Lammkoteletts, Falafel und Köfte preist die Speisekarte vor der Tür an. Doch tritt man ins «Eldiro», die Cafe-Bar von Mehmet Salih Coskun an der Colmarerstrasse, empfängt einen weder Brat- noch Cafégeruch. Das Lokal riecht neutral, die Wände sind in ruhigen Farben gehalten, die Lederstühle modern und dezent.
Ruhig und dezent verlief das Leben von Coskun nicht immer. Der Kurde kam vor vier Jahren nach Basel. Der eine Grund dafür war romantisch: Er verliebte sich in seine heutige Frau Elif, die schon seit 25 Jahren in Basel lebt.
Fünf Jahre im Knast
Der andere Grund war politisch oder drastischer gesagt: eine Frage des Überlebens. «Wenn ich nicht nach Basel gekommen wäre, sässe ich nun entweder im Gefängnis oder ich wäre wie meine Stadt Cizre zerstört worden», erklärt der 40-Jährige. Im Herbst 2015 hatte die türkische Armee – angeblich im Kampf gegen die PKK – die Stadt zunächst abgeriegelt und schliesslich Ruinen hinterlassen.
In seiner Heimat hat Coskun schon fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Er habe seine Muttersprache Kurdisch gesprochen, die in der Türkei verboten sei, erklärt er und fügt mit einem ironischen Grinsen hinzu: «Kurdisch lesen und schreiben, das habe ich erst im Gefängnis gelernt.»
Die Sprache ist ein wichtiger Teil von Mehmets Leben – darum legt er auch Wert darauf, gutes Deutsch zu lernen, damit er seine Geschichte selbst erzählen und mit den Menschen hier in einen Dialog treten kann.
Dialoge führt er auch als Co-Präsident des Dachverbands HDK, eine Dachorganisation von prokurdischen und oppositionellen türkischen Kräften: «Wir bereichern einander, ohne dass wir uns den jeweils anderen Gruppierungen angleichen müssen.»
Immer wieder spricht Coskun über Vielfalt, über das scheinbar simple und doch nicht überall existente Recht, seinen eigenen Glauben, seine eigene Kultur zu haben. Aus einem autokratisch regierten Land nach Basel – wie fühlt sich das an?
Coskun denkt kurz nach und spricht dann mit leisen, genauen Worten, als hätte er sich über alle Fragen der Welt bereits Gedanken gemacht: «Im Hirzbrunnen-Quartier, in dem wir wohnen, hat alles dieselbe Farbe, jeder Garten sieht gleich aus, du musst auch gleich sein, wenn du dazugehören willst. Aber hier im Iselin sind alle anders.» Er deutet auf ein ungezähmtes Blumenbeet in der Mitte der Kreuzung draussen. «Wie die Blumen dort. Hier ist es farbig und manchmal wild, hier lebt es.»
Im Iselin grüssen sich die Leute und tun ansonsten das, was Coskun sich so sehr wünscht: leben und leben lassen.
Man verstehe sich, ohne die Sprache des jeweils anderen zu sprechen, es gebe «eine Verbindung in der Seele»: ähnliche Lebenssituationen, mangelnde Sprachkenntnisse, Biografien mit Rissen. Echte Berührungspunkte und Dialoge gibt es jedoch kaum, alle grüssen sich auf der Strasse und tun im Grunde das, was er sich so sehr wünscht: leben und leben lassen.
Dass es wenige Berührungspunkte gibt, liegt auch daran, dass Coskun den Grossteil des Tages in seinem Lokal verbringt. Seine Gäste seien mehrheitlich Schweizer, sagt er, vereinzelt Kurden und Leute aus dem Balkan. Den Grund dafür sieht Coskun nicht unbedingt im mangelndem Interesse, sondern darin, dass es sich Schweizer eher leisten können ins Café zu gehen. «Viele denken wohl, sie müssten immer etwas essen oder trinken, wenn sie hierher kommen – so gehen viele Gespräche verloren», bedauert der gelernte Koch.
Man spürt, hier im Iselinquartier, in seinem Lokal fühlt Coskun sich wohl. Trotz oder eigentlich gerade wegen der vielen Arbeit. Der Plan von Coskun und seiner Frau war ursprünglich gewesen, dass er für zwei Jahre in die Schweiz kommt und sie dann gemeinsam nach Cizre zurückkehren. Nur: Die Stadt liegt in Trümmern, und für Menschen wie ihn ist es in der Türkei zu gefährlich.
Als Coskun im Frühling vor einem Jahr Verwandte in der Türkei besuchen wollte, wurde er am Flughafen verhaftet. Nach dem gescheiterten Putsch-Versuch im Sommer davor geriet auch Coskun als Erdogan-Kritiker ins Visier der staatlichen Repression. Doch er hatte mehr Glück als andere Schweizer Türken, nach wenigen Tagen kam Coskun frei und schaffte es ausser Landes.
Seither weiss er, dass kein Weg zurückführt. Sein Platz ist jetzt in Basel. Doch auch hier ist es nicht immer einfach. An Leib und Leben ist er hier nicht bedroht, materiell musste er aber eine Zeit lang unten durch, als er von der Sozialhilfe lebte. «Ich kannte dieses Gefühl nicht: abhängig zu sein, seinen Lebensunterhalt nicht selbst zu verdienen», sagt Coskun und schüttelt den Kopf: «Ich konnte so nicht leben – das verletzte meine Würde.»
«Hier weiss ich, dass ich nicht plötzlich erschossen oder entführt werde, hier darf ich mich selbst sein.»
Besser wurde es, als er sein Lokal eröffnete, das er nach den zwei ersten Buchstaben der Namen seiner Frau Elif und deren Kinder benannte.
Coskun ist immer wieder auf die Beine gekommen, nun sitzt er wie ein Fels in der Brandung in seinem Lokal. Kraft gibt ihm sein unermüdlicher Wille, die kurdische Sprache und Kultur am Leben zu erhalten und auch die Dankbarkeit, in der Schweiz zu leben: «Hier weiss ich, dass ich nicht plötzlich erschossen oder entführt werde, hier darf ich mich selbst sein.» Manchmal aber, vermutlich viel zu oft, zerrt das Heimweh an ihm, das eigentlich noch viel mehr ist – das Fehlen eines Teiles seiner Identität, seiner selbst.
«Ich wurde verfolgt, für das, was ich bin. Meine Kindheit, meine Träume von damals – alles ist noch in Cizre.» Coskun aber ist hier. Jeden Sommer, erzählt der Wirt, vergehe er fast vor Sehnsucht nach dem Meer.
Die Heimat weit weg
Wenn er über Politik spricht, ist sein Blick klar und konzentriert, fast vermag er sein Gegenüber nur mit den Augen zu überzeugen. Spricht er aber über seine Heimat und das Heimweh, das Leben mit der Natur, so wandert sein Blick durchs Fenster nach draussen, als könnte er dort seine Heimatstadt sehen. Wenn das Heimweh besonders schmerzt, zieht er sich zurück und hört kurdische Musik, die ihn wegträgt, «zurück».
Coskun zeigt auf einen jungen Baum vor seinem Lokal. Vor einiger Zeit wurde er hier gesetzt, die Stadtgärtnerei kümmert sich regelmässig um ihn, er wird gewässert und gepflegt. «Das rührt mich», sagt Mehmet Salih Coskun, «wie man sich hier um ein Lebewesen kümmert, das seinen natürlichen Ursprung nicht hier hat und trotzdem irgendwie leben muss.»