Auf der Brücke von Varvarin – 17 Jahre nach dem Nato-Bombardement

Vor 17 Jahren endete das Nato-Bombardement Serbiens, doch die Wunden sind noch nicht verheilt. Ein Besuch in Varvarin, wo zehn unschuldige Zivilisten bei der Bombardierung der Brücke starben.

Die Nato warf vor 17 Jahren Bomben auf diese Brücke. Am Kopf erinnert ein Denkmal an die Toten.

(Bild: Krsto Lazarevic)

Vor 17 Jahren endete das Nato-Bombardement Serbiens, doch die Wunden sind noch nicht verheilt. Ein Besuch in Varvarin, wo zehn unschuldige Zivilisten bei der Bombardierung der Brücke starben.

Zoran Milenkovic steht im Regen am Grab seiner Tochter und zündet eine Kerze an. «Sanja wäre heute 32 Jahre alt und hätte sicherlich die Universität abgeschlossen», sagt er. Das Grab besteht aus einem Häuschen und einem kleinen Vorplatz. An der Wand hängen Bilder von Sanja. Sie zeigen sie beim Sommerurlaub am Strand und bei Familienfesten. «Sie war sehr gut in Mathematik», sagt ihr Vater, «aber dann kam alles anders.» Der Grund dafür findet sich an einer Grabtafel, auf der in kyrillischen Lettern geschrieben steht: «Im Gedenken an die Opfer der Nato-Bombardierung vom 30. Mai 1999.»

Operation Allied Force
Die Nato bombardierte im Rahmen des Kosovokrieges vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 die damalige Bundesrepublik Jugoslawien, die aus den beiden verbliebenen Republiken Serbien und Montenegro bestand. Ziel war es, die Armee Slobodan Milosevics zu einem Rückzug aus dem Kosovo zu zwingen. Der Einsatz fand ohne Mandat der UNO statt und wird daher von vielen Experten als Bruch des Völkerrechtes interpretiert. 

Als am 24. März 1999 die Bombardierung Serbiens durch die Nato begann, holte der Bürgermeister Zoran Milenkovic seine Tochter nach Varvarin zurück. Die 15-jährige Sanja besuchte die neunte Klasse eines mathematischen Gymnasiums in der serbischen Hauptstadt. «Hier war es sicherer als in Belgrad, sie hatten ja keinen Grund unser kleines Städtchen zu bombardieren», sagt Milenkovic heute.

Varvarin liegt am Fluss Morava, 80 Kilometer nördlich der Grossstadt Nis. Viele Menschen hier arbeiten in landwirtschaftlichen Kleinbetrieben, die nach Russland exportieren. Während der Erntezeit kommen heute noch Saisonarbeiter aus dem benachbarten EU-Land Bulgarien, um sich etwas Geld dazuzuverdienen.

Die Bomben

Im Jahr 1999 gab es in Varvarin keine Luftabwehr, keine Kaserne und kein militärisches Gerät. Es gab nur eine Brücke über die Nachschub für Milosevics Truppen im Kosovo transportiert worden sein soll. So jedenfalls sieht es die Nato. Die Bewohner sagen aber, die Brücke sei für den Nachschub bedeutungslos gewesen.

Obwohl die serbische Luftabwehr bereits nach kürzester Zeit geschlagen war und den Nato-Bombern nichts mehr entgegenzusetzen hatte, weigerte sich der damalige Präsident Slobodan Milosevic, bedingungslos zu kapitulieren und seine Armee aus dem Kosovo zurückzuziehen. Nachdem die militärischen Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien ausgeschaltet waren, begann die Nato deshalb vermehrt zivile Ziele zu bombardieren.

Trotz des Regens zündet sich Zoran Milenkovic eine Zigarette an. Er läuft über die Brücke, die wiederaufgebaut wurde. Seine grauen Haare und seine braune Jacke werden nass, als er zu erzählen beginnt, was hier am 30. Mai 1999 passierte.

An jenem Sonntag schien die Sonne, keine einzige Wolke war am Himmel. Die Bewohner Varvarins gingen in die Kirche, um das orthodoxe Dreifaltigkeitsfest zu feiern. Auf dem Markt boten die vielen Landwirte die berühmten Feldfrüchte aus der Region an. Sanja überquert mit zwei Freundinnen die Brücke um den Markt zu besuchen, als zwei Bomber am Horizont auftauchen.

Der Verlust

Ausser ihnen befindet sich noch ein Auto auf der Brücke. Die beiden Insassen kamen vom Markt und waren auf dem Weg nach Hause. Um 13.01 trifft eine Bombe den Mittelpfeiler der Brücke, die in sich zusammenbricht. Die drei Mädchen klammern sich an dem Brückengelände fest, um nicht in die Morava zu fallen. Vom nahe gelegenen Markt, rennen die Menschen zum Ufer, um den Mädchen und den anderen zur Hilfe zu kommen. Der F-16 fliegt über der Brücke und zündet eine zweite Bombe. Zehn Tote, 27 Verletzte. Die 15-jährige Sanja Milenkovic verblutet auf dem Weg ins Krankenhaus.

«Der Sieg über das Böse hat immer seinen Preis» – mit diesen Worten rechtfertigte der damalige Nato-Sprecher Jamie Shea die Bombardierung der Brücke Varvarins. Er war es auch, der den Begriff «Kollateralschaden» für unschuldige Opfer im Militärjargon etablierte. Die Brücke von Varvarin sei ein «legitimes militärisches Ziel» gewesen.

Heute erinnert ein Denkmal neben der neuen Brücke an die zehn Toten. Auf dem Denkmal ist ein Zirkel abgebildet, der sich rund um einen Globus spannt. In Erinnerung daran, dass Sanja Mathematik liebte und noch die ganze Welt sehen wollte.

«Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet uns bombardiert haben. Warum haben sie so viele unschuldige Menschen getötet, statt einfach Milosevic umbringen zu lassen?», fragt Zoran Milenkovic mit einer überraschenden Ruhe in seiner Stimme.

Der Bürgermeister stand 1999 in Opposition zum Milosevic-Regime. Der Diktator war in Varvarin unbeliebt. «Sie hätten das auch anders regeln können. Serbien ist das einzige europäische Land, das jemals von der Nato bombardiert wurde.»

Das Klagen

Sanja hatte das Gesicht ihrer Mutter geerbt. Vesna Milenkovic trifft sich mit ihrem Ex-Mann unweit der Brücke auf einen Kaffee. Sie ist sichtlich müde von den Prozessen, die sie in Deutschland geführt hat. Im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann ist Sanjas Mutter die Verbitterung über den Tod ihrer Tochter noch deutlich anzusehen und man hört sie aus jedem Wort heraus.

«Manche Piloten haben Projektile zur Warnung abgeschossen, doch dieser nicht», sagt sie. «Die Brücke war kein militärisches Ziel, sie wollten einfach Zivilisten umbringen.» Anders kann sich Sanjas Mutter nicht erklären, warum ausgerechnet an einem Sonntag, einem orthodoxen Feiertag, um 13.00 Uhr gebombt wurde. Wäre es wirklich um die Brücke gegangen, dann hätte man sie doch auch nachts zerstören können, wenn keine Menschen dort waren.

«Wir wollen kein Geld. Wir wollen nur wissen, wer an diesem Tag entschied, unsere Tochter zu ermorden.»

Vesna Milenkovic klagte mit anderen Bürgern Varvarins vor dem Bonner Landgericht, weil sie Deutsch spricht und es dort Anwälte und Aktivisten gab, wie den Berliner Harald Kampffmeyer, die bereit waren zu helfen. Sie sagt: «Wir wollen kein Geld. Wir wollen nur wissen, wer an diesem Tag entschied, unsere Tochter zu ermorden.»

Sie wissen bis heute nicht einmal aus welchem Land der Bomber kam. Sie wissen nicht, wer den Befehl dazu gegeben hat. Die Nato gibt diese Informationen nicht heraus. Das Landgericht wies sie 2003 mit der Begründung ab, Individuen könnten nicht wegen Kriegsgeschehnissen gegen einen Staat klagen. Auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe wies die Klage von 35 zivilen Opfern am 2. November 2006 ab.

Die Ohnmacht führt bei Vesna Milenkovic zu Wut: «Es ist, als wäre es gestern geschehen, auch wenn es nun 17 Jahre her ist.» Sie tippt mit dem Zeigefinger auf ihr Herz: «Es fühlt sich so schwer an.» Nach einem schnellen Kaffee geht sie wieder. Sie ist müde davon, der Welt zu erklären, welche Ungerechtigkeit ihr angetan wurde.

Die Hoffnung


Trotz seinem Verlust glaubt Zoran Milenkovic an eine Zukunft Serbiens in der EU. Auch wenn diese sich an der Bombardierung von EU-Ländern beteiligt haben. Er nennt die Vorteile, die eine Mitgliedschaft bringen würde: Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung, Investitionen in Infrastruktur. Doch nicht allen im Café gefällt das. Ein Mann schreit über drei Tische zu ihm herüber: «Wir wollen nicht in die EU, aber uns fragt ja niemand», während er drei Finger in die Luft hält – der serbische Gruss. «Wohin willst du dann?», entgegnet Milenkovic. Der Mann: «Wir wollen enger an Mütterchen Russland rücken, die haben uns wenigstens nicht bombardiert.»

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