Serbien war für Flüchtlinge bislang vor allem ein Transitland auf dem Weg nach Westeuropa. Doch seit die sogenannte Balkanroute geschlossen ist, gibt es auch Menschen, die im Land bleiben wollen. Der 19-jährige Ibrahim Ishak aus Ghana ist einer von ihnen.
Ibrahim weiss noch, wie ungläubig Herr Cucic geschaut hatte, als die beiden nach sechs Monaten erneut aufeinander trafen. «Du bist ja immer noch hier», hatte der Direktor des serbischen Flüchtlingskommissariats zu Ibrahim gesagt. Ibrahim hatte geantwortet, er habe seinen Plan aufgegeben, nach Deutschland zu gehen. Und er wolle in Serbien bleiben. Darauf fiel Herrn Cucic für einen Moment nichts mehr ein: «Machst du Scherze?»
Tatsächlich konnte sich in Serbien bislang kaum jemand vorstellen, dass das Land irgendwann einmal selbst zum Zielland für Flüchtlinge werden könnte. Lange Zeit waren es Serben selbst, die flohen oder migrierten, um Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen. Dann wurde Serbien zum Transitland auf der sogenannten Balkanroute; über eine Million Flüchtlinge durchquerten das Land in den vergangenen zwei Jahren auf dem Weg in den wohlhabenderen Westen der EU.
«Die Menschen sind hier gut zu mir»
Ibrahim Ishak war 15 Jahre alt, als er sich aus seinem Heimatland Ghana nach einer schweren Familienfehde auf den Weg machte. Drei Jahre später erreichte er Serbien, doch die Grenze nach Ungarn und Kroatien war da schon geschlossen. Um nicht auf der Strasse zu landen, hatte er Asyl beantragt und ist so im Aufnahmelager Krnjaca bei Belgrad gelandet. Die anderen Flüchtlinge, mit denen er hier untergebracht war, haben es dann doch irgendwann in den Westen geschafft. Ibrahim ist geblieben.
«Ich habe gesehen, dass die Menschen hier gut zu mir sind», sagt der heute 19-Jährige. Ibrahim denkt dabei an die Fussballer von OFK Belgrad, mit denen er regelmässig auf dem benachbarten Platz trainiert, die ihn aufgenommen hätten wie einen der ihren, und von denen er auch sein beachtliches Serbisch gelernt hat.
Und er denkt an den Leiter des Flüchtlingslagers: Er war es, der Ibrahim dem Spitznamen «Maradonna» verliehen hat, obwohl der junge Mann mit seinen dunklen Dreadlocks doch eigentlich eher dem ehemaligen Fussballstar Ruud Gullit ähnelt.
Und dann ist da noch Herr Cucic: Als der Direktor des Flüchtlingskomissariats sah, dass es Ibrahim tatsächlich ernst war, haben sie Telefonnummern ausgetauscht. «Cucic hat mich wie einen Sohn angenommen», sagt Ibrahim. Wenige Wochen später klingelte das Telefon: Ob er nicht Lust hätte, für das Kommissariat zu arbeiten?
Kein Einzelfall
Seitdem hilft er jede zweite Woche im Aufnahmelager Adasevci aus, einem ehemaligen Hotel direkt an der Autobahn Richtung Zagreb, das die serbische Regierung für Flüchtlinge umgebaut hat. Bis nach Kroatien sind es von hier aus nur wenige Kilometer. Für die 1000 Flüchtlinge, die im Gebäude und in Zelten untergebracht sind, ist die Grenze jedoch seit der Schliessung der «Balkanroute» im vergangenen März zum unüberwindbaren Hindernis geworden. Nur mit Schleppern kann man es hinter sich lassen.
Ibrahim läuft herum, bleibt immer wieder stehen, redet mit den Flüchtlingen, hilft, Essen zu verteilen. Aber vor allem kümmert er sich und spielt mit den Kindern. «Ich liebe Kinder so sehr», sagt Ibrahim.
«Zu Hause», im Lager Krnjaca bei Belgrad, hat er als Helfer des Flüchtlingskommissariats ein Einzelzimmer. Es liegt am Ende des Ganges in einer der kürzlich renovierten Baracken. Dort verbringt er die meiste Zeit, schaut Filme auf seinem Telefon oder hört Musik. Freitags geht er in die Moschee, die 20 Minuten zu Fuss entfernt unscheinbar in einem Privathaus untergebracht ist.
Ibrahim weiss, dass es nicht einfach wird, sollte er tatsächlich anerkannt werden – vor allem aufgrund der verheerenden wirtschaftlichen Situation in Serbien.
Früher kamen hier vor allem muslimische Roma zum Gebet, aber seit zwei Jahren gesellen sich auch immer mehr Flüchtlinge dazu. Sein Glaube gibt ihm Sicherheit, sagt Ibrahim. Und er hilft gegen die Einsamkeit. Freundschaften im Lager zu schliessen sei schwierig, wenn doch fast alle nur überlegen, wie sie weiter kommen können.
Und doch steigt die Anzahl von Menschen, die ihre Asylverfahren in Serbien tatsächlich bis zum Ende abwarten. In diesem Jahr waren es bislang 34 Flüchtlinge, die einen Aufenthaltsstatus bekommen haben – davon die Hälfte als anerkannte Asylbewerber. Der Staat reagiert auf die neue Herausforderung nur langsam. Zwar wurde schon im Jahr 2008 ein Asylgesetz verabschiedet, aber erst jetzt – acht Jahre später – wird ein Plan ausgearbeitet, der anerkannten Flüchtlingen auch bei der Integration helfen soll.
Bislang gibt es ein Jahr lang finanzielle Unterstützung, um eine Wohnung zu mieten sowie Sprachkurse und Informationen über den Arbeitsmarkt. Nichtregierungsorganisationen kritisieren jedoch, dass Flüchtlinge bei der Integration immer noch weitgehend alleine gelassen werden.
Einfach nur dazugehören
Ein Jahr ist es her, dass Ibrahim Asyl beantragt hat, die Entscheidung kann täglich kommen. Aber Ibrahim weiss, dass es nicht einfach wird, sollte er tatsächlich anerkannt werden – vor allem aufgrund der verheerenden wirtschaftlichen Situation in Serbien. Vor Kurzem hatten Flüchtlinge im Lager Krnjaca eine serbische Mitarbeiterin des Flüchtlingskommissariats gefragt, wie viel sie verdiene. Als sie hörten, dass es etwa 400 Euro im Monat seien, war das Entsetzen gross. Aber er brauche ja nicht viel, sagt Ibrahim, und ein kleines Zimmer ist schon für 80 Euro zu haben.
Und dann endlich könnten ihn seine Fussballfreunde auch einmal zu Hause besuchen. Wenn sie in der Stadt ausgehen, trifft er sich bislang mit ihnen am Platz der Republik. Von dort ziehen sie dann los in eines der unzähligen Cafes in der Innenstadt. Aber auch alleine streift Ibrahim ab und zu durch die Strassen. Noch nie, und das sagt er gleich mehrmals und mit Nachdruck: Nie habe er irgendeine unangenehme Situation wegen seiner Hautfarbe erlebt. Belgrad sei eine tolle Stadt. Es gefalle ihm sehr gut hier.
Jetzt, zur Weihnachtszeit, glitzert alles auf der Haupteinkaufsstrasse Knez Mihailova. Ibrahim läuft an den geschmückten Schaufenstern vorbei. Manchmal kommt es tatsächlich schon vor, dass er ganz zufällig jemanden trifft. Diesmal sind es zwei Mädchen, die er vor Kurzem kennengelernt hat. Ibrahim bleibt stehen, ein kurzes Gespräch, sie lachen. «Vidimo se», wir sehen uns, sagt er zum Abschied – und wirkt dabei für einen kurzen Moment schon wie ein ganz normaler serbischer Jugendlicher.