Schneewittchen auf dem Spielplatz

Die Ballerina Andrea Tortosa Vidal tanzt diese Saison beim Ballett Basel die Hauptrollen. Mit der letzten Aufführung vor der Sommerpause feiert die 27-Jährige nun Premiere als Choreografin ihres ersten Stückes «Playground».

Mit zwölf Jahren zog die heute 27-jährige Andrea Tortosa Vidal von Alicante nach Saragossa in ein Tanzinternat. (Bild: Livio Marc Stoeckli)

Die Ballerina Andrea Tortosa Vidal tanzt diese Saison beim Ballett Basel die Hauptrollen. Mit der letzten Aufführung vor der Sommerpause feiert die 27-Jährige nun Premiere als Choreografin ihres ersten Stückes «Playground».

«C’mon guys, keep concentrated – only eight more minutes», ruft Andrea Tortosa in den Probesaal. Kurz nur kauert sie über ihrem Notizbuch, schon drehen, dehnen und flachsen die sechs Tänzer. Doch kaum startet Tortosa das Tape, verwandelt sich der Haufen Flöhe in anmutige Tänzer. Knapp drei Wochen hatten sie täglich eine Stunde Zeit, um «Playground» einzustudieren. Vieles imaginär, da die Musik anfangs nicht fertig war und man erst in der Premierenwoche mit Bühnenbild probt. «Wenn man die Tanzausbildung hinter sich hat, ist Ballett vor allem eine Kopfsache», findet Tortosa.

Ihren Kopf, und zwar eine sturen, brauchte sich auch für diese Ausbildung. Mit gerade mal zwölf Jahren überzeugte Tortosa ihre Eltern, sie von Alicante ins 500 Kilometer nördlich gelegene Saragossa ziehen zu lassen, um dort eine der besten Tanzschulen Spaniens zu besuchen. Der Vater hatte als Musiker mehr Verständnis für die Tochter als die Mutter. Doch letztlich ermöglichte diese mit ihrem Lohn Klein Andrea den Besuch des Tanzinternats.

Hungrig im Kloster

Die ersten zwei Jahre wohnte die angehende Tänzerin bei Pflegegrosseltern, dann mit anderen Schülerinnen in einem Kloster. Nach einem Jahr wurden sie rausgeschmissen. «Die Nonnen hatten kein Verständnis dafür, dass wir jeden Abend bis zehn Uhr trainierten und dann viel zu spät zum Nachtessen kamen.» Manche Nacht lag Tortosa hungrig im Bett, und es flossen viele Tränen. «Ballett verlangt viele Opfer und bedeutet leiden. Dauernd hörst du: Du bist zu klein, zu dick, hast falsche Füsse und springst nicht hoch genug!»

 

(Bild: Livio Marc Stoeckli)

Besserung kam, als sie mit 16 Jahren in ihre erste WG zog. «Ich ging das erste Mal in den Ausgang, und mir eröffnete sich eine neue Welt mit normalen Leuten.» Den Ausgleich zur Tanzwelt suchte Tortosa weiterhin, als sie mit ihrer ersten selbst kreierten und getanzten Choreografie einen Tanzwettbewerb gewann und deshalb ans international höchst renommierte Nederlands Dans Theater konnte. Nach den Proben tauschte sie die Ballerinas gegen Docs und hing mit Punks im Park ab.

Mit 18 Jahren wurde es dann Zeit, von den Schulen in ein Tanzensemble zu wechseln. Tortosa gehörte zu den glücklichen drei, die aus 200 Bewerbern einen Stagiaire-Platz beim Ballett Basel erhielten. Nach drei Saisons am Rhein folgte sie dem italienischen Gast-Choreografen Mauro Bigonzetti in sein Ensemble nach Reggio Emilia, um international Erfahrung zu sammeln. Die nächsten vier Jahre tourte sie mit 18 Tänzern von Bühne zu Bühne. Dann hatte sie genug von den immer gleichen Leuten und Themen.

Geschmeidig trotz Schmerzen

Dass Tortosa vor knapp zwei Jahren wieder in Basel anklopfte, verstanden einige Tanzfreunde nicht. «Viele meinten, eine Rückkehr sei ein Schritt zurück auf der Karriereleiter. Mir gefielen jedoch die Arbeit und die menschliche Atmosphäre in Basel sehr gut. Ballett-Direktor Richard Wherlock holt die weltbesten Choreografen ans Theater, weshalb die Tänzer alles geben, um die Top-Rollen zu bekommen. Aber es herrscht ein fairer, sportlicher Ehrgeiz.»

In der ablaufenden Saison zahlte sich das Rückkehrrisiko aus. Tortosa tanzte in allen drei Stücken die Hauptrolle. «Mein Höhepunkt war, dass mich Wherlock für seine Inszenierung von ‹Snow White› als Schneewittchen wählte – eine Traumrolle.»

Doch selbst in ihrem tänzerisch erfolgreichsten Jahr hört das Leiden nicht auf. So musste Tortosa bei ‹Absolut Dansa› drei Tage, nachdem sie ihre Schulter ausgekugelt hatte, zurück auf die Bühne, da es für sie keine Ersatztänzerin gab. Tortosa: «Wir arbeiten seit Kindheit mit unserem Körper. Da lernt man bescheissen, dass die Bewegungen trotz Schmerzen rund und geschmeidig wirken. Auf der Bühne killt das Adrenalin den Schmerz sowieso.»

Wirklich weh tut ihr jedoch, dass sich ihr Partner im aktuellen Stück «Blaubart» die Hand gebrochen hat und nun bis Saisonende der zweite Cast übernimmt. «Ich mag das Stück so sehr. Es ist hart, wenn man es plötzlich nie mehr tanzen kann.» Noch mehr schmerzt der Verlust der Hauptrolle, weil Mutter, Bruder und Vater sie diesen Monat besuchen kommen. Obwohl sie fern voneinander leben, stehen sie sich sehr nahe. Als ihr Vater in der spanischen Wirtschaftskrise seinen Job verlor, schickte sie all ihre Ersparnisse heim. Bis heute unterstützt sie ihn: «Meine Eltern hatten mir ja ermöglicht, dieses Geld zu verdienen. Ausserdem war das just, als ich wusste, dass ich wieder nach Basel kann und fortan einen sicheren Lohn habe.»

«Ich genoss eine typisch spanische Erziehung, wo man lernt, sich zu opfern, dass immer die anderen zuerst kommen.»

Immerhin kann die Familie nun Tortosas erste Choreografie am Ballett Basel sehen. Zum Saisonende können die Tänzer im «Dance Lab» eigene Stücke auf die Bühne bringen. «Eigentlich wollten fast alle Tänzer ein Stück machen, was zeigt, wie kreativ das Ensemble hier ist», sagt Tortosa. Doch darf man nur alle zwei Jahre ein Stück einreichen.

(Bild: Livio Marc Stoeckli)

Kampfplatz der Kinder

Sechs Choreografien werden nebst der von Tortosa aufgeführt. «Auf ‹Playground› kam ich, weil ich in meinen Stücken Emotionen ausdrücken wollte, die ich gerade nicht aussprechen konnte. Der Spielplatz ist der Ort, wo man als Kind spielt und kämpft, um seine Balance zu finden. Ich genoss eine typisch spanische Erziehung, wo man lernt, sich zu opfern, dass immer die anderen zuerst kommen. Doch wenn man Konflikte vermeidet und nichts riskiert, verliert man sich selbst. Man muss reden, und meine Sprache ist der Tanz!»

Als Choreografin zu arbeiten kann sich Tortosa gut vorstellen, wenn sie dereinst ihre Ballett-Karriere beenden muss – oder noch besser: «Kindern einen positiven Zugang zum Tanzen ermöglichen!» Das kann durchaus in Basel sein. «Die Stadt ist mit all der Kultur und den verschiedenen Nationalitäten sehr inspirierend. Ich habe viele gute Freunde kennengelernt. Die meisten sind sehr kreativ in der Musik, im Film oder der Kunst, und doch pflegen sie einen entspannten Lebensstil. Wenn ich mit ihnen am Rhein sitze, bin ich daheim.»


Dancelab6 – Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Basel choreografieren, Theater Basel, Kleine Bühne. Premiere: Fr, 6. Juni, weitere Vorstellungen bis Ende Juni.

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