Am Anfang bin ich mir selbst peinlich. Vor mir steht die Schauspielerin Julie Bräuning, dunkle Haare, T-Shirt, Jeans, und was sie von mir fordert, scheint an sich bubieinfach: «Mach ein Geräusch und beweg dich durch den Raum. Mach einfach – ohne zu überlegen.»
«Hoppla», denke ich und bin auf einmal verunsichert. Im Alltag gibt man sich solche Mühe, Haltung zu bewahren. Hier muss ich sie aufgeben. Wer weiss, was da aus mir rauskommt, wenn ich nicht aufpasse: Singen? Quietschen? Oder noch schlimmer: Grunzen?
Es ist ein Morgen mitten in der Woche, draussen brennt die Sommersonne, aber da, wo ich für Julie Bräuning gerade ein Geräusch in mir suche, ist es kühl und still. Wir sind im Untergeschoss des Kulturraums h95 an der Horburgstrasse: Parkettboden, breite Fenster ganz zuoberst an der hohen Decke, schwarze Metallsäulen, ein Piano. «Morgentraining» bei Julie Bräuning.
Das Ziel ist kein Ziel
Die Baslerin hat an der Theater Hochschule Zürich Schauspiel studiert, später unter anderem am Schauspielhaus Bochum und am Deutschen Theater Berlin gespielt. Jetzt lebt sie wieder in Basel – und baut eben das «Morgentraining» auf.
Ihr Unterricht baut auf Grundelementen der professionellen Schauspielerei auf: Körperarbeit, Stimm- und Sprechtraining sowie Improvisation. Auf der Website schreibt sie, es gehe darum, «die spielerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern». Und man soll sich bei ihr «lebendig, wach, beweglich und weit fühlen». Nicht mehr und nicht weniger.
Keine Bühne, kein fixes Stück, kein Endergebnis – Julie Bräuning will es so: «Im Alltag wird man überall bewertet», sagt sie, «das hier soll ein geschützter Raum sein.»
Und das tut gut. Während man sich im Pilates ja eigentlich doch nur entspannt, damit man im Anschluss wieder leisten mag und man im Fitnesscenter dem knackigen Traumfüdli und dem gesünderen Herz hinterherrennt, gibt es im «Morgentraining» nur ein Ziel: das Spiel. Den eigenen Körper entdecken, die Stimme ausprobieren, sich in der Zeit verlieren.
Auf das «Morgentraining» aufmerksam wurde ich durch eine Studienkollegin. Sie hat das Training auf Facebook angepriesen. Ich wollte sofort da hin. Seit der Pfadi habe ich nie mehr Theater gespielt, fand das Spielen immer faszinierend und beängstigend zugleich.
Wow, bin ich nervös
Jetzt bin ich also hier, nervös. Normalerweise findet das «Morgentraining» in Gruppen statt. Doch Julie Bräuning wollte nicht einfach eine Journalistin in diesen geschützten Rahmen lassen. Und so stehe ich hier, mit dem Theater-Profi und der Fotografin, die meinen Selbstversuch mit der Kamera festhält.
Julie Bräuning merkt, dass ich nervös bin: «Probier es einfach aus, es geht nicht darum, etwas richtig zu machen.» Zuerst sperre ich mich dagegen, dann denke ich: «Ach, mach es einfach wie zu Hause.» Vor meinem Kind ist es mir nicht peinlich, wie ein verrückter Güggel durch das Haus zu watscheln.
Also öffne ich meinen Mund, nehme Anlauf und mache, was grad rauskommt: Ich wackle durch den Raum, lass Arme und Beine schlenkern und meine Stimme sirenenartig in die Höhe gleiten: «Au-wiiiiiiiii.»
Julie folgt mir, im Gleichschritt durchqueren wir den Raum, drehen eine Runde um die Metallsäule. Alle Scham ist weg, dafür kommt Freude auf. Sie fährt in die Zehenspitzen, geht durch die Beine und rauf in den Bauch und weiter, bis ich bis in die Ohren voll bin davon. Wow!
Ist der Knopf auf, ist er auf
«Ich gebe nicht gerne Kontrolle ab», habe ich Julie Bräuning zur Begrüssung gesagt. Doch das erweist sich als kolossale Fehleinschätzung. Ich stelle fest: Ist der Knopf erst mal auf, ist er auf.
Julie hat im Raum Stühle aufgestellt. Ich soll jeweils einen auswählen, anvisieren und dann draufsitzen. Ich fokussiere einen Stuhl, setze mich drauf. Als Nächstes mache ich es mir auf der Treppe bequem, Julie setzt sich eine Stufe unter mich. Fühlt sich an, wie wenn du auf einem Bänkli am Rhein chillen willst, und dann setzt sich eine Fremde neben dich. Also fliehe ich. Weit weg auf die andere Seite des Raumes, unter den Flügel.
Doch Julie folgt, setzt sich voll in meine Nähe. Ich fliehe wieder, nehme einen Stuhl, drehe mich zur Wand.
So wird aus einem Spiel mit einem Stuhl plötzlich ein Spiel mit Julie. Jeder Schritt ist ein Schritt zu ihr hin oder einer von ihr weg. Als wären wir mit einem Band verbunden – obwohl wir uns gar nicht kennen.
Und aus diesen kleinen Szenen, die in dieser Spannung entstehen, kommt irgendwie eine Energie auf, die beflügelt. So esoterisch das klingen mag, aber: Ich bin schlecht gelaunt und mit Schlafmanko gekommen, jetzt bin ich heiter und wach.
Eine Idee aus dem Bürgertheater
Es ist die Kraft des Spielens, eine Kraft, die Julie gut kennt: «Wenn ich jeweils als Schauspielerin arbeite oder Trainings anleite, bekomme ich eine Energie, die nachher den ganzen Tag anhält.» Irgendwann merkte sie, dass sie nicht die einzige ist, die sich beim Spielen so lebendig fühlt.
Vor ein paar Jahren begann Julie Bräuning, gemeinsam mit Schauspielkollegen, Theaterprojekte mit Laien zu entwickeln, sogenanntes «Bürgertheater». Eines davon hiess «Soll ich jetzt vielleicht weinen?» Es war ein Stück über Arbeit, aufgeführt am Düsseldorfer Schauspielhaus, unter der Leitung von Julie Bräuning und Urs Peter Halter – ihr Ehemann. Er ist seit 2015 Ensemble-Mitglied am Theater Basel.
Für das Stück suchte das Paar Düsseldorferinnen und Düsseldorfer, die von ihren persönlichen Erfahrungen in der Arbeitswelt erzählten. Daraus choreografierten sie mit ihnen gemeinsam das Stück. So merkte Julie Bräuning, wie sich die Menschen mit dem Spielen verändern.
Da war etwa ein Mann, der in Trauer war. Er stand anfangs gebückt da, mit hängenden Schultern. Mit jeder Stunde spielen ging etwas in ihm auf. Eines Tages richtete er sich plötzlich auf und strahlte über das ganze Gesicht. Dort entstand die Idee für das «Morgentraining». Julie dachte: «Diese Energie, ich will sie teilen.»
Bei mir ist ihr das gelungen. Das «Morgentraining» macht glücklich.
Morgentraining für Profis: jeweils dienstags, 8.30 Uhr bis 9.45 Uhr, für Laien: jeweils donnerstags, 8.30 Uhr bis 9.45 Uhr im h95, Horburgstrasse 95. Weitere Infos.