In der Welt von Mark Balke gibt es Lügen, Vergewaltiger und zerstückelte Leichen. Er kommt mit den Abgründen des Menschseins in Berührung. Für Emotionen gibt es bei der Arbeit keinen Platz.
Das merkt man, wenn der Staatsanwalt darüber spricht, wie er auf seine erste Leiche traf. Wir sitzen im grauen, langgezogenen Strafjustizzentrum in Muttenz. Balke, 42, ein Gesicht ohne Falten, erzählt: «Ich wusste, dass dieser Moment kommen wird. Natürlich hat man da Berührungsängste.» Er schildert, wie er sich zum ersten Mal kurz nach seinem Start in der Strafverfolgung mit den Leichenteilen eines Bahntoten konfrontiert sah. «Kein angenehmer Moment.» Doch mit der Zeit verliere das Schreckliche etwas von seinem Schrecken: «Irgendwann, nachdem man einige aussergewöhnliche Todesfälle bearbeitet hat, kommt Routine auf.»
Fast täglich gibt es in Baselland einen aussergewöhnlichen Todesfall – im Fachjargon AGT genannt. Das kann ein Verkehrsunfall sein, ein Selbstmord oder einfach ein Todesfall, bei dem die Ursache unklar ist. Mordfälle gibt es nur sehr selten.
Mensch sein und korrekt arbeiten
Die Staatsanwaltschaft muss in diesen Fällen aufklären, was geschah. Dann fährt Balke, sofern er gerade Dienst hat, zum Ort des Geschehens und leitet die Untersuchungen. Er weiss, welche Beweisstücke später wichtig sind, wann ein Leichnam im Labor geöffnet werden muss.
Was ihn mehr belaste als der Anblick einer Leiche sei der Umgang mit den Angehörigen, sagt Balke. Zum Beispiel wenn er einer völlig aufgelösten Person erklären muss, warum der Leichnam ihres Ehepartners ins Institut für Rechtsmedizin abtransportiert wird, obwohl ihre Kultur eine Kremation innerhalb von 24 Stunden vorsieht. «Man muss sich das vorstellen: Manche der Betroffenen sehen die Obduktion vielleicht gar als Leichenschändung und man muss sie dennoch von deren Notwendigkeit überzeugen.»
Die grosse Herausforderung sei für ihn in diesen Situationen: «Mensch sein und die Sache fachlich korrekt bearbeiten können.» Wenn er jedes Mal an einem Tatort gelähmt wäre, müsste er eher Baugesuche prüfen, sagt Balke und lacht.
Eine Hand ohne Leichnam
Manchmal komme es auch zu kuriosen Situationen. Etwa dann, wenn ihm Angehörige mit ihrem Fernseh-Krimi-Wissen erklären wollen, dass eine Obduktion gar nicht nötig sei. Oder als ein SBB-Mitarbeiter eine Hand auf einem Waggon im Muttenzer Rangierbahnhof fand. «Wir mussten schauen: Wo fehlt eine Hand?» Schliesslich stellte sich heraus, dass sie von einem Personenunfall in Norddeutschland stammte.
Häufiger als mit dem Tod ist der Staatsanwalt aber mit sexueller Gewalt konfrontiert. Was ihm dabei einerseits die Arbeit erleichtert, ist für ihn gleichzeitig eine Qual: «Im Smartphone-Zeitalter erleben wir immer häufiger, dass Täter ihre Opfer fotografieren oder filmen. Ergo haben wir viel mehr Bildmaterial zur Verfügung als noch vor zehn Jahren.»
Balke muss solche Videos häufig als Beweisstücke sichten. Ein Video kann zeigen, ob eine Vergewaltigung, eine Schändung oder vielleicht gar keine verbotene Handlung vorliegt. «Bildmaterial ist psychisch weniger belastend. Wenn man hingegen ein Video mit Ton anschaut, kann das furchtbar unangenehm sein.»
«Ich verurteile die Tat nicht. Ich sehe mich nur als Funktionär der Staatsanwaltschaft.»
Für einen Fall mussten Balke und ein Team aus Strafverfolgern zwei Wochen lang rund 1500 Filme von einem mutmasslichen Sexualstraftäter sichten. Das sei teilweise unerträglich gewesen. «Man muss sich das so vorstellen: Wir schauen uns eine einzelne Szene vielleicht zehnmal an und können dann mit Sicherheit sagen: Ja, die Frau bewegt ihre Hand, sie ist also bei Bewusstsein.»
Der Beschuldigte bestritt in diesem Fall alles – auch die Fakten, die die Strafverfolger auf den Videos identifizieren konnten. Also musste Balke einzelne Passagen zusammen mit dem Beschuldigten anschauen und ihn mit den Beweisen konfrontieren. «Das war etwas vom Mühsamsten, was ich in meinem Job erlebte.»
Was ihm dabei helfe, die Bilder zu verdauen und mit Beschuldigten umzugehen, sei seine juristische Brille, die er an habe, wenn er Sex-Videos sichten oder Beschuldigte treffen muss. «Ich verurteile die Tat nicht. Ich sehe mich nur als Funktionär der Staatsanwaltschaft. Und als solcher verhalte ich mich, wenn ich ein Video anschaue oder einen Beschuldigten einvernehme.»
Kontext entscheidet
Gelingt ihm das immer, die professionelle Distanz zu wahren? Dazu sagt Balke nicht viel. Nur, dass er nach den Ermittlungen gegen den erwähnten mutmasslichen Sexualstraftäter eine Supervision bei einem Psychologen besuchte. Dieses Angebot steht allen Staatsanwälten offen. Es steht ihnen frei, ob sie professionelle Hilfe einholen – eine Pflicht gibt es nicht.
Professor Marc Graf von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel erklärt, wie Menschen trotz Konfrontation mit extremer Gewalt ein normales Leben führen können: «Entscheidend in solchen Berufen ist der berufliche Kontext, in dem die Person mit der Gewalt konfrontiert wird.» Wenn ein Arzt einen Schwerverletzten auf der Notfallstation behandle, sei das etwas ganz anderes, als wenn derselbe Arzt auf dem Nachhauseweg einem schlimmen Unfall begegne. Einmal ist er darauf vorbereitet, das andere mal nicht. «Das berufliche Interesse erleichtert den Umgang mit der Gewaltkonfrontation.»
Ebenso wichtig sei, dass sich die Person in einer stabilen Lebenssituation befinde. Das heisst: eine gesunde Beziehung zu Familie oder anderen Bezugspersonen sowie Freizeitaktivitäten als Ausgleich. «Wenn das nicht vorliegt, kann es zu Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur kommen», sagt Graf.
Abgründe und Vielfalt
Warum tut sich Balke den Job seit 15 Jahren an, wo er bei einer Anwaltskanzlei wohl ein Vielfaches von seinem Lohn verdienen könnte? Fasziniert ist der Staatsanwalt von der Suche nach der Wahrheit, überzeugt ist er vom Funktionieren einer unabhängigen Justiz. «Ich sehe meinen Beruf als Bereicherung. Er bietet die Möglichkeit, die Abgründe, aber auch die Vielfalt menschlicher Existenzen zu sehen.»
Neben dem Job liebt Balke das Reisen. «Es hilft, meine Arbeit zu machen, wenn ich andere Länder sehe und wie die dortige Justiz funktioniert – oder eben nicht.» Als nächstes steht Zentralasien an. Balke grinst: «Das Reisen relativiert.»