Es prasselt so schön über den Köpfen der Kindergärtler

Statt in geheizten Räumen sind die Kinder im Waldkindergarten jeden Vormittag draussen. Was sie alles dabei lernen, und weshalb frühkindliche Naturerfahrungen so wichtig sind, das haben wir bei unserem Besuch beim Waldkindergarten Spitzwald erfahren.

Auch im Waldkindergarten wird wie in jedem anderen Kindergarten auch regelmässig gemalt und gebastelt. Ausser bei Minusgraden. Dann haben die bewegungsintensiven Aktivitäten Vorrang.

(Bild: Stefan Bohrer)

Statt in geheizten Räumen sind die Kinder im Waldkindergarten jeden Vormittag draussen. Was sie alles dabei lernen, und weshalb frühkindliche Naturerfahrungen so wichtig sind, das haben wir bei unserem Besuch beim Waldkindergarten Spitzwald erfahren.

In Allschwil ist noch Winter. Die Fasnacht liegt hinter uns, der Frühling vor uns. Es herrschen Minusgrade an diesem Märzmorgen. Ein bunt gekleidetes Grüppchen Kinder und drei Erwachsene setzen sich zum Klang einer leisen Flötenmelodie in Bewegung. Es geht in Richtung Wald. «Tschüss, Mami!», ruft es aus den Kindermündern, vereinzelt auch: «Tschüss, Papi!» 

Die meisten Eltern bringen ihre Kinder täglich selbst bis an den Treffpunkt beim Allschwiler Wald. Manche radeln vom Badischen Bahnhof bis nach Allschwil, andere übergeben ihre Schützlinge dem Kindsgi-eigenen Shuttlebus. Sie alle haben sich bewusst für diesen Waldkindergarten entschieden, damit ihre Kinder in der Natur das lernen, was ihnen in geschlossenen Räumen verwehrt bleibt. Doch was heisst das genau, bei Wind und Wetter draussen zu sein?

Stets in Bewegung

Heute heisst es vor allem: Frieren. Die unkundige Besucherin ist ungenügend bekleidet. Wattig, bauschig, in mehreren Schichten wäre die adäquate Garderobe. «Die Kinder haben selten kalt», sagt Praktikantin Julia, «sie sind immer in Bewegung.»

Der Weg vom Treffpunkt bis zum sogenannten Waldsofa – der Unterstand, Material- und Spielort des Waldkindergartens – dauert knapp eine Stunde. In dieser Zeit laufen die Kinder je nach Wegabschnitt in geordneten Zweierreihen oder in turbulenten Wettrennen, singen an den Haltepunkten gemeinsam Lieder und Versli, lernen Vogelstimmen zu identifizieren, balancieren über umgefallene Bäume, diskutieren mit dem Kindergärtner im Winter die Bruchsicherheit des Eises beim gefrorenen Teich und im Frühling, ob die neuen Pflänzchen unterwegs womöglich giftig seien. Die Kinder nehmen den Wandel der Jahreszeiten mit allen Sinnen wahr. Der Duft des Waldes, sein Klang, sein Licht und seine tierischen Bewohner verändern sich von Tag zu Tag.

Schön oder gefährlich? Warum Kinder im Wald gut aufgehoben sind, lesen Sie im Interview mit der Naturpädagogin Sarah Wauquiez.

Es gibt etliche Studien, die den Nutzen von frühkindlichen Naturerfahrungen belegen (eine Zusammenfassung der Lizentiatsarbeit von Sarah Kiener vom Institut für Psychologie der Universität Fribourg können Sie hier downloaden). Auch die WHO empfiehlt das freie Spiel in der Natur, weil es die Lebenskompetenzen stärkt: Selbstvertrauen, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz, Umgang mit Stress und Angst, Problemlösungsfähigkeiten, Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Es ist also nicht nur der Aufenthalt in der Natur an sich, sondern vor allem das freie Spiel in und mit der Natur, das den Kindern diese Entwicklungen ermöglicht.

Spielzeit ist Lernzeit

Freies Spiel wird im Waldkindergarten Spitzwald gross geschrieben. «Oft werden die Spielsequenzen zu kurz angesetzt und hinter den geführten Elementen an den Rand gedrängt», sagt Waldkindergärtner Peter Huber. «Spiel braucht Freiräume und Unstrukturiertes, an dem die eigene Kreativität ansetzen und sich entfalten kann. Die wesentlichsten Fähigkeiten können nicht von uns Erwachsenen direkt angeleitet werden. Oft ist ein solches Vorgehen sogar kontraproduktiv», ist er überzeugt. «Ein Kind entwickelt meines Erachtens die wesentlichen Fähigkeiten selbstständig – im passenden Setting und im Zusammenleben mit anderen. Nur so wird eine Fähigkeit echt und kann schliesslich in der Lebensmitte zur Geltung kommen. Spiel braucht Zeit. Ein Kind benötigt oft bis zu einer Viertelstunde, um ins Spiel hineinzufinden. Sind die Kinder dann im Spielprozess, versuche ich, sie mindestens eine Stunde lang spielen zu lassen, bevor wir gemeinsam zum nächsten übergehen.»

«In einem gewöhnlichen Kindergarten muss man viel mehr vorgeben und animieren – wie ein Showmaster.»


Waldkindergärtner Peter Huber 

Früher hat Peter Huber auch in einem staatlichen Kindergarten gearbeitet. «Wenn ich 20 Kinder in einem Klassenzimmer zu begleiten habe, mit vielen feststehenden Parametern, wie die gleichbleibende Lichtqualität der Neonröhren an der Decke, muss ich viel mehr Struktur aus mir selbst generieren und viele zusätzliche Regeln aufstellen, damit alles möglichst reibungslos funktioniert», sagt Huber. «Als Kindergärtner muss man da mehr vorgeben und animieren – wie ein Showmaster», lacht er. «Hier im Wald bin ich eher Vermittler und Begleiter. Im Sozialen gebe ich schon mal den Tarif durch, doch der hauptsächliche Lehrmeister ist der Wald. Ich versuche mit meinen Schäfchen zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und dann die reichen Erlebnisse zu beantworten, mit Aufgaben und Themen, Kulturellem wie Liedern und Geschichten…»

Begehrte Plätze

Beim Waldsofa angekommen, zeigen die Kinder stolz ihr selbstgebautes Baumhaus. Ein Projekt, das auch das soziale Miteinander förderte: «Wenn sich die Kinder selbst etwas bauen wollen, merken sie beim Äste schleppen, wie sie aufeinander angewiesen sind», sagt Huber. «Sie lernen so ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen kennen, und sie können lernen, zusammenzuarbeiten und sich auszutauschen». Beim Familienausflug im Wald fragen Kinder häufig nach der Hilfe der Eltern beim Klettern und Bauen. «Im Waldkindergarten schauen die Kinder untereinander mehr, was die anderen können, probieren es aus und werden mutiger», sagt Peter Huber. 

Nach dem Znüni und einem Schluck heissem Tee werden Wasserfarben und Papier ausgepackt. Auch im Wald wird gebastelt, geklebt, genäht und gemalt; aber eben auch gesägt, genagelt und gefeilt. Statt bunter Knete wird einfach Matsch zum Formen verwendet. Und der ist in rauen Mengen vorhanden.

Dieser Kindergarten-Waldplatz ist wie ein kleines Stück Paradies. So viel Ruhe, so viel Raum, so viele Entfaltungsmöglichkeiten. Kein Wunder, sind in den meisten Schweizer Waldkindergärten die Plätze heiss begehrt. In den beiden Zürcher Waldkindergärten «Wakita» und «Troll» kommen bis zu 40 Bewerbungen auf einen Platz. In Basel ist die Lage derzeit noch entspannter. Bislang konnte allen interessierten Eltern ein Platz zugesichert werden.

Dabei ist der private Waldkindergarten im Vergleich zum kostenlosen staatlichen Kindergarten ein recht teures Engagement: 650 Franken kostet ein Kindergartenplatz im Monat; wer auf den Shuttlebus angewiesen ist, zahlt noch mehr. Baselbietern werden immerhin ein Drittel der Kosten erstattet.

Staatliche Waldkindergärten im Aufwind

Dass ein Waldkindergarten nicht nur von privater, sondern auch von staatlicher Seite initiiert werden kann, zeigt derzeit der Obwaldner Hauptort Sarnen. Dort wurde ein staatlicher Waldkindergarten eingeführt, um den Gemeindehaushalt zu entlasten: Die Raummiete oder der Neubau eines Kindergartenhauses werden eingespart. Auch im Aargau wird derzeit für den Schulkreis Gönhard die Möglichkeit eines Waldkindergartens geprüft, nachdem die für einen Kindergarten-Neubau nötigen 1,2 Millionen Franken vom Einwohneramt abgelehnt wurden.

«Der Übergang zur Primarschule hat bei unserem Sohn problemlos geklappt. Das Stillsitzen in der Schule war nie ein Problem», sagt ein Vater.

Für manche Eltern vom Waldkindergarten Spitzwald ist der finanzielle Beitrag eine Belastung; Geringverdienende können eine Reduktion beim Verein beantragen. Doch alle Eltern sind sich einig, dass dieser Kindergarten goldrichtig für ihre Kinder ist. Tom aus Binningen schickte seine beiden Kinder, Sohn und Tochter, in den Waldkindergarten und sagt heute: «Das ist für die Kinder eine tolle Erfahrung, jeden Tag bei Wind und Wetter draussen zu sein. Sie werden total fit und sind fast nie krank. Und der Übergang zur Primarschule hat bei unserem Sohn problemlos geklappt. Das Stillsitzen in der Schule war nie ein Problem. Die Lehrerin sagte sogar, dass sich die Waldkinder besser konzentrieren können.»

Die Kinder sind zufrieden

Josette, selbst Primarschullehrerin, schickt ihren Sohn in den Waldkindergarten, weil es «das beste Alter für diese kontinuierliche Naturerfahrung» sei. «In diesem Alter brauchen die Kinder so viel Bewegung!» Dass manche Kritiker meinen, im Waldkindergarten könne der Lehrplan nicht eingehalten werden, kümmert sie nicht. «Im Kindergarten müssen die Kinder vor allem lernen, mit der Gruppe umzugehen. Alles andere lernen sie ohnehin später in der Schule.»

Im Übrigen könnten auch die Primarschulklassen selbst viel öfter in der freien Natur unterrichtet werden, sagt die Naturpädagogin Sarah Wauquiez im Interview mit der TagesWoche.

Und was gefällt den Kindern am Waldkindergarten? «Alles», sagt Iri. «Die Matschbölleli», sagt Antonia. «Das Baumhaus», sagt Lennard. Und Sascha: «Weisch, im Wald isch es super, wenns rägnet, nid wie in der Stadt. Es prasslet denn so schön!»

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