Als Zug 431G gegen 22 Uhr in der Nähe von Krasnodar im Süden Russlands zum Stehen kommt, entwickelt sich im Bordrestaurant genau jenes Szenario, das man sich gewünscht hat. 45 Stunden vorher war der Nachtzug in Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, losgetuckert, hatte der Wolga entlang Saratow und Wolgograd passiert und auf dem Weg nach Sotschi bereits über 2000 Kilometer zurückgelegt. Und nun noch einmal 15 Stunden für 250 Kilometer? Wo verliert dieser Zug die viele Zeit?
Die Antwort gibt es mitten im südrussischen Nirgendwo: beim Warten. Das Streckennetz wird, je näher wir Sotschi kommen immer komplexer, was bedeutet, dass dieser Sonderzug zum Confed Cup immer häufiger im Schritttempo fährt oder anhalten muss, um andere Züge passieren zu lassen.
Der Confederations Cup
Das Vorbereitungsturnier für die Fussball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland, geht am Sonntag mit dem Final zwischen Weltmeister Deutschland und Südamerika-Meister Chile zu Ende. Die Partie in St. Petersburg wird um 20 Uhr angepfiffen und live von SRF (oder im ZDF) übertragen.
» Der Confed Cup bei Fifa.com und bei Wikpedia
Waggon 9, der Speisewagen, füllt sich nun mit jenen, die in der schwülen Nacht Gesellschaft suchen. Eine Gruppe von Mexikanern aus Guadalajara trinkt seit ein paar Stunden die eisgekühlten Biervorräte leer, setzt belustigten Russen Sombreros auf und gibt immer und immer wieder ihr monotones Liedrepertoire zum Besten.
Weil in einigen Wagen die Klimaanlage nur bei voller Fahrt funktioniert, finden sich nach und nach immer mehr Passagiere im Bordrestaurant ein. Chang zum Beispiel. Er ist 28, aus Guangzhou angereist und betreibt zuhause in China einen Cateringservice. Die vereinfachten Visabestimmungen und vor allem auch der kostenlose Transport haben ihn für diese Fussballreise eingenommen. Für nächstes Jahr, zur Weltmeisterschaft (vom 14. Juni bis 15. Juli 2018) prophezeit Chang eine Invasion seiner Landsleute.
Noch sind die Nachtzüge dünn besetzt. Für die WM verspricht ein Chinese aber eine Invasion seiner Landsleute.
Und dann ist da Timur aus Kasan, ebenfalls Ende Zwanzig, der im Marketingbereich arbeitet und seine Freundin im Schlepptau hat. Oder besser gesagt: sie ihn. Denn Timur wird mit ihren Sonderwünschen eingedeckt. Für ihn ist die Reise trotzdem komfortabel. Das Fussballticket für das Halbfinale Deutschland gegen Mexiko hat den jungen Russen lediglich 30 Euro gekostet – statt der 90 Euro für Ausländer.
Timur erklärt: So billig und dann auch noch in der 2. Klasse komme man ansonsten nicht in den Sommerurlaub nach Sotschi. Fast vergisst er dabei zu erwähnen, dass lediglich 60 der 540 Betten im Zug belegt sind. Theoretisch hat hier jeder Reisende ein Coupé für sich. Für diesen Sonderzug zum Confed Cup kommen ausschliesslich Wagons der 2. Klasse zum Einsatz. Das bedeutet: pro Abteil zwei bequeme Betten oben, zwei unten. Und die sind in regulären Zügen ansonsten voll belegt.
Wie gut die Nachtzüge für die Fans hier ausgelastet sind, hängt von der jeweiligen Partie und der Distanz ab. Auf der Hinfahrt zum Spiel Mexiko gegen Russland, so erzählt der Kellner, hätten sich Russen und Lateinamerikaner in seinem Speisewagen gestapelt. Für Einheimische wie ihn ist das, zumal, wenn es wie bei den Chilenen oder Mexikanern turbulent zugeht, ein ungewohnter Anblick.
Ausländer sind, abgesehen von den chaotischen 90er-Jahren in Russland, immer verdächtig gewesen. Abschottung war eine der Säulen des totalitären Systems. Und scheint es nun wieder zu werden. Die bald durchs Land ziehenden WM-Fans werden das im nächsten Sommer für ein paar Wochen ändern.
Die Eisenbahn – in der russischen Literatur und Musik nimmt sie eine fast ikonische Rolle ein.
Es heisst, nichts beeinflusse die Seele der Russen so stark wie die ungeheure Ausdehnung ihres Landes. Ozeanische Weiten voller Ebenen, Wälder und Flüsse. Das Verkehrsmittel, welches die Regionen miteinander verbindet, war und ist der Nachtzug, der auch in der russischen Literatur und Musik eine fast ikonische Rolle einnimmt. Ihr legendärster Vertreter ist die Transsibirische Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok am Pazifik.
In Europa und Amerika ist diese Form des Reisens fast vollständig von Auto und Billigfluglinien verdrängt worden. Doch hier, zwischen Sankt Petersburg und Sotschi, Moskau und Kasan kann man noch immer mit 50 Stundenkilometern durch die endlosen Weiten zuckeln.
Für die Fans, die im kommenden Jahr zur Fussball-WM reisen, könnte es deshalb trotz der teilweise gigantischen Distanzen eine preisgünstige Weltmeisterschaft werden. Denn die Organisatoren wollen die elf Ausrichtungsstädte Jekaterinburg, Kaliningrad, Kasan, Moskau, Nischni Nowgorod, Rostow am Don, Sankt Petersburg, Samara, Saransk, Sotschi und Wolgograd komplett mit kostenlosen sogenannten «Fifa Fan Trains» verbinden.
Von Spielort zu Spielort an der WM – das kann 60 Stunden in einem Nachtzug bedeuten.
Wer eine Eintrittskarte besitzt, kann sich über eine unkomplizierte Online-Buchung das Zugbett zum Ausrichtungsort des jeweiligen Spieles sichern. Bei Fahrten zwischen Kaliningrad und Jekaterinburg (3000 Kilometer) oder Sankt Petersburg und Sotschi (2400 Kilometer) kann das über 60 Stunden im Zug bedeuten. Für solche Eisenbahnreisen müssen selbst die Russen normalerweise über 100 Euro berappen. Die kann man sich sparen. Und Hotelkosten für drei Nächte gleich mit.
Der Confed Cup ist ein erster Nageltest für dieses Transportsystem. 262 Nachtzüge mit insgesamt über 150’000 Plätzen sind bereitgestellt worden. Die Züge sind vom Fussball-Weltverband angemietet, die Kosten dafür auf die Fussballtickets umgelegt. Über 30’000 Fans aus 81 Ländern sollen in der ersten Turnierwoche von diesem Fernverkehrsangebot Gebrauch machen, hat Witali Mutko, Chef des russischen Fussballverbandes, vorgerechnet.
Am populärsten war das Bett im Nachtzug während des Confed Cup bei Mexikanern, Chilenen, Ukrainern, Russen, Weissrussen und Deutschen, die ungefähr 60 Prozent der Buchungen ausmachten.
Verlassen kann man den Zug hier nur durch Waggon Nummer 8, wo die Polizei sitzt.
Armando, einer der Mexikaner, hat nach 45 Stunden und 15 Bier das Gefühl, genug Zug gefahren zu sein. Russland sei grossartig und die Nachtzüge deutlich komfortabler als die in Mexiko gebräuchlichen Busse, so der 30-Jährige. Die 14 Stunden zwischen Moskau und Kasan seien ein grosser Spass gewesen. Zumal man zwei Drittel der Fahrt sowieso im Schlaf verbringe. Aber nun würde er sich doch gern mal wieder die Füsse vertreten.
Verlassen kann man den Zug hier nur durch Waggon Nummer 8, wo die uns begleitende Polizei sitzt. In Saratow, wo eine Stunde Aufenthalt vorgesehen ist, reicht der erlaubte Ausgang für den Kauf von Wurst und Bier oder ein paar Kirschen und Aprikosen, die auf dem Bahnsteig angeboten werden.
Wer sich weiter weg wagt, handelt sich ein paar strafende Worte von Zugchef Jewgeni Tarasov ein. Zu gross ist wohl die Angst, die in Obhut gegebenen Ausländer an einer der über 30 Haltestellen zu verlieren. Zum anderen muss in seinem Zug, bei aller Tollerei, doch alles seine sozialistische Ordnung haben.
Also zurück zu unserem Abteil in Wagen 12, wo Waggon-Schaffnerin Svetlana zwar nicht die Türen öffnen darf, aber ansonsten versucht, eine gute Herbergsmutter zu sein. Sogar eine Zigarette darf man mit ihr rauchen, obwohl dafür 1500 Rubel (25 Euro) Strafe angedroht sind.
Die Fanzüge könnten das grösste Geschenk Russlands an sich selbst und für die WM-Gäste werden.
Svetlana bringt Kissen, wenn diese benötigt werden, sie hat neue Bettwäsche, wenn die alte zu schmutzig ist. In einem Stahlkocher, der in jedem Waggon hängt, wird Wasser für Tee und Instantsuppen heiss gemacht. Nur all zu viele Fragen will Svetlana nicht beantworten. Sie wohne in Moskau und fahre normalerweise zwischen Hauptstadt und dem fernen Osten. Zwei Wochen Arbeit, zwei Wochen Ferien – mehr ist aus ihr beim besten Willen nicht rauszubekommen. Fragen weicht man in Russland als Staatsbediensteter nach wie vor lieber aus. Zu schnell ist vielleicht eine Dummheit rausgerutscht.
Tausende zugfahrende Fussballfans könnten diese oder andere Verständigungsbarrieren zwischen Russen und dem Rest der Welt im nächsten Sommer zumindest ein bisschen abschleifen. Auch deshalb könnten die «Fifa Fan Trains» während der Fussball Weltmeisterschaft 2018 das grösste Geschenk der Ausrichter an sich selbst und ihre Gäste werden. Wenn man denn die nötige Geduld und ein bisschen Abenteuerlust mitbringt.