«Ich bekomme graue Haare!», sage ich bei meinem ersten Besuch. «Ist doch schön! Ein Geschenk der Natur», erwidert Ramona Schneitter. Und schnell kommen wir ins Gespräch darüber, wie sie ihren Beruf versteht und was er ihr heute bedeutet.
Ramona Schneitters neues Leben ist vier Jahre jung. Vieles hat sich für die knapp 37-Jährige verändert. Sie kündigte ihren Bürojob und machte sich als Coiffeuse im Kleinbasel selbstständig. Inzwischen nimmt sie sich regelmässige Auszeiten, und seien es nur fünf Minuten zwischen zwei Kundinnen. Denn Schneitter hat schmerzlich erfahren, wie weit es kommen kann, wenn man jahrelang nur funktioniert und die Seele dabei nicht mitkommt.
Den Schmerz weggearbeitet
«Früher war ich ständig auf 180, wie auf der Überholspur», erzählt Schneitter im kleinen Hinterhof des Coiffeursalons Brush your Hair in der Klybeckstrasse. «Ich bin oft ausgegangen, war auf Achse – und habe wie verrückt gearbeitet.» Nach einer schwierigen Trennung habe sie den Schmerz einfach weggearbeitet. Als dann noch mehrere ihr nahestehende Personen an Krebs erkrankten, war Schneitter so im Hamsterrad, dass sie buchstäblich bis zum Umfallen arbeitete. Sie konnte nicht entspannen, kannte nur Vollgas. Schweissausbrüche und Herzrasen ignorierte sie monatelang.
Sechs Jahre hatte sie in einer grossen Sicherheitsfirma gearbeitet, erst im Schichtdienst in der Alarmzentrale, dann im Büro. Es war immer viel los, Schneitter oft unter Strom. Im Sommer 2013 war sie schliesslich am Boden. «Ich bekam einen Hörsturz, verlor das Gleichgewicht und lag im Büro auf dem Rücken. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Wie ein Käfer, der nicht mehr auf die Beine kommt.»
Burn-out haben nur die anderen!
Die Fahrt zum Arzt gerät zur Achterbahn, ein weiterer Hörsturz folgt. «Schatz, gesteh es dir ein, du hast ein Burn-out!», sagt eine Kollegin zu ihr. «Wie peinlich», denkt Schneitter, die toughe junge Frau, die immer viel schafft, die auch mit Fieber ins Büro kommt und andere belächelt, die sich krank melden. Eingestehen will sie es sich zunächst nicht. Burn-out haben andere, ich doch nicht!
Aber der Körper streikt. Panik, Atemnot, Schwindel. Es geht einfach nicht mehr. Der Arzt diagnostiziert eine Erschöpfungsdepression, vier Monate ist Schneitter krankgeschrieben. In der Therapie versteht sie, warum sie ständig auf Hochtouren war. Sie lernt, runterzukommen, geht regelmässig laufen und zur Akkupunktur.
«Rückblickend muss ich sagen, das Burn-out war ein riesen Geschenk!», sagt sie lachend. Sie habe gelernt, das Gute zu sehen, das ihr direkt vor den Füssen liegt. Zum Beispiel die Möglichkeit, sich im Coiffeursalon mit einer früheren Kollegin aus der Lehrzeit selbstständig zu machen. «Erst mal konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Ich fand die ganze Branche so oberflächlich. Aber hier habe ich schnell gemerkt, es ist anders, es passt.» Der Laden ist kein typischer Coiffeursalon, sondern auch Ausstellungsraum und Begegnungsort. «Es war eine super Entscheidung, mich hier selbstständig zu machen», sagt Schneitter zufrieden.
Haarmoden für niemanden, der perfekte Schnitt für alle
«Ich bin viel mehr bei mir als früher und mache nur noch das, was mir wirklich entspricht», erzählt sie. Das sind unkomplizierte, zum jeweiligen Typ passende Kurzhaarfrisuren. «Es gibt andere, die können toll lange Locken schneiden, aufwendige Hochsteckfrisuren machen oder kreative Färbungen vornehmen. Meins ist das nicht. Ich liebe den Kurzhaarschnitt.» Das merkte sie schon damals, nach der Lehre, weshalb sie noch ein viertes Lehrjahr dranhängte und das Herrenfach absolvierte.
Frisuren von der Stange gibts hier keine. Trendige Haarmoden? Nicht in diesem Salon. Jede Kopfform, jeder Wirbel, jede Haarstruktur braucht einen eigenen Schnitt. Den setzt sie gekonnt und mit scharfem Blick. Hier ist eine Perfektionistin am Werk denke ich, als sie nachträglich noch eine Strähne ausdünnt.
«Ich halte nichts vom Jugendwahn. Ich freue mich über jedes graue Haar.»
Statt ständig auf der Piste zu sein, geniesst Schneitter inzwischen die Ruhe als Ausgleich zu den vielen Kundenkontakten. Durch ihre Partnerin entdeckte sie die Leidenschaft fürs Tauchen. «Es ist wie Meditieren. Dort unten ist es ruhig, das ‹Schnuufe› bringt dich voll zu dir selbst, die Natur zeigt sich umwerfend vielfältig und schön.»
Am Wochenende unternimmt sie gerne Ausflüge ins Baselbiet oder nach Frankreich. «Je älter ich werde, umso wichtiger wird mir die Natur», sagt die gebürtige Baslerin. Auch im Beruf: «Ich halte überhaupt nichts vom Jugendwahn. Ich freue mich über jedes graue Haar, das ich bekomme. Die Menschen gewinnen mit der Zeit an Ausstrahlung, es gibt gar keinen Grund, sich davor zu fürchten.»