Wer bis im Mai gewartet hat, um sich pünktlich zum «Mai 68» zu äussern, kommt medial etwas spät. Fast alle haben bereits fast alles zum Thema gesagt. Das wiederum hat den Vorteil, dass man feststellen kann, wie dieses Jubiläum auf allen Kanälen abgehandelt wurde. Und man kann doch noch ergänzen.
Es gibt zwei Arten von Abhandlungen zu 68: Die eine wiederholt die bekannten, seit dem ersten grossen Jubiläum von 1978 publizierten Einordnungen. Die andere bietet neue Betrachtungen an, wie sie vorher offenbar nicht möglich waren.
Erzählungen im Wandel
Der erste Typus wird weitgehend bestimmt durch Veteranenstimmen in den verschiedenen Medien. Diese verstehen es zu Recht als ihre Aufgabe, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Nun melden sich Zeitzeugen generell sehr gerne, das Metier der Selbstdarstellung beherrschen die Alt-68er aber besonders gut. Weiter besteht zwischen Dargestellten und Darstellenden in diesem Fall ein geringer Abstand: Die Medien waren von Anfang an ein Teil der 68er-Geschichte, sie haben das Vermittelte mitkonstruiert und bei den bisher vier Jubiläen kanonisierend bekräftigt.
Und das Neue? Betrachtungen, die darauf setzen, leben davon, dass man gerne bestehende Bilder etwas abändert und auch auf diese Weise Beachtung generiert. Hinzu kommt, dass Ergänzungen tatsächlich möglich und Korrekturen nötig sind. Schliesslich bezeugen Hinweise auf bisher Unbeachtetes, dass sich die Sensibilität des herrschenden Gegenwartsinteresses wandelt.
Weil sich «Frauen-Power» (bis hin zum Film «Die göttliche Ordnung») inzwischen stärker entwickelt hat, wird auch verstärkt in Erinnerung gerufen, dass die progressive Frauenbewegung 1968 ihren Ausgangspunkt hatte. Grössere Aufmerksamkeit besteht sodann auch bezüglich der Rolle der Medien in der Wirksamkeit und Weitervermittlung von 68.
Vernachlässigte Wahrheiten
Die neue Wahrnehmung schlägt sich in Büchern nieder und findet von dort aus manchmal den Weg in die Massenmedien (was Bücher meistens nicht sind).
Zum Beispiel «Das andere Achtundsechzig» von Christina von Hodenberg (2018). Die NZZ stellt das Werk unter dem Titel «1968 war ganz anders, als wir glauben» vor. Gestützt auf einen reichen Quellenfundus, macht von Hodenberg darauf aufmerksam, dass 68 nicht nur in den Metropolen, sondern auch in der Provinz stattgefunden hat; dass nicht bloss das grosse Wort führende Männer, sondern auch Frauen sehr aktiv gewesen sind; dass trotz Generationenkonflikt auch viel gemeinsamer Aufbruch insbesondere von Müttern mittleren Lebensalters mit den adoleszenten Töchtern stattgefunden hat und im Übrigen schon vieles Jahre vor 1968 einsetzte. Durchaus berechtigt ist auch von Hodenbergs Kritik, die grossen Leitmedien hätten sich mit einem «Tunnelblick» auf spektakuläre Ausnahmefälle konzentriert – und beschränkt.
Dies bestätigt Martin Stallmann mit seinem Buch «Die Erfindung von ‹1968›» (2017). Was 68 war und als was es heute angesehen wird, ist seiner These zufolge weitgehend das Resultat der Selbstdeutung der 68er. Der starke Einbezug dieser Vermittler führte zum falschen Eindruck, dass 68 nur 1968 stattgefunden habe: Der Fokus liegt meist auf dem Kurzereignis und nicht auf der etwas komplizierteren Langzeitentwicklung. 68 hat tatsächlich lange vorher begonnen und lange danach weitergewirkt.
Die meisten Erzählungen zur kurzen oder kleinen 68er-Geschichte setzen sich aus vier Mustern zusammen: der Generationengeschichte, der Geschichte des Andersseins, der Gewaltgeschichte und der Personengeschichte. Die grossen Fragen nach den Ursachen und Folgen des Wandels bleiben dabei in der Regel unbeantwortet.
An dieser Stelle sei kurz auf den dritten Typus 68er-Abhandlungen hingewiesen: die politische Abrechnung. Dabei wird der Aufbruch für Unerfreuliches der Folgezeit verantwortlich gemacht, vorwiegend für den RAF-Terror oder den «Zerfall» der Gesellschaft. In der Regel mitsamt der Häme, dass überrissene Revolutionsziele nicht durchgehalten worden seien. Oder mit dem Vorwurf, dass 68er als Wölfe im Schafspelz den langen Marsch durch die Institutionen angetreten hätten wie zum Beispiel Moritz Leuenberger, der Bundesrat geworden ist.
Die Wahrnehmung ist stark aufs Politische ausgerichtet – die kulturelle Breite der Bewegung wird noch immer unterschätzt.
68 hat viele Facetten und doch einen Kern, in dem sich alle trafen. In ihm lebten mindestens die berühmten zwei Seelen in einer Brust: auf der einen Seite die strenge, asketische, fanatische Seite, personifiziert zum Beispiel durch den 1979 an den Spätfolgen eines 1968 erfolgten Attentats mit nur 39 Jahren verstorbenen Rudi Dutschke; und auf der anderen Seite die heitere, ausschweifende, verspielte Seele, personifiziert durch zahlreiche meist anonyme «Blumenkinder».
Noch immer ist die Wahrnehmung von 68 stark auf die politische Ideologie (Marx, Mao & Co.) ausgerichtet. Unterschätzt wird dabei die kulturelle Breite der Bewegung, insbesondere der Anteil der Musik und der visuellen Kunst. Aber noch immer eine gewisse Gültigkeit hat der Slogan «Das Private ist politisch», also auch und gerade das scheinbar Unpolitische.
68 hat den westlichen Gesellschaften eine Fundamentalliberalisierung gebracht: Von übergeordneten Stellen formulierte Erwartungen wurden begründungspflichtig. Die Gleichstellung der Geschlechter als Prinzip wurde langsam anerkannt, das Verhältnis zur Sexualität entkrampft, die Bedürfnisse von Kleinkindern werden ernster genommen als davor.
Eine Bewegung geht um die Welt
Noch immer müsste die Vorstellung relativiert werden, dass 68 vor allem oder einzig eine Bewegung der akademischen Jugend gewesen sei. Nur ein kleiner Teil der Studierenden nutzte den grösseren Spielraum, den es zwischen den engen Lebensbedingungen der Kindheit und dem klassischen Berufsleben gab, um auf ihre Weise dem aufkommenden Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen. Wichtig war, dass es an den Universitäten zu einer gewissen Verschmelzung der Milieus von Ober- und Unterschicht kam.
68 war eine transnationale Bewegung, die schon 1964 an der amerikanischen Westküste einsetzte, über Westeuropa hinzog, Parzellen des Ostblocks in der Tschechoslowakei und in Polen erschütterte und bis Japan wirkte. Vernetzt waren die einzelnen Länder zwar erstaunlich wenig. Trotzdem präsentierte sich die Bewegung als Gesamtvorgang wie die liberale Revolution von 1848 oder die sozialistischen Revolutionsversuche von 1917/18.
Eine günstige Kombination von Nachlassen des Kalten Kriegs und guter Wirtschaftskonjunktur machte ein ruckartiges Ende von Gesellschaftsnormen möglich. 68 war aber mindestens so sehr Vollendung einer wegbereitenden Vorphase als auch Aufbruch in eine neue.
Helvetische Biografien
Was es zur Schweiz zu sagen gibt? Dass man nicht nur auf Zürich (Stichwort: Globuskrawall) schauen soll, dass es «Winds of Change» auch in Locarno oder in der Zentralschweiz gegeben hat. Aber wie so oft erlebte man auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: 1969 zum Beispiel wurde das 1961 in Auftrag gegebene Zivilverteidigungsbüchlein an alle Haushalte verteilt, was den 68ern bestätigte, wie recht sie mit ihrem Protest hatten.
Wer sich für einzelne Personen interessiert, kann einen Blick in das zum letzten Jubiläum vor zehn Jahren von Heinz Nigg herausgegebene Buch mit rund vierzig helvetischen 68er-Biografien werfen. Der bekannteste Protagonist ist darin allerdings nicht vertreten: Thomas Held, der ehemalige Zürcher Studentenführer, ist entweder nicht angefragt worden oder hat sich verweigert. Im Jubiläumsjahr 2018 hat er sich der NZZ jedoch nicht entzogen, weil man, wie er schreibt, Einladungen der NZZ «grundsätzlich nicht ausschlägt».
In seinem Rückblick hält Held der Bewegung zugute, dass es ihr um berechtigte Herrschaftsbefreiung und Ausweitung der Menschenrechte auf Frauen und Jugend gegangen sei. Kritisch bemerkt er aber, dass dies unter Berufung auf totalitäres linkes Gedankengut geschehen sei. Und insgesamt lässt Held die Botschaft mitschwingen, dass 68 eine ganz andere Zeit war und die Bewegung und ihr Kontext heute kaum nachvollziehbar seien.
Die Zahl der bekennenden 68er hat mit der Zeit stark zugenommen. Stallmann weist in seinem Buch zu Recht darauf hin, dass die 68er-Generation überhaupt erst durch wiederholtes Erzählen als «narrated community» entstanden ist.
Ich habe von Anfang an dazugehört und mich seither als Zeitzeuge und Historiker mit der gebotenen Vorsicht darüber geäussert. Auch in dem Band «68 – was bleibt?», den der emeritierte Basler Soziologe Ueli Mäder publizierte und der am 15. Mai seine Vernissage feiert. Vielleicht steht dort auch der mir wichtige Satz drin, dass 68 nicht einfach vor fünfzig Jahren stattgefunden habe, sondern seit fünfzig Jahren stattfindet.
Christina von Hodenberg: «Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte.» Verlag Beck, 2018.
Martin Stallmann: «Die Erfindung von ‹1968›. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977–1998.» Wallstein Verlag, 2017.
Heinz Nigg: «Wir sind wenige, aber wir sind alle. Biografien aus der 68er-Generation in der Schweiz.» Limmat Verlag, 2008.
Ueli Mäder: «68 – was bleibt?» Rotpunktverlag, 2018. Buchvernissage und Diskussion im Volkshaus Basel: Dienstag, 15. Mai, 19 Uhr.