Christian hört Stimmen im Kopf, die er nicht verdrängen kann. Seit sechs Jahren bestimmt die Schizophrenie sein Leben. Ein Besuch in beiden Hälften seiner Psyche.
Es war im Februar 2007, als ich Christian in der Dämmerung auf einer Mauer sitzen sah. Er wirkte abwesend, wie er mir die Hand gab, «Hallo, alles klar?», sagte. Seine Augen waren von einer schwarzen, randlosen Sonnenbrille verdeckt. Er nahm sie nicht ab – während der folgenden Viertelstunde nicht. Sein Bein hüpfte auf und ab. Christian war nervös, es war ihm alles zu laut, zu grell. Wegrennen wollte er, dahin, wo es still sei. Weit weg. Aber für Christian gab es einen solchen Ort schon damals nur selten.
In seinem Kopf verdoppelt sich die Welt. Die Stimmen um ihn werden zu Stimmen in ihm, nur tausendfach stärker. Einzelne davon treten hervor, flüstern unermüdlich im Innern seines Kopfes. Christian ist schizophren. Die meisten Menschen können die Ohren zuhalten, wenn sie nichts hören wollen von der Welt. Christians Ohren sind aber in seinem Kopf. Den Lärm verdrängen kann er nicht.
Die Welt zersetzt sich
Inzwischen sind sechs Jahre vergangen. Der Waldweg zieht sich durch die Hügel des Baselbiets. Die Sonne schimmert durch die Blätter. Unten im Tal biegt ein Postbus um die Ecke, weiter oben springt ein Reh davon und mittendrin, auf dem schmalen Schotterweg, geht Christian am Rand der Zivilisation vor sich hin, spricht mit sanfter Stimme, die laut wird, wenn er sich nervt. Geröll, das über eine Strasse rollt. Das passiert, wenn er über die Momente nachdenkt, als es wieder losging in seinem Kopf.
Christian sass gerade im Bus auf dem Weg nach Hause. Mit einigen Freunden hatte er zuvor noch hinter der Schule gesessen und einige Joints geraucht. Aber dann, im Bus, als er durch das Fenster schaute, sah er die Welt plötzlich nicht mehr. Er kapierte nicht, was da draussen vor sich ging – die Landschaft zersetzte sich vor seinen Augen. Die Scheiben sperrten ihn ein und zugleich aus. Die Leute im Bus schwiegen und flüsterten dennoch, als sei alles vereinbart. Das Rollen des Fahrzeugs habe er sehr laut und genau gehört, meint Christian, jeden Stein, den die Räder streiften. Ihm wurde schlecht, er bekam Kopfschmerzen.
Ein starker Mann, der in einer Art Kraftlosigkeit gefangen scheint.
Zwei Stationen weiter sei er ausgestiegen und habe sich auf einer Wiese übergeben. Für einen Moment war ihm dann wieder wohl, der Kopf leichter. Er ging nach Hause und dachte, es sei alles Unfug. «Nur schlechtes Gras.» Christian erinnert sich genau daran, dies einige Male gesagt zu haben. «Zweimal laut», betont er, während er hier durch den Wald geht. «Zweimal laut. Etliche Male leise, im Kopf.»
Christian will es selbst nicht merken, aber wenn er sich bewegt, zeichnet er eigenartige Muster mit dem Fuss. Den Steinen weicht er aus. Seine Arme hängen lose von den Schultern. Ein starker Mann, der in einer Art Kraftlosigkeit gefangen scheint. Er kann sich nicht genau erklären, wieso es damals Klick gemacht hat. «Ich habe nicht oft gekifft», sagt er.
Die dunkle Mütze sitzt fest auf seinem Kopf – ein Helm. Die braunen Haare darunter, das gelbe Shirt, schwarze Schuhe. Christian hat zugenommen, das sagt auch seine Freundin Mirjam. «Die Medikamente …», sagt er nur. Er hasst sie, sie machen ihn dick. Sie halten ihn aber auch bei Verstand, sagt Mirjam.
Er sträubte sich anfänglich, als er zum ersten Mal beim Psychologen war. «Ich dachte: Was soll das? Ich bin normal.» Und Christian, der den Fuss vorsichtig auf den Schotter setzt, lacht, als er sich erinnert. Es sei doch schon absurd. Er hasse Marihuana für das, was es mit ihm gemacht habe. Er hasse aber mittlerweile vieles aus seiner Vergangenheit. Christian ist nun 23, aber er spricht von Vergangenheit, als liege diese hunderte von Jahren zurück.
Immerwährender Lärm
Anfang Juli verbrachte Christian zwei Nächte in einer Klinik, nachdem er selber merkte, dass es wieder schlimmer wurde mit den Stimmen, den Augen, dem ewigen Lärm. «Es war früher Nachmittag, nach dem Essen. Ich rauchte im Garten und unsere Katze schlief auf dem Rasen neben dem Grill. Die schläft immer da. Ich wurde plötzlich wieder unruhig, die Sonne schien am falschen Ort zu stehen. Einfach am falschen Ort. Die Tage davor hatte ich mich schon nicht besonders grossartig gefühlt, redete mir aber ein, es sei sonst etwas.
Hinter der Hauswand stand jemand, davon war ich plötzlich überzeugt. Ich dachte nur noch: Ich kann dich gleich sehen. Die Katze schaute mich nun direkt an. Die Nachbarn hatten das Radio sehr laut aufgedreht und jedes Auto, das vorbeizog, dröhnte. Ich ging ins Haus, aber die Geräusche schlugen an die Fenster. Gleich schaut ein Gesicht herein, dachte ich. Die Fensterscheibe pulsierte. Jemand schlug mit der flachen Hand auf einen Briefkasten, immer wieder. Der Hall wollte nicht mehr aufhören.»
Drei Stunden lang, an jenem heissen Tag im Juni, sass Christian auf einem Stuhl in der Küche seiner Wohnung. Drei Stunden lang schaute er aus dem Fenster und wartete auf dieses Gesicht, das ihn durch die Mauer zu beobachten schien. In seinem Kopf hörte er die Männerstimme, die ihm sagte, es gebe Menschen, die ihn beobachteten, die ihn belauschten. Diese Menschen kämen in der Nacht, neuerdings auch am Tag.
Erneuter Sturz in den Wahn
Mirjam fand ihn am Küchentisch, starr vor Konzentration. Sie ging zum Schrank und holte Christians Tasche. Um fünf Uhr war er bereits in Liestal, in der Klinik. 60 Stunden später erhielt er als Abschied eine Depotspritze. Dapotum oder Risperdal. Er weiss das nicht mehr genau. Er atmet schwer. Die Konfrontation mit seiner Krankheit fällt ihm nicht leicht. Er erlebt alles wieder und wieder. Die Blitze und Explosionen, unglaublich hell. Das Flüstern, der Lärm. Die Fahrzeuge, die ihm scheinbar sechs, sieben Strassen lang folgen. Menschen, die ihn von allen Seiten mit Blicken durchbohren – Augen, die nur auf ihn gerichtet sind. Und die Stimmen, die ihm all dies sagen.
Die Ängste und der innere Druck seien weg in diesem Moment. «Die Depotspritze hält», sagt er. Aber er fürchtet jeden Moment der Ruhe, denn nie währt er lange. Er hat Angst, dass sein Kopf in den stillen Momenten wieder zu schreien beginnt. Gewohnheit kehrt nie ein. Seit einem Jahr werden die Intervalle der Schübe kürzer. Er müsse nun öfters zum Arzt. Seinem Beruf als Koch kann er nur mit Unterbrüchen nachgehen.
Zwei Wochen nach dem Treffen im Wald erklingt früh am Morgen mein Telefon. Mirjam spricht mit gereizter Stimme. Christian sei weg. Sie hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, «wenn es losgeht». Es war wieder eine jener Nächte, in denen die Stimmen Christian an Orte führen – warum, weiss er nachher nie.
Er hatte von einem Bahnhof erzählt, wo er sich an einem Nachmittag wiedergefunden habe, ahnungslos, wie er dahin gekommen sei. Oder eine Autobahnbrücke, das gleiche Szenario. Oder mit dem Fahrrad im Winter, an einem kalten Novembermorgen: Plötzlich sei er vor einer Ruine im Wald gestanden. «Ich fror, hatte nur einen Pullover an, meine Schuhe waren durchnässt, das Fahrrad verdreckt», hatte er damals gesagt und gelächelt. Ein manisches Lächeln. Von Entzücken keine Spur, nur Manie.
Es sind diese Momente, in welchen sich die Kehrseite von Christians Krankheit zeigt, eine heimliche Begeisterung für die Absurdität des eigenen Geistes. Die Seite, vor der sich die Ärzte fürchten. Schizophrene sind oft angetan von den Charakteren, die durch die Krankheit entstehen. Es sind Figuren von scheinbar grosser Intelligenz, von Gerissenheit oder Scharfsinn. Figuren, die die Welt um sich herum durchschaut haben. Helden. Träumer. Wird diese Begeisterung zu gross, setzt der Erkrankte die Medikamente ab und fällt zurück in die Manie. Eine Sehnsucht nach dem anderen Ich. Dem besseren Ich.
In einem Vorortblock, hinter einem kleinen Balkon mit Fenstern, die auf die Hügel gerichtet sind, sitzt Christian im Wohnzimmer. Auf dem Tischchen vor ihm steht eine Tasse Tee. Mirjam telefoniert mit seinen Eltern. Es ist seit Jahren die selbe Prozedur. Später wird sie ins Auto steigen, Christian wird sich neben sie setzen und eine Viertelstunde später in Liestal die Klinik betreten, für wie lange, weiss sie nie. Auch Christian weiss das nie. Er erinnert sich selten überhaupt daran, dort angekommen zu sein.
Er habe sich gerade ein neues Fahrzeug gekauft, sagt Christian und geht zum Fenster. «Da unten, das silberne. Ein Mazda, mein drittes Fahrzeug.» Die braunen Haare hat er nach hinten gekämmt, er trägt ein blaues Hemd, an dem zwei Knöpfe fehlen. Einige Momente lang steht er still und schaut nach unten auf die Strasse, lächelt wie ein Kind.
Sein Auftreten ist das eines Autohändlers mit dicker goldener Uhr. Er wirkt selbstsicher. Den Hals gereckt, steht er im Wohnzimmer, als sei es nur die Schuhkammer seines Palastes. Auf der Strasse gehen einige Senioren vorbei, am Strassenrand hat jemand einen Bürostuhl abgestellt und dort, 30 Meter weiter, steht ein weisser Renault. Sonst nichts.
Die Garage im Kopf
Christian, der keine Reaktion erhält, dreht sich um und bietet mir etwas zu trinken an. Er bewegt sich rasch, spricht über eine Firma, die er gründen will. Über Fahrzeuge, Geschäftsideen, über viel Geld.
Mirjam, die hinter ihm in der Tür steht, bemerkt er nicht. Er sieht nicht, wie sie das Telefon umklammert, wie sie sich mit der einen Hand am Türrahmen festhält. Christian bemerkt nicht, wie sich ihr Gesicht bei jedem Wort verzieht und kein Lächeln hervorbringen kann.
Er bemerkt nicht, wie nahe sie den Tränen ist, wie sie diese aber verdrängt und seine Tasche packt, die im Schrank steht, bereit gepackt zu werden. Wie vor Wochen. Der gleiche Griff, die gleiche Schwermut.
Und während die beiden nach Liestal fahren, wird Christian guter Dinge sein. Er wird schwadronieren, über die Sorgen eines reichen Menschen. Er wird nach Liestal fahren, während seine drei Autos in einer Garage stehen bleiben, die es nicht gibt. Die es in Christians Kopf gibt, in einer Realität, die nur die seine ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 20.09.13