Am Wochenende rollt in Italien wieder der Ball. Dann wird auch Nonno Ciccio wieder im Stadion sein. Er ist der wohl älteste Fussball-Fanatiker Italiens. Als 17-jähriger Soldat musste er in El Alamein kämpfen. Während heute seine Erben Krieg spielen, träumt der 91-Jährige vom Frieden.
High Noon in Apulien. Die süditalienische Mittagshitze hat alles im Würgegriff. Ein trostloser, weiter Blick auf Windräder und golden schimmernde Weizenfelder. Im Schatten der Tankstelle schlummert ein ergrauter Schäferhund. Dann rollt langsam ein silberner Renault Laguna an.
Ein alter, weisshaariger Mann mit Pferdeschwanz schält sich mühsam aus dem Fahrersitz. Er trägt schwarze Hose, ein abgetragenes Polo-Hemd, seine schwarzen Turnschuhe haben drei rote Streifen. Nonno Ciccio, 91 Jahre alt, ist der mutmasslich älteste Fussball-Ultra Italiens. Er humpelt, sein Oberschenkel ist entzündet.
Unfassbare Entwicklungen
Eigentlich war es die Idee, über bedingungslose Anhängerschaft und über die Frage zu sprechen, warum ein Greis sein ganzes Leben einem kindlichen Traum widmet. Aber Nonno Ciccio erzählt erst einmal vom Krieg. Von Hannibal, den Römern, der Schlacht von Cannae, die sich in dieser Ebene vor mehr als zwei Jahrtausenden abgespielt und das Römische Reich an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. «Zehntausende Tote», sagt der Greis und schüttelt den Kopf. An Nonno Ciccios Hals baumelt ein Anhänger mit einer blau schimmernden Kakerlake. «Ein Andenken an die Wüste, El Alamein.» Eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg.
Nonno Ciccio: «Wenn ich an meine Jungs denke, die jungen Ultras von heute, die Krieg wollen, dann ist mir zum Heulen zumute.» (Bild: Max Intrisano)
Der Fussball, in Italien calcio genannt, ist immer noch die grosse Liebe der Italiener. In jeder beliebigen Bar sieht man ältere und jüngere Männer, wie sie die Sportzeitungen durchblättern auf der Suche nach dem jüngsten Transfergerücht. Aber nicht selten offenbart das Spektakel auch Abgründe. Da wären etwa die jüngsten Spielerwechsel: 90 Millionen Euro für den argentinischen Stürmer Gonzalo Higuaín, der vom SSC Neapel zu Juventus Turin wechselt. Oder die 110 Millionen Euro, die Manchester United an Juventus für den Franzosen Paul Pogba bezahlt – der teuerste Wechsel aller Zeiten im Fussball.
Unfassbarer noch sind die stets wiederkehrenden Gewaltexzesse der italienischen Ultras vor und in den Stadien der Serie A. Um Übeltäter künftig schnell dingfest machen zu können, werden im Olympiastadion von Rom ab Saisonstart am 20. August von allen Zuschauern beim Eintritt biometrische Daten wie Augenabstand oder Haarfarbe erfasst. Möglicherweise ist das in Italien eine notwendige Massnahme, aber mit dem Spiel hat das alles schon lange nichts mehr zu tun.
Der Friedensengel
In Apulien ist es noch nicht ganz so weit gekommen. Nonno Ciccios Herz schlägt für den Drittligisten Foggia Calcio. Ins Stadion kommt man in Foggia auch ohne Eintrittskarte, man muss nur den Stewart am Eingangstor kennen. Aber Gewalt gibt es hier auch, vor einigen Monaten überfielen Ultras des Vereins den Mannschaftsbus und schüchterten die Spieler ein.
Immer wieder macht der harte Kern der Foggia-Tifosi mit brutalen Schlägereien von sich reden. «Wenn ich an meine Jungs denke, die jungen Ultras von heute, die Krieg wollen, dann ist mir zum Heulen zumute», sagt Nonno Ciccio. Er versucht zu schlichten, wo Randale in der Luft liegen. Vor jedem Spiel schüttelt er den Polizisten vor dem Stadion die Hand.
Der Uralt-Ultra will Frieden, weil er weiss, was Krieg bedeutet. Als 17-Jähriger musste Nonno Ciccio für Hitler und Mussolini in Ägypten kämpfen, er hat dabei seine Jugend verloren. «Mörder», schimpft er.
Im Stadion schüttelt der 91-Jährige den Polizisten die Hand. Die anderen Fans besingen ihn. Manche muss er regelrecht abwimmeln. (Bild: Max Intrisano)
Auf seiner Brust kann man die Choreografie seines Lebens von einer Handvoll Anstecker ablesen. Einer davon zeigt ihn als Soldaten, 1942. Daneben die Kakerlake aus El Alamein sowie ein Medaillon mit einem Foto von einer Auswärtsfahrt nach Benevento und die Wappen der Ultras von Foggia. Der Alte zieht seine rot-schwarze Kappe auf, auch sie ist übersät mit Glücksbringern und Erinnerungen.
Dieser Mann ist nicht nur der wahrscheinlich älteste Fussballfanatiker Italiens, ein Beispiel für irrationale Treue und einen nicht vergehenden, jugendlichen Wahnsinn. Nonno Ciccio ist ein Veteran. In seiner schrulligen Montur gleicht er den alten Männern, die bei Militärparaden hoch dekoriert für ihren Einsatz im Kampf fürs Vaterland geehrt und als überlebende Wracks beklatscht werden.
Auch Nonno Ciccio wird beklatscht, im Stadion von den anderen Fans. Ein Wrack will er nicht sein. Er will das Leben, er sucht es auch mit 91 Jahren noch und findet es beim Fussball, vorzugsweise in endlos langen Auswärtsfahrten.
Seit 1964 kein Spiel verpasst
Zur ersten Fussballfahrt seines Lebens brach Francesco Malgieri im Jahr 1937 auf. So heisst Nonno Ciccio mit bürgerlichem Namen. Denn wer in Apulien Francesco getauft wird, den rufen alle nur Ciccio. Nonno, Opa, kam im Alter dazu. Mit einem geklauten Fahrrad und einem Freund radelte der Zwölfjährige 54 Kilometer von seinem Heimatdorf nach Foggia, um erstmals ein Fussballspiel zu sehen.
Bis heute haben die Fahrten Malgieris ihren heroisch-unvernünftigen Charakter beibehalten. Am Abend vor dem Spiel ruft er auf seinem kleinen Selbstversorger-Bauernhof bei Foggia mit einem perfekt imitierten Blöken seine 21 Schafe und 16 Ziegen in den Stall. Dann bereitet er Pasta asciutta für den Spieltag vor. «Exakt 133 Gramm Maccheroni, 100 für mich, 33 für den Herrgott, aufs Gramm genau», erzählt er. Nonno Ciccio bekreuzigt sich, gibt üppig Tomatensauce bei und verpackt die Nudeln in einer Frischhaltedose.
Traumatische Erfahrung: Nonno Ciccio als 17-jähriger Soldat. (Bild: Max Intrisano)
Zum Trinken stellt er eine Flasche Leitungswasser bereit. Seit er vor mehr als 70 Jahren in der Wüste beinahe verdurstete, trinkt er nur noch Wasser. Keinen Alkohol, keinen Kaffee, keinen Zucker, er raucht nicht und war angeblich noch nie in seinem Leben in einer Bar.
Er mag es, alleine zu sein. Landluft atmen, wenig mit anderen zu tun zu haben, sein Sohn hilft ihm auf dem Bauernhof. «Wenn ich alleine bin, muss ich mich nicht ärgern», sagt er. Deswegen ist er auch am Liebsten ohne die anderen Fussballfans unterwegs, die gelegentlich, einfach mal kurz zwischendurch, Autobahnraststätten plündern.
Im Morgengrauen setzt sich Nonno Ciccio in sein Auto, selbstverständlich unangeschnallt, und fährt los. Sicherheit bieten andere Objekte: Ein hölzernes Kruzifix baumelt am Rückspiegel. Den heiligen Antonio, Schutzpatron der Reisenden und der Unterdrückten, hat Malgieri am Armaturenbrett befestigt. Fortan begleiten ihn nur noch die Hartnäckigkeit des bedingungslosen Tifoso und die blecherne Stimme eines Navigationsgeräts. Seit er 1964 das Team zum ersten Mal zu einem Auswärtsspiel begleitete, habe er keine Partie mehr verpasst, sagt Malgieri.
Genug Gewalt für ein ganzes Leben
Wer will, kann in seiner Unermüdlichkeit auch ein Davonlaufen erkennen. Was er als 17-Jähriger in Nordafrika erlebt hat, lässt ihn bis heute nicht los. Vom Whiskey betäubte britische Soldaten, die 1942 in El Alamein blindwütig um sich schossen. Junge Deutsche und Italiener, die wie Maschinen töteten, um nicht selbst zerfetzt zu werden.
Mit Glück überlebte Nonno Ciccio und kam in britische Kriegsgefangenschaft. 1945 kehrte er nach Hause zurück. Seine Stimme zittert, wenn er vom Krieg erzählt. Vom höllischen Artilleriefeuer, von unzähligen britischen Panzern, die seine Kompanie umzingelten, vom vielen Blut. «Ich will mich nicht an meine Jugend erinnern», fleht er. Und lebt ein Leben, als sei er ewig jung.
Wenn Nonno Ciccio zu den Heimspielen ins Pino-Zaccheria-Stadion geht, dann wird er umringt von den anderen Fans, alle etwa 70 Jahre jünger als er. Viele wollen ein Selfie mit dem alten Mann. «Sie sind ein Vorbild, ein Symbol», ruft ihm ein Anhänger zu. Andere, oft Betrunkene, kleben lästig wie Fliegen an ihm. Er braucht Altersweisheit und Geduld, um sie mit ein paar Schulterklopfern wieder loszuwerden.
Seine Friedensbotschaft trägt Nonno Ciccio auf der Fahne ins Stadion – auch wenn sie bei den harten Jungs nicht ankommt. (Bild: Max Intrisano)
Malgieri ist eine Art Maskottchen in Foggia, das viele lieben, aber nicht alle ernst nehmen. Es kommt schon mal vor, dass die Tifosi in der Kurve Gesänge auf ihn anstimmen, von denen man nicht genau weiss, ob sie Respektlosigkeit oder Verehrung bedeuten, wahrscheinlich beides.
Im Gepäck hat der Alte stets ein Sitzpolster, seine rot-schwarze Fahne und ein Transparent dabei. «Frieden zwischen Ultras», steht darauf, es ist der Kontrapunkt zur oft gewalttätigen italienischen Fankultur. Die harten Jungs im Stadion von Foggia wollen dieses Transparent bei Heimspielen nicht in der Kurve, es steht in ihren Augen für eine lächerliche Botschaft. Nonno Ciccio hängt es dennoch vor jedem Spiel auf, an einem Geländer bei seinem Stammplatz abseits der Fankurve. Es ist sein kleiner, persönlicher Sieg über den Krieg.
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