Nora Jäggi ist Weltmeisterin im Powerlifting: Mit über 200 Kilo schaffte die 20-Jährige letztes Jahr einen Weltrekord. Eine Begegnung mit einer Männerego-Killerin.
Langsam läuft sie zur Bühne. Sie wiederholt ihr Atmungsritual: Ein, aus, ein, aus. Gleichmässig. Mittlerweile kann sie mit der Nervosität umgehen. Die Hantel liegt vor ihr auf dem Boden, sie bückt sich, ihre Hände suchen den richtigen Griff, fühlen den Stahl mit der feinen weissen Magnesiumschicht. Ihre Konzentration ist ganz auf ihren Körper gerichtet, man spürt förmlich, wie sich die ganze Energie um sie herum in ihrer Brust verdichtet. Die Finger schliessen sich um den Stahl, sie blickt nach vorne, ins Leere, in sich hinein. Sie presst die Schultern nach hinten, holt Luft und dann – dann hebt Nora Jäggi langsam 207,5 Kilo in die Höhe.
207,5 Kilo, das ist schwer. 207,5 Kilo sind ein Babyelefant, 320 Basketbälle oder vier Geschirrspüler. 207,5 Kilo ist das Gewicht, das Nora Jäggi letztes Jahr an der Powerlifting-Weltmeisterschaft einen Weltrekord im Kreuzheben einbrachte und zu ihrem Weltmeistertitel beitrug. Jetzt – ein Jahr später – ist es an der Zeit, den Titel zu verteidigen. Doch die 20-Jährige glaubt nicht so recht an sich.
Sekunden entscheiden über Sieg oder Niederlage
Sie sitzt in der Übungshalle der Basler Crossfitter, der «Box», wie sie den Raum nennen, trinkt Wasser und schüttelt den Kopf. «Ich bin nicht bereit.» Es fühle sich ganz anders an als letztes Jahr, sie sei nicht in Form. Den Titel werde sie wohl nicht verteidigen können. Sie schaut hoch, ihre blauen Augen sind ernst. Schon vor zwei Wochen, bei der Junioren-Europa-Meisterschaft im olympischen Gewichtheben sei ihre Leistung enttäuschend gewesen: Sie war nicht auf der Höhe, hatte eine Schulterverletzung, die Vorbereitung lief nicht optimal.
War es schwierig für sie zu verlieren? – «Ja.» Die Antwort kommt wie aus der Kanone geschossen. «Sehr schwierig. Da waren Leistungssportler, das wusste ich, Sportler, die das beruflich machen. Ich aber ging mit dem Ziel hin, für mich mein Bestes zu geben, mein Rekordgewicht zu lüpfen, weisst du? Vielleicht auch etwas mehr. Aber ich habe es nicht geschafft. Das war schlimm.»
«Ich habe es nicht geschafft. Das war schlimm.» Rückblick auf den Moment als Nora es nicht schaffte, ihr Rekordgewich zu heben. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Im olympischen Gewichtheben und Powerlifting – den beiden Kraftsportarten, in denen Jäggi zu Wettkämpfen antritt – entscheiden Sekunden über Sieg oder Niederlage. Ein kurzer Moment, in dem das Gewicht in den starken Händen der Sportler liegt, ein kurzer Moment, in dem alles zählt. Entweder man bringt es – oder eben nicht.
Angefangen hat bei Nora Jäggi alles an der Sportnacht vor etwas mehr als zwei Jahren. Sie war mit einer Freundin unterwegs und sah einen Stand, an dem junge Menschen trainierten. «Das war toll, die haben da alles gegeben.» Die Sportler sprachen Nora und ihre Freundin an und motivierten sie, beim laufenden Wettbewerb mitzumachen. Nora Jäggi schaffte die meisten Runden aller Teilnehmenden: «In Jeans!» Sie lacht. Ihr habe die Intensität des Trainings gefallen. «Es ist mega hart, es bringt dich voll an deine Grenzen, das finde ich toll.» Als Preis für die Leistung gewann sie einen Monat lang gratis Crossfit-Training.
Das Training ist ihr anzusehen: Ihr Oberkörper ist breit, die Arme sind muskulös. Im Team nennen sie ihre Kollegen die «Männerego-Killerin». Nora lacht, stolz und etwas verlegen. «Naja, es ist halt so, dass in vielen Klassen vielleicht die Männer denken: Nora hat so und so viel gedrückt, jetzt muss ich das auch schaffen.» Ihre blauen Augen blitzen. Angeberei ist nicht ihr Ding. «Ich hab halt einfach gemacht und bin dann schnell stärker geworden.» Sie habe schon immer Sport getrieben, zwölf Jahre lang Judo, wo sie heute noch einmal die Woche Krafttraining unterrichtet. Dazu kommen die Klavierstunden, der Vorkurs, um Pädagogik studieren zu können, und ein Nebenjob als Buchhalterin im Geschäft ihrer Eltern. Wird ihr das zuweilen nicht etwas zu viel? Sie zuckt mit den Schultern. Ihre Freizeit sei halt ihr Training, das könne man schon so sagen.
Das stärkste Mädchen von Basel
Nora Jäggi ist Weltmeisterin im Powerlifting: Mit über 200 Kilo schaffte die 20-Jährige letztes Jahr einen Weltrekord. Eine Begegnung mit einer Männerego-Killerin: tageswoche.ch/+070yi
Posted by TagesWoche on Freitag, 30. Oktober 2015
Abstand braucht sie manchmal trotzdem, dann geht sie in die Berge, Ski fahren, verbringt Zeit mit ihrer Familie, mit ihrem Freund und dem Freundeskreis ausserhalb der Crossfitter. «Diese Abwechslung ist mir wichtig.» Sie geniesst gerne, auch gutes Essen, selbst wenn Wettkämpfe anstehen. «Sonst würde es bei mir vom Kopf her gar nicht gehen. Es muss mir gut gehen. Das ist fast wichtiger als der Körper: Der funktioniert dann immer irgendwie.»
Kurze Zeit später steht Nora inmitten ihrer Kollegen, die keuchend und schnaufend riesige Gewichte heben. Sie schaut konzentriert auf die Hantel vor ihr, atmet ein und keine Sekunde später sind die Kilos oben. Der Begriff «reissen», den man hier für diese Bewegung braucht, scheint unpassend. Bei Nora sieht es zügig aus, fast geschmeidig. Die ganze Körperkontrolle spiegelt sich in ihrem Gesicht wieder: Es verzieht sich vor Anstrengung, die Augen verkniffen, der Mund zusammengepresst, ein paar Sekunden lang. Dann lässt sie die Hantel fallen und die Anspannung weicht urplötzlich. Einen Moment lang sieht Nora verloren aus, das Gesicht ganz leer. Dann nimmt sie einen Schluck Wasser und lächelt. Sie hat es gebracht.