Von Waffenstillstand keine Spur: Saizewe ist zum neuen Brennpunkt im Krieg in der Ostukraine geworden. Die Front verläuft hier mitten durchs Dorf. Zwischen den ukrainischen Truppen und der «Donezker Volksrepublik» liegt lediglich ein Friedhof. Eine Reportage.
Bodennebel schleicht durch die Ebene und hüllt die Häuser in wattiges Weiss. Nieselregen trübt den Blick, und Hundegebell schneidet durch die Stille. Doch die Ruhe trügt, sagt Aljona Nikolajewna. «Vor einer halben Stunde hat es das letzte Mal gekracht», erzählt die kräftige Frau mit dem Kurzhaarschnitt. «In der Früh kamen sogar Kinder auf dem Schulweg unter Beschuss.»
Das Dorf Saizewe ist zu einem neuen Brennpunkt im Krieg in der Ostukraine geworden. Ein Teil des Dorfes wird von den Kämpfern der selbstproklamierten «Donezker Volksrepublik» kontrolliert. Weiter in westlicher Richtung stehen aber schon die ukrainischen Truppen, nur durch einen Friedhof getrennt. Der Krieg hat das Dorf zur Front gemacht – fast täglich kommt es hier zu Gefechten.
Schule zerschossen
Die 42-jährige Aljona führt einen kleinen Lebensmittelladen im Saizewer Dorfzentrum, das von den Separatisten kontrolliert wird. Längst richten sich die Öffnungszeiten nicht mehr nach Personal oder Nachfrage, sondern nach dem Rhythmus des Krieges. «Um halb acht sperren wir auf», sagt Aljona. «Und wir haben so lange geöffnet, bis der grosse Beschuss beginnt.»
Mittlerweile könne man schon fast die Uhr danach stellen – der Beschuss beginnt meist zwischen fünf und sechs Uhr abends, spätestens mit Einbruch der Dunkelheit. «Um sechs geht es wieder los!», sagt auch einer von zwei Soldaten der «Donezker Volksrepublik», die gerade den Laden betreten haben. «So ist das jeden Tag. Wir schützen einfach unser Territorium», sagt er. «Ob das jetzt Saizewe ist oder ein anderer Ort. Wir verteidigen die Unsrigen, unsere Erde.»
Das Leben im Dorf, das vor dem Kriegsausbruch vor zwei Jahren noch 3300 Einwohner hatte, ist zur Zumutung geworden. «Gestern haben wir wieder im Keller übernachtet», sagt Alexandra, eine 17-jährige Schülerin, die über den menschenleeren Hauptplatz huscht. «So geht das schon seit fast einem Monat.» Der Schulbetrieb beschränkt sich zuletzt auf das Vergeben von Hausaufgaben, vor einigen Tagen wurde auch die örtliche Schule von Beschuss getroffen.
Familien getrennt
Mittlerweile ist bereits das halbe Dorf von der Stromversorgung abgeschnitten, wie auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in ihrem Bericht festhält (laufende Aktualisierungen auf der Webseite der OSZE). Mangels Feuerpause rückt oft nicht einmal mehr die Feuerwehr aus, um getroffene Häuser zu löschen. Alexandra weist mit der Hand weiter. «Dort, ein Stück weiter, sind in der Nacht wieder Granaten eingeschlagen.» Zwei Drittel der Häuser sollen mittlerweile unbewohnbar sein. Es gibt viele Verletzte, auch Todesopfer hat Saizewe zu beklagen.
In der sanften Hügellandschaft reihen sich kleine Holzhäuschen und bunte Zäune aneinander, die löchrigen Strassen und schlammigen Wege sind menschenleer. Viele Fensterläden sind verriegelt. Verwandte und Bekannte sind über das ganze Dorf verteilt – so auch auf der anderen Seite der Front, erzählt die Verkäuferin Aljona. Besuchen können sie sich gegenseitig allerdings nicht, aber sie haben zumindest telefonisch Kontakt.
«Furchtbar ist es hier, wie dort», sagt Aljona und zuckt mit den Achseln. «Hier gibt es Beschuss, und dort gibt es Beschuss. Wir haben schon genug vom Krieg.» Trotz aller Widrigkeiten möchte sie vorerst in Saizewe bleiben. «Hier habe ich immerhin mein Haus, meine Arbeit, und meine Kinder gehen hier zur Schule.»
Reisen unmöglich
Die OSZE dokumentierte im Februar ein Anschwellen der Kämpfe im Donezker Gebiet. Auch Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove beklagte diese Woche, dass sich zuletzt die Kämpfe in der Ostukraine wieder intensiviert hätten. Saizewe liegt auf halber Strecke zwischen der Separatisten-Hauptstadt Donezk und der ukrainisch kontrollierten Stadt Artemiwsk.
Überhaupt ist Saizewe ein wichtiges Nadelöhr: Unweit des Dorfes befindet sich der Checkpoint für den Übergang zwischen dem ukrainisch kontrollierten Gebiet und der «Donezker Volksrepublik». Als die Kämpfe zuletzt wieder eskalierten, wurde der Checkpoint geschlossen. Reisende müssen dann grossflächig auf andere Checkpoints ausweichen – eine finanzielle und auch körperliche Tortur für arme und alte Menschen, die auf die jeweils andere Seite müssen.
Minsker Abkommen ohne Wirkung
In der Nacht wird Saizewe zum Geisterdorf. Einige Bewohner fliehen am Abend in die nahe gelegenen Städte in weniger exponierter Lage und kehren am nächsten Morgen wieder in das Dorf zurück. Früher tobte der Krieg vor allem in und um die grossen Städte, wie Donezk, Horliwka und Debalzewe. Mit dem Minsker Friedensabkommen konnten die Kämpfe zwar eingedämmt werden. Damit hat sich der Krieg, der laut UNO bereits 9160 Menschenleben gekostet hat, aber von den grossen Städten in die Provinz verlagert.
Hier wird nicht weniger erbittert um Stellungen gekämpft. Erst vor Kurzem gab die ukrainische Armee bekannt, den Separatisten eine Anhöhe bei Saizewe sowie russische Waffen abgetrotzt zu haben. Die Führung der selbst ernannten «Donezker Volksrepublik» hat das indes umgehend dementiert. Derweil beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, die Waffenruhe zu brechen.
Der Friedensplan von Minsk sieht eigentlich eine 30 Kilometer breite Pufferzone entlang der Kontaktlinie vor, samt Waffenabzug zwischen den ukrainischen Truppen und den Separatisten; eine sogenannte «graue Zone». Doch im Dorf Saizewe trennen die Konfliktparteien nur wenige Hundert Meter.
Verzweifelte Bewohner
Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier hat am Donnerstag überhaupt beklagt, es mangle an Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung des Friedensplans. Seine ungewohnt scharfe Kritik richtete sich dabei sowohl direkt an Kiew als auch an Moskau: Es werde nicht «mit dem genügenden Ernst gesehen, wie die Lage in der Ostukraine wirklich ist und dass sie jederzeit wieder eskalieren kann.» Steinmeier sprach weiter von einer «kritischen Phase».
In Saizewe selbst liegen die Nerven derweil blank. «Wenn ihr Journalisten kommt, dann ist es plötzlich wieder ruhig!», ruft eine alte Frau zu den Journalisten herüber. «Selbst die Deutschen haben uns nicht so bombardiert!», fährt ein alter Mann mit Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg dazwischen. „«Wohin sollen wir denn? Niemand wartet auf uns, wir sind überflüssig», fährt er verbittert fort, fast wie zu sich selbst. «Die Ukraine braucht uns nicht, und Russland braucht uns auch nicht.»