Der Tokio-Korrespondent des Guardian besucht ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe die Gegend um Fukushima. Er trifft auf Spuren des Tsunami, die hier niemand beseitigt, auf Arbeiter, die unter höchster Strahlenbelastung im Reaktor Schadensbegrenzung betreiben – und auf den Mann, der Besuchern bei Führungen im AKW Fukushima Daiichi jeweils erzählt hat, dass die Atomenergie sicher sei.
Man wird der schieren Zerstörung, die Japans Atomkatastrophe verursacht hat, schon gewahr, lange bevor man die geborstenen Reaktoren erreicht. Die Reise ins Innere der schlimmsten Atomkatastrophe seit Tschernobyl vor 26 Jahren beginnt bereits in den Städten und Dörfern, die heute nur noch dem Namen nach existieren und deren Bewohner vor einem Jahr fliehen mussten.
Wohnhäuser und Geschäfte stehen leer, die Straßen sind verlassen. In der Stadt Naraha (siehe Karte) liegen die Lebensmittel unberührt in den Regalen eines Gemischtwarenladens. Eine Handvoll Autos steht verstreut auf dem Parkplatz eines Supermarktes herum. Ihre Besitzer haben sie in der Panik, die auf die erste Explosion in einem der Reaktorgebäude in Fukushima Daiichi folgte, einfach zurück gelassen.
Der unsichtbare Feind
Die meisten Gebäude, die kurz hinter der 20 Kilometer-Grenze des Evakuierungsgebietes liegen – selbst die großen Holzhäuser – konnten den gewaltsamen seismischen Verschiebungen widerstehen, die von dem Erdbeben der Stärke neun am Nachmittag des elften März ausgelöst wurden. Doch die Zerstörung ist heimtückischer als eingestürzte Dächer und aufgerissener Asphalt. Fast überall machen piepende Monitore den Besucher auf den unsichtbaren Feind aufmerksam, der hier ganze Gemeinden unbewohnbar gemacht hat: die Radioaktivität.
Weiter im Inneren des Evakuierungsgebietes, in der Nähe eines stillgelegten PR-Büros der Tokyo Electric Power (Tepco), der die Anlage gehört, steigen die Strahlenwerte auf 2 Mikrosievert pro Stunde (die normale Grundbelastung beträgt 0,2 – 0,3). In Okuma (siehe Karte) schnellen die Werte dann auf 35 Microsievert/Stunde an.
Auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar
Die Stadt, die sich in unmittelbarer Nähe der Reaktoren befindet, könnte auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar bleiben. Fukushima Daiichi umfasst ein großes Gebiet, das sich von einer Hügelkette bis hinunter zur Küste erstreckt, wo die sechs Reaktoren für den 14 Meter hohen Tsunami, der kurz nach dem Beben auf die Küste zupeitschte, eine leichte Beute darstellten.
Von einem Aussichtspunkt aus kann man mit Blick in südliche Richtung des Geländes leicht das zerstörte Innere der Reaktorgebäude Nummer drei und vier, und, hinter ihnen, die Vinyl-Ummantelung von Reaktor Nummer eins erkennen – dem ersten, in dem sich im März letzten Jahres eine Wasserstoff-Explosion ereignete.
Von den dreitausend Arbeitern auf dem Gelände ist wenig zu sehen – sie sind ein kleiner Teil der vielen tausend von Vertragspartnern und Subunternehmern, die sich an der Mission zur Rettung der Anlage vor einer noch größeren Katastrophe beteiligen. Gruppen von Arbeitern in Schutzanzügen drängen sich um Spiralrohre und Schläuche, mit denen Kühlwasser zugeführt und wieder aufbereitet wird. In der Ferne stehen Reihen von Tanks, die mit zehntausenden Tonnen radioaktiven Wassers gefüllt sind, das aus den überfluteten Kellergewölben des Reaktors gepumpt wurde.
Da, wo niemand aufräumt
Auch wenn die Temperaturen innerhalb der Reaktoren unter dem Siedepunkt geblieben sind, ist die Radioaktivität in manchen Bereichen immer noch zu hoch, als dass Arbeiter dort hinein könnten. Die Karte, auf der die Kontamination des Komplexes festgehalten wird, zeigt in Reaktor 3 eine Strahlung von 1.500 Mikrosievert/Stunde.
Die Welt blickt voller Bewunderung darauf, wie schnell die Japaner es geschafft haben, andere Streifen ihrer nordöstlichen Küste von den Spuren des Tsunami zu befreien. Entlang der Küste von Fukushima Daiichi wurde hingegen nie wirklich damit angefangen, den von den Wellen angespülten Schutt zu beseitigen.
Der Damm , der es am elften März 2011 nicht vermochte, den Ozean zurückzuhalten, existiert nicht mehr. Stattdessen trennen nur noch aufgestapelte, mit Steinen gefüllte Säcke das Wasser von den offengelegten Eingeweiden der Turbinengebäude, von denen heute nur noch Trümmer übrig sind.
Drei Minuten, dann geht der Alarm los
Die Arbeit in diesem Teil der Anlage ist so gut wie unmöglich. „Die meisten arbeiten morgens und nachmittags jeweils zwei Stunden“, sagt Katsuhiko Iwaki, stellvertretender Manager des Fukushima Daiichi Stabilisation Centre. „Es gibt aber Bereiche, wo die Dosen so hoch sind, dass sie nur für zwei oder drei Minuten dort bleiben können – gerade lange genug, um einen Schlauch anzuschließen, bevor der Alarm anzeigt, dass es Zeit ist, wieder zu gehen.“
Der Erfolg der Operation, geschmolzene Kernbrennstoffe aus den Reaktoren zu entfernen – ein Prozess, der frühestens in zehn Jahren beginnen kann – wird von den hunderten von Tepco-Mitarbeitern abhängen, die über Computermonitore gebeugt im Notfall-Kontrollraum der Anlage sitzen. Die Stimmen erheben sich kaum über ein Flüstern, während Experten die Daten analysieren. Zwei große Bildschirme verbinden den Raum, in dem die Luft gefiltert wird, mit der Situation draußen und Tepcos Firmenzentrale in Tokio.
Takeshi Takahashi übernahm den Posten des Managers der Anlage, als seinem Vorgänger im Dezember Krebs diagnostiziert wurde (der in keiner Verbindung zu der Katastrophe steht). „Wir müssen verhindern, dass es wieder wie nach der Havarie zum Austritt größerer Mengen Radioaktivität kommt“, sagt er. „Im Dezember haben wir zwar eine Kaltabschaltung erreicht, aber wir müssen sicherstellen, dass wir weiter voran kommen , denn wir können immer noch nicht mit Sicherheit sagen, dass die Anlagen auf dem Gelände völlig störungsfrei sind.
Das post-katastrophale Mantra von Tepco
Er möchte nicht darüber spekulieren, wer für den Störfall verantwortlich ist, solange die Regierung ihre Untersuchung noch nicht abgeschlossen hat. Aber er akzeptiert Kritik an der mangelnden Transparenz seines Arbeitgebers in den ersten Tagen der Krise. „Uns wird oft gesagt, unsere Kommunikation sei nicht in Ordnung gewesen. Es war nie unsere Absicht, Informationen zu unterdrücken, aber nach dem Unglück gab es eine sehr chaotische Zeit, in der bei uns die Sorge um eine gut funktionierende Kommunikation zu kurz kam.
Tepco scheint sein post-katastrophales Mantra angepasst zu haben, zumindest in der Öffentlichkeit. Im vergangenen Jahr lag die Priorität des Unternehmens darauf, die Reaktoren zu stabilisieren und unter Beweis zu stellen, dass das Schicksal der Anlage sich wieder in den Händen seines Betreibers befand. Seitdem wurde der Fokus auf die zehntausenden von umgesiedelten Einwohner gelegt.
„…würde ich lügen.“
„Ich möchte mich gerne für die Probleme entschuldigen, die wir den Leuten hier bereitet haben“, sagt Takahashi unaufgefordert. „Wir tun unser Bestes, damit die Evakuierten so schnell wie möglich wieder zurückkehren können. Aber wir müssen ihrer Sicherheit Vorrang einräumen.“
Niemand kann sagen, wann es wieder erste Anzeichen zivilen Lebens in den verödeten Gemeinden rund um Fukushima Daiichi geben wird. Saori Kanesaki, der einst Besucher in Fukushima Daiichi herumgeführt hat nun für ein Tepco-Tochterunternehmen in der Anlage arbeitet, ist einer der 16.000 Einwohner Tomiokas, die vor einem Jahr ihre Wohnungen verlassen mussten. „Vor dem Störfall gehörte es zu meinen Aufgaben, den Besuchern zu sagen, die Atomenergie sei sicher“, sagt Kanesaki.
„Wenn ich ihnen das aber jetzt, in Anbetracht der Situation sagen würde…würde ich lügen.“
Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Holger Hutt
Quellen
Fukushima, a year on (Guardian)