamt in seiner Spielerkarriere. Dazu hat er 55 Länderspiele absolviert, das erste 1983 im alten Joggeli gegen Brasilien, das letzte an der EM 1996 in Birmingham.
Mit 27 Jahren beginnt Koller bereits mit seiner Trainerausbildung, sechs Jahre später trifft er auf dem Hardturm auf den Trainer Christian Gross. Fortan heisst es, dass der Höngger Gross dem Schwamendinger Koller ein Vorbild sei. Koller beginnt seine Trainerkarriere wie Gross beim FC Wil, er zieht weiter zum FC St. Gallen, den er 2000 sensationell zum Meistertitel führt, und kehrt im Januar 2002 zu seinem Herzensklub zurück.
Anderthalb Jahre später, als dem FC Basel nach seiner fantastischen ersten Champions-League-Kampagne im nationalen Endspurt der Saft ausgeht, stemmt Koller auch als Trainer bei GC den Meisterkübel in die Höhe. Er triumphiert gegen Christian Gross, als dessen Klon er fortan bezeichnet wird.
Streller schiesst Koller bei GC ab
Am 3. Oktober 2003 kommt es zur ersten Friktion in Kollers Bilderbuchlaufbahn. Er tritt als Trainer von GC zurück nach fünf Niederlagen in Serie, darunter ein niederschmetterndes 0:4 daheim gegen den FC Basel mit dem jungen, zweifachen Torschützen Marco Streller.
Einen Monat später ist Koller in Köln. Er übernimmt eine Mannschaft im Abstiegssog, scheitert mit seiner Mission und sagt in seiner Biografie: «Es war eine wichtige Station, an der ich mich in der Rückschau nicht vorbeischwindeln möchte. Ich habe aus diesem schwierigen Jahr für meine spätere Arbeit sehr viel mitgenommen.»
Ein Jahr ist Koller anschliessend ohne Verein. Dann führt er den VfL Bochum aus der 2. Bundesliga zurück ins Oberhaus, hält den Revierklub zwei Jahre dort, wird beachtlicher Achter in der Bundesliga – und muss Ende September 2009 doch gehen. «Koller raus!», rufen die Fans im Ruhrstadion, weil sie den Trainer für langweilig und spröde halten und den Fussball seiner Mannschaft für bieder und statisch.
Einen «Ermüdungsbruch» zwischen Anhängern und Trainer diagnostiziert das Magazin «11 Freunde» seinerzeit, und der «Spiegel» schimpft auf die undankbaren und realitätsfernen Fans: «Sie wollten seinen Kopf, und sie bekamen ihn.»
«Scheitern ist wichtig. Und wenn, dann will ich aus Niederlagen lernen.»
Für Marcel Koller ist die Entlassung ein tiefer Einschnitt. «Scheitern ist wichtig», diktiert er für seine Biografie, «ich mag keine Niederlagen, aber wenn ich schon eine hinnehmen muss, dann will ich aus ihr lernen und Erkenntnisse gewinnen.» Die Zeit zum Grübeln wird lang. Zwei Jahre ist er ohne Job, er geht sogar stempeln und fühlt sich schlecht dabei, wie er der NZZ erzählt. Das Interview erscheint nie, wie die Zeitung 2016 in einem Porträt schildert, weil Koller wenige Tage nach dem Gespräch wieder eine Aufgabe findet: als Nationaltrainer Österreichs.
Mit Béret und Baguette inszeniert er sich, als Österreich sich für die EM in Frankreich qualifiziert. Auch dank den Toren von Marc Janko, an dem Koller auch dann festhält, als er bei seinem türkischen Klub aus Rang und Traktanden fällt. Koller wird in Österreich eine Heldenverehrung zuteil, der nur eine Bronzefigur vor dem Wiener Stephansdom fehlt.
Aus dem deutschsprachigen Raum zieht es Koller nie. Was auch daran liegen mag, dass er seine Fremdsprachenkenntnisse als «nicht gerade ein Highlight» seiner Fähigkeiten hinstellt. Die Amtssprache auf dem Trainingsplatz des FC Basel ist nach dem multilingualen Raphael Wicky daher Deutsch.
Vermisst: Das tägliche Training
Fast neun Jahre liegt es nun zurück, dass Marcel Koller eine Klubmannschaft trainiert hat. Das ist quasi eine Fussballergeneration. Er sieht das selbstredend nicht als Nachteil. «Ich habe als Nationaltrainer das tägliche Training vermisst, und ich glaube nicht, dass ich etwas verlernt habe, weil ich neun Jahre nicht mehr jeden Tag auf dem Platz war. Es kommt auf die Einstellung an, darauf, wie man schafft. Ich schaue nicht auf die Uhr und gehe die Arbeit in Basel mit viel Enthusiasmus und Elan an.»
Da klingt Marcel Koller dann tatsächlich ein bisschen wie Christian Gross.
Kollers Premiere – ausgerechnet gegen GC
Das GC-Urgestein Marcel Koller neu auf der Trainerbank des FC Basel und auf der anderen Seite Thorsten Fink, mit dessen Ankunft in Basel 2009 nicht nur die Zeitenwende nach Christian Gross verbunden wird, sondern auch zwei Meistertitel und ein Cupsieg. Mehr Brisanz kann dieser Klassiker nicht haben, der ausserdem die Aura des Kellerduells zweier noch sieglosen Teams trägt. 23’000 Tickets sind im Vorverkauf für die Partie am Samstag (19 Uhr, St. Jakob-Park) weggegangen.
Nach gerade einmal einer regulären Trainingseinheit am Freitag ist es nicht verwunderlich, dass Koller sagt: «Ich werde nicht alles über den Haufen werden.» Die Zaungäste des nach einer Viertelstunde geschlossenen Trainings konnten durch die Ritzen der Planen erkennen, dass der neue Trainer nach den Experimenten von Alex Frei eher auf Bewährtes im 4-2-3-1-System setzen könnte. Die «bz Basel» hat folgende Aufstellung im Trainingsspiel erkannt: Omlin – Widmer, Cümart, Suchy, Riveros – Serey Dié, Frei – van Wolfswinkel, Zuffi, Oberlin – Ajeti.
Nicht zur Verfügung stehen Campo (gesperrt), Stocker (angeschlagen), Xhaka und Kuzmanovic (im Aufbau).