Weil-Friedlingen fängt an, wo Basel endet. Von Kleinhüningen fährt das Tram nach Weil am Rhein, vorbei an Hafenanlagen und Containertürmen. Hinter dem Grenzübergang fällt der Blick zuerst auf ein grosses Einkaufszentrum, die lange Wagenkolonne der Einkaufstouristen aus der Schweiz windet sich in Richtung Parkhaus. Dahinter biegt das Tram scharf nach rechts und fährt hinein in das Herz Friedlingens.
Rund 6000 Menschen leben in diesem westlichsten Stadtteil von Weil am Rhein. Auf den ersten Blick wirkt die Gegend überraschend urban, etwas vernachlässigt, insgesamt harmlos. Entlang der schmalen Hauptstrasse reihen sich türkische Lebensmittelgeschäfte an Shisha-Bars und Spielsalons. Aus Imbissbuden riecht es nach gegrilltem Fleisch.
Doch der Name Friedlingen täuscht. Die Kriminalitätsrate ist hier so hoch wie in keiner anderen Stadt im Bundesland Baden-Württemberg. Ende April sorgte der Stadtteil landesweit für Schlagzeilen, nachdem mehrere Molotow-Cocktails gegen die lokale Moschee geworfen worden waren. Inzwischen wurden mehrere Männer mit Verbindungen zur kurdischen Untergrundorganisation PKK festgenommen.
Die Polizei kämpft in Weil an zahlreichen Fronten: gegen organisiertes Verbrechen, grenzüberschreitende Kriminalität und Rechtsextremismus. Das Vertrauen in die etablierten Parteien befindet sich im freien Fall.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich Friedlingen von der etablierten Politik abgewandt.
Während Jahrzehnten war Friedlingen ein florierendes Arbeiterquartier, vergleichbar mit dem Stadtteil Kleinhüningen jenseits der Landesgrenze. Die Einwohner arbeiteten in einer der vielen Textilfabriken und wählten traditionell Mitte-Links. Noch bei den Landtagswahlen vor rund zehn Jahren holte die Sozialdemokratische Partei (SPD) in Friedlingen 39 Prozent aller Stimmen, dicht gefolgt von der Christlich Demokratischen Union (CDU).
Der erste Rechtsrutsch erfolgte 2014, als die Friedlinger einen Kandidaten der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in das Stadtparlament wählten. Der politische Erdrutsch folgte bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr. SPD und CDU stürzten ab auf jeweils unter 20 Prozent der Stimmen.
Die grosse Gewinnerin: die Alternative für Deutschland (AfD). Aus dem Nichts holte die rechte Partei 24 Prozent der Stimmen und liess alle anderen Parteien hinter sich. Innerhalb von zehn Jahren hatte sich Friedlingen von der etablierten Politik abgewandt.
Kebab statt Blutwurst
Was bei der Suche nach den Ursachen als Erstes auffällt, sind die Gegensätze in diesem kleinen Stadtteil. Hinter einer Kreuzung gleich neben der Hauptstrasse liegt das Restaurant Coklu. Es ist früher Nachmittag, an den Tischen sitzen rund 30 Männer und spielen Karten. Aus Lautsprechern unter der Decke dringt eine Frauenstimme, die zu Saitenklängen orientalische Lieder singt. Rauchschwaden hängen in der Luft, auf den Tischen steht Tee, gesprochen wird kaum.
«Als Deutscher gehst du hier in der Nacht besser nicht ohne Sturmgewehr auf die Strasse.»
Seit zwei Jahren führe er das Lokal, sagt der aus der Türkei eingewanderte Wirt in unsicherem Deutsch. An einem weiteren Gespräch hat er kein Interesse und stellt sich an einen Tisch zu seinen Gästen.
Nur ein Haus vom Café Coklu entfernt befindet sich das «Hirschstübli». Rauchschwaden hängen auch hier in der Luft, das Bier vom Fass kostet 1,60 Euro. Im kleinen Raum stehen ein paar einfache Tische. Hinter dem holzgetäferten Tresen steht die Wirtin am Zapfhahn, eine ältere Frau mit kurzen Haaren, besticktem Pullover, Brille und rauchiger Stimme. «Früher gab es hier im Quartier noch Blut- und Leberwurst. Heute gibt es nur noch Kebab», antwortet sie auf die Frage, wie sich Friedlingen verändert habe.
Am Tresen sitzen ein paar Männer beim Bier. Ein Fernfahrer ruft von der anderen Seite der Theke: «Als Deutscher gehst du hier in der Nacht besser nicht ohne Sturmgewehr auf die Strasse.» Es widerspricht keiner.
Banden und Sondereinheiten
Begonnen hatte der Umbruch in Friedlingen mit dem Wegzug der letzten Textilfabriken in den Achtzigerjahren. Es entstanden Überbauungen mit günstigen Wohnungen, die Arbeitslosigkeit nahm zu, der Ausländeranteil stieg stark an – auf aktuell 35 Prozent. Alteingesessene Lokale verschwanden, Spielsalons öffneten.
Und hinter den Kulissen breitete sich das organisierte Verbrechen aus. Die Polizei kämpft gegen illegales Glücksspiel, Geldwäscherei, Waffen- und Drogenhandel. Regelmässig kommt es zu Razzien. Die Bilder der Medien zeigen maskierte Sondereinheiten und Dutzende von Beamten, die ganze Häuserzeilen abriegeln. Die Polizei spricht von Banden aus dem Balkan, die hier grenzüberschreitend ihre Geschäfte verfolgen.
Ebenfalls über die Landesgrenzen hinaus vernetzt ist die rechtsextreme Szene, die sich hier in den vergangenen Jahren etabliert hat. Die sogenannte Pegida-Dreiländereck traf sich in Friedlingen zu Kundgebungen gegen «die Überfremdung des Abendlandes». Rechtsradikale sorgten mit dem unerlaubten Hissen von Reichsflaggen für Schlagzeilen. Im vergangenen Sommer berichteten Medien aus halb Deutschland über eine Gruppe von Rechtsextremen, die aus rassistischen Motiven über Monate eine Familie bedroht haben soll. Der Stadtteil driftet immer weiter auseinander.
Die Stadtteilrunde sieht auch viel Positives
In Friedlingen ist es inzwischen früher Abend geworden. Am Rand der Hauptstrasse stehen Frauen mit Kopftuch vor der Gemüseauslage eines Lebensmittelgeschäfts. Junge Männer verschwinden hinter den dunkel getönten Türen eines Wettbüros. Im Hinterhof stehen Autos der Luxusklasse mit Schweizer Nummernschildern.
Wer nach Menschen sucht, welche die Gräben in Friedlingen wieder zuzuschütten versuchen, landet rasch bei der Stadtteilrunde. Im diakonischen Zentrum von Friedlingen sitzen rund 20 Personen um einen langen Tisch. Der Leiter der Grundschule, Sozialarbeiterinnen, ein Lokalpolitiker, ein Mitarbeiter der Wärmestube, die Leiterin des Weiler Hauptamtes.
Jeden zweiten Monat treffen sie sich hier. Die meisten der Anwesenden arbeiten in Friedlingen, nur wenige wohnen auch hier. An den Wänden hängen Plakate einer Kampagne gegen Rechtsextremismus: «Rote Karten gegen Rassisten» und «Für ein buntes Weil am Rhein». Auf dem Tisch steht Salziges, Orangensaft, Wasser.
Wer in der Runde nach den Problemen von Friedlingen fragt, hört erst einmal viel Positives. «Friedlingen ist nicht so schlecht wie sein Ruf», sagt eine Sozialarbeiterin am Tischende. «Wichtig ist, dass man aufeinander zugeht», sagt der Lokalpolitiker. «Es gibt hier viele tolle Orte», sagt die Leiterin des Stadtteilzentrums. Und meint das Restaurant Steakhouse oder die Kunstgalerie Colab.
Die offenkundigen Probleme nennen die wenigsten gerne beim Namen.
So geht es meistens, wenn man mit den etablierten Kräften über Friedlingen spricht. Ob der Oberbürgermeister von Weil, Wolfgang Dietz, der örtliche Vertreter der CDU oder die Leiterin des Hauptamtes – auf die Probleme angesprochen, erzählen alle erst einmal von den Vorteilen Friedlingens: die «Grenznähe», die «Vielfalt», die «bunte Mischung».
Und sie reden von all dem, was die Stadt in den nächsten Jahren für den Stadtteil tun werde oder bereits getan hat. Den Umbau der Grundschule in eine Ganztagesschule. Das geplante Jugendzentrum, eine Aufwertung des Parks, das Sanierungsprogramm. Die offenkundigen Probleme nennen die wenigsten gerne beim Namen.
Einer der wenigen, die davor nicht zurückschrecken, ist Johannes Foege. Der Mann ist ein politisches Fossil, seit knapp 30 Jahren sitzt er für die SPD im Stadtparlament. Als Treffpunkt schlägt er das Kesselhaus vor, eine ehemalige Fabrik, wo sich heute ein Kulturzentrum und ein Restaurant befinden. Es ist einer jener Orte, von dem Politiker und Beamte in Weil gerne sprechen, wenn sie die Vorzüge Friedlingens preisen.
Zum Treffen kommt Foege direkt von seiner Anwaltskanzlei im Stadtzentrum, wo er trotz seiner 72 Jahre immer noch tätig ist. Ein Mann von schmaler Postur mit feinem Rollkragenpullover und dezenter Brille.
Polizei und «Stadtteilmütter»
Er hat die Stadt bereits vor drei Jahren dazu aufgerufen, in Friedlingen mehr zu unternehmen. Und wählte für seine Rede vor dem Stadtparlament so deutliche Worte, wie sie vor ihm noch niemand ausgesprochen hatte. Foege warnte vor einer brisanten gesellschaftlichen Zusammensetzung, vor Kriminalität, Drogen und der Ferne vieler Bürger zu Politik und Behörden. Die sozialen Bande in Friedlingen, so Foege, drohten zu zerreissen. Rückblickend wirkte seine damalige Rede vor dem Parlament wie ein Weckruf.
Die lokalen Medien begannen über den Stadtteil zu berichten. Die Verwaltung startete den sogenannten «Friedlinger Dialog», entwickelte ein Sanierungsprogramm, dessen Umsetzung in den nächsten Monaten beginnt. Eine gross angelegte Sicherheitsoffensive wurde lanciert, bei der die Polizei aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland zusammen gegen das organisierte Verbrechen vorgehen. Und gut integrierte Migrantinnen, sogenannte «Stadtteilmütter», vermitteln inzwischen nach Berliner Vorbild zwischen Behörden und Zuwanderern.
In keinen anderen Stadtteil investiert die Stadt derzeit mehr als hier. Ob sich all diese Bemühungen auszahlen, werde sich bei den nächsten Wahlen zeigen, sagt Foege: «Wenn die Wahlbeteiligung steigt und der Anteil der Protestwähler sinkt, dann waren wir erfolgreich.»
Eine Welt am Abgrund
Im «Hirschstübli», nur ein paar Hundert Meter vom Kesselhaus entfernt, hat der Feierabend begonnen. Am Tresen und an den drei Tischen sitzen die Gäste eng beieinander. Es sind jene Menschen, die Foege zurückgewinnen möchte. Doch im «Hirschstübli» war der Politiker nur einmal und das vor vielen Jahren. Man kann ihn sich hier auch nicht so ganz vorstellen.
Am Tresen steht ein Mann mit Lederjacke, tätowierten Handrücken und schwerer Silberkette. Ein Gast mit Rossschwanz wirft unentwegt Münzen in einen lärmenden Spielautomaten, an einem Tisch streiten zwei Männer in angetrunkenem Zustand. Die Gäste erzählen vom Drogenhandel zwischen Marseille und Berlin, der über Friedlingen laufe. Sie klagen über die Polizei, die das alles verschlafe. Die Schule, wo es keine «deutschen» Kinder mehr gebe. Die Ausländer, die alle Häuser aufkaufen würden.
Friedlingen, eine Welt am Abgrund, so das Bild, das hier vorherrscht. Und die angekündigten Massnahmen, die Aufwertung des Stadtparks, das Sanierungsprogramm? Sie vertraue keinem Politiker mehr, sagt die Wirtin.
Draussen ist es inzwischen Nacht geworden. Hinter dem Einkaufszentrum gehen ein paar Jugendliche auf der Fussgängerbrücke über den Rhein in Richtung Frankreich. Das erleuchtete Tram fährt vorbei in Richtung Basel. Am Rand der Hauptstrasse bescheint eine Laterne den rissigen Strassenbelag. Alles scheint ruhig.