Seit 1951 sind ganze Generationen mit «Junior», dem Schweizer Gratisheft für Kinder, aufgewachsen. Und es kommt auch heute noch an.
Die vierjährige Anna kennt es, ihr bald 13-jähriger Bruder Yves auch. Obwohl – jetzt blättert er nur noch hin und wieder darin, wenn es zu Hause rumliegt und er grad ein bisschen gelangweilt ist. Denn er ist schliesslich kein Kind mehr, und das Heft ist Kinderkram. Die Rede ist von «Junior», diesem kleinen Heftli, das es gratis in Apotheken, Banken und anderen Geschäften gibt. «Junior» feiert diesen Monat seinen 60. Geburtstag.
Im November 1951 ist es zum ersten Mal erschienen, lanciert hatte es Johann Rudolf Hug, Inhaber einer Druckerei im zürcherischen Kilchberg. Hug wollte den Kindern etwas Lehrreicheres als beispielsweise das im selben Jahr auf den deutschsprachigen Markt gekommene «Micky Maus» bieten. Sein Heft sollte nicht nur unterhalten, sondern auch Wissen vermitteln und zudem für die Kinder kostenlos erhältlich sein. Hug liess sich dafür etwas Besonderes einfallen: Er verkaufte «Junior» den Detailhändlern, die mit der Gratisabgabe an die Kinder einerseits Kundenbindung schaffen und andererseits auf der Rückseite des Hefts für ihr Geschäft werben konnten.
Papa Moll, der Wunschvater
Das Konzept funktionierte. Auch inhaltlich. Die Mischung kam bei der jungen Leserschaft an. Ein bisschen Abenteuer, eine Portion Wissen, eine Prise Moral und alles mit einem – für damalige Verhältnisse – Minimum an Text und einem Maximum an Bild. Offenbar lasen die Kinder schon vor 60 Jahren gerne Bildern entlang. 1952 tauchte eine von Edith Oppenheim gezeichnete Figur im «Junior» auf, die die Herzen der jungen Leser im Sturm eroberte und bis heute geliebt wird: Papa Moll, der etwas trottelige, aber äusserst liebenswürdige Vater, den sich alle Kinder wünschten. Vor allem damals, als die Väter nur streng und unnahbar waren.
Jedenfalls hatte «Junior» nach zwei Jahren bereits eine Auflage von 100 000 Exemplaren erreicht, und sie stieg weiter an. 1968 wurde «Junior» auch in Deutschland verteilt, elf Jahre später in Österreich; 1998 erhielten die holländischen Kinder ihren «Junior» und seit 2004 auch die Kinder der welschen Schweiz.
Kinder reden mit
Das Kindermagazin weist heute eine Auflage von über einer Million aus, rund 200 000 davon werden in der Schweiz vertrieben. «Junior» beschäftigt in den vier Ländern insgesamt 50 Personen und erscheint in drei Sprachen – in Deutsch, Französisch und Holländisch. Und so, wie «Junior» offensichtlich über Generationen hinweg Millionen von Kindern zu fesseln vermochte, so ist auch dessen Produktion von Generation zu Generation weitergegeben worden.
1971 übernahm der Sohn des Gründers, Piero Hug, das Unternehmen, das sich inzwischen ausschliesslich um das Kindermagazin drehte – und vor einem Jahr gab Piero Hug das Zepter an Julia, die jüngste seiner drei Töchter, weiter. Zusammen mit ihrem Mann James Rymer will die erst 30-Jährige den «Junior» in die Zukunft führen», wie es in einer Pressemitteilung zum Jubiläum heisst.
Wir sind zu Besuch am Sitz des Familienunternehmens in Kilchberg. Hier, in diesem sorgfältig restaurierten Riegelhaus aus dem 18. Jahrhundert, mit Blick auf den Zürichsee, umgeben von einem gepflegten Garten, wird also Monat für Monat ein Heft für Kinder konzipiert. Für eine Generation von Kindern, die immer früher und immer mehr vor dem Computer sitzen. So hat gemäss einer unlängst veröffentlichten Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz heute ein Drittel aller Drittklässler einen eigenen Computer mit Internetanschluss im Kinderzimmer stehen, laut einer Befragung des Vereins «zischtig.ch» unter Zürcher Schulkindern jedes vierte Kind schon in der ersten Klasse. Hat in dieser digitalisierten Kinderwelt ein Heft wie «Junior» eine Zukunft, Frau Hug? Julia Hug ist davon überzeugt. Die Auflagezahlen, sagt sie, seien stabil und das Interesse der Kinder an «Junior» immer noch da. Letzteres behauptet die junge Verlegerin nicht einfach, das kann sie belegen.
Denn, und das ist vielleicht das Erfolgsrezept von «Junior», die Kinder reden mit. Insgesamt über hundert, immer wieder wechselnde Kinder aus den Ländern, in denen das Heft verteilt wird, sind in Testgruppen vereint. Diesen Kindern werden Geschichten und Bilder zur Beurteilung vorgelegt. Kein Titelbild erscheint, bevor es nicht von ihnen bewertet worden ist. Erhält ein Bild viele Minuspunkte, hat es keine Chance auf eine Veröffentlichung. «Wenn ein Titelbild nicht ankommt», sagt Julias Vater Piero, «hast du verloren.» Es war denn auch seine Idee, als er vor vierzig Jahren den «Junior» von seinem Vater übernahm, die Leserschaft mit ins Boot zu holen. Es schien ihm an der Zeit, das Magazin zu modernisieren. Doch wie, war die Frage. «Wir Erwachsenen glauben zu wissen, was Kinder wollen – weil wir selber einmal Kinder waren oder welche haben.» Aber das sei ein Trugschluss, sagt Piero Hug. Das zeigte sich nach den ersten Testläufen.
Damals waren häufig Fotos von Kindern auf den Titelbildern. «Es stellte sich heraus», so Hug, «dass die Kinder das nicht sehen wollen.» «Junior» veränderte sich. Auf die Titel wurden Tiere gehievt, die kamen an. Wilde Tiere wie Tiger oder Jungtiere mit Jöh-Effekt. Auch Sportbilder. Actionbilder. Und wie die Auswertungen der Tests belegen, ist das heute noch so. Trotz Internet, trotz Fernsehen.
Mehr Bild, weniger Text
Ein Tiger, der zum Sprung ansetzt, erhält Bestnoten. Ebenso wie das Bild einer Lawine, die von einem Berg hinunterdonnert. Aber: hauptsächlich von den Buben. Denn trotz aller emanzipatorischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte sind die Vorlieben der Mädchen und Buben so typisch unterschiedlich wie vor 60 Jahren. Die Mädchen bevorzugen auch heute noch das Liebliche – ein Pferd im Sonnenuntergang beispielsweise oder ein herziges Rudel Jungfüchse. Deshalb müsse stets auf den Mix geachtet werden, sagt Julia Hug. Spricht ein Titelbild eher die Buben an, gibt es dafür im Heft drin eine Geschichte für die Mädchen – und umgekehrt.
Verändert haben sich hingegen die Lesegewohnheiten der Kinder. Und «Junior» hat sich ihnen dementsprechend angepasst. Während vor 60 Jahren Texte noch ganze Seiten, wenn auch kleinformatige, in Anspruch nahmen, werden die Geschichten heute mehrheitlich in Bildern erzählt. Kleine Textboxen dazu müssen genügen, zu viele Buchstaben und Sätze würden vom Publikum nicht goutiert. Der bald dreizehnjährige Yves findet, wenn er «Junior» hin und wieder mal durchblättert, die Werbung «noch recht geil».
Und Papa Moll? Er hat «Junior» schon vor vielen Jahren verlassen, 1975 wechselte er zum Orell-Füssli Verlag und wurde von diesem weiterhin erfolgreich vermarktet. Deshalb kann Yves ihn nicht mehr mit dem Heft aus der Drogerie in Verbindung bringen. In der Erinnerung vieler Eltern und Grosseltern ist Papa Moll jedoch ein Junior geblieben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11/11/11