On-Demand, Netflix und Mediathek: Fernsehen als soziale Praxis hat sich im vergangenen Jahrzehnt grundlegend verändert. Was bleibt, sind Fussballspiele und «Tatort» als rituelle Versammlungen ums Lagerfeuer – und die öffentlich-rechtlichen Sender als Inseln der journalistischen Qualität im grössten aller Massenmedien.
Man ahnte es schon lange, im vergangenen April wurde es amtlich. Damals, am 4. April, wurde zum 50. Mal der Grimme-Preis verliehen. Dieser Preis ist nicht irgendein Award, sondern die wichtigste Auszeichnung des deutschsprachigen Fernsehens, der gemäss Statut diejenigen TV-Sendungen ehrt, die «die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf hervorragende Weise nutzen und nach Inhalt und Methode Vorbild für die Fernsehpraxis sein können.»
Zum 50. Jahrestag gab es eine Zugabe: In einem eigens produzierten Dokumentarfilm schauten Fernsehgrössen zurück auf die Zeit, als die bewegten Bilder in die Wohnstube ihrer Eltern Einzug hielten, und auf die Rituale, die dazu gehörten: das Testbild am Ende des Tagesprogramms, das «Schneerauschen» beim Sendersuchlauf, die Kletterei des Vaters aufs Hausdach, um die Stellung der Antenne nach einem Windstoss zu korrigieren.
Zeugnisse einer vergangenen Epoche, an deren Ende der Film melancholisch das Fazit zieht: Das lineare Fernsehen ist am Ende. Die etablierten Sender führen einen Selbstlegitimierungskampf, der das einst ambitionierte Medium alt aussehen lässt.
Als Ursache dafür gilt, wie so oft bei der Medienrevolution in der letzten Zeit, das Internet. Die jüngste Erfolgsstory ist der Streaming-Dienst Netflix, der vergangene Woche in Deutschland und der Schweiz aktiviert wurde und der via Flatrate US-Erfolgsserien wie «The Walking Dead» oder «Breaking Bad» als Komplettstaffeln anbietet.
Rund um die Uhr statt pünktlich um acht
Abgewandert sind klassische TV-Inhalte schon davor. Für nahezu sämtliche Unterhaltungsformate finden sich On-Demand-Angebote, Plattformen wie YouTube haben sich zu einem reichhaltigen Archiv der Fernsehgeschichte entwickelt. Und Informationssendungen wie die «Tagesschau» lassen sich in den Mediatheken der jeweiligen Sender rund um die Uhr anstatt zur vorgegebenen Programmzeit abrufen. Oder wie es der deutsche Autor und Internet-Erklärer Mario Sixtus ausdrückt: «Warum soll ich mich pünktlich um 20 Uhr irgendwo hinsetzen und ein vorgegebenes Programm anschauen müssen, wenn ich das online jederzeit nach meinem eigenen Zeitplan tun kann?»
Es gibt Zahlen, die dieses Nutzungsverhalten zu belegen scheinen, beispielsweise die Programmbilanz des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF): In der Jahresstatistik 2012 stieg die Zahl der Zugriffe von Computern auf die SRF-Website um über 25 Prozent – das sind über eine halbe Million mehr als im Vorjahr. Allerdings gibt es auch gegenläufige Statistiken: so verbringen laut Publisuisse die Zuschauer noch heute mehr als doppelt so viel Zeit vor dem Fernseher als vor dem Internet-TV, gemäss einer Studie von ARD und ZDF ist es in Deutschland sogar knapp dreimal so viel. Im Gegenzug jedoch nehmen die Verkäufe der TV-Geräte im Vergleich zu Computern, Laptops und Tablets massiv ab.
Bei Live-Übertragungen von Sportevents und Bundesratswahlen bleibt das Fernsehen unschlagbar.
Kurz: Das Datenmaterial bringt keinen eindeutigen Trend hervor. Das sieht auch Mario Sixtus so: «Das Nutzerverhalten bei Online-Videos ist noch im Fluss und nicht genügend erforscht, selbst für YouTube. Man weiss: Die User sind jung, ungeduldig und klicken schnell weiter. Mehr aber auch nicht.» Die Stärken des klassischen, linearen Programmfernsehens sieht Sixtus primär in der Live-Übertragung, etwa beim Fussball. «Da ist das Fernsehen unschlagbar.» Sportevents, aber auch andere Live-Berichte wie Bundesratswahlen oder der Eurovision Song Contest erreichen regelmässig TV-Spitzenquoten.
Das Lagerfeuer im sozialen Netzwerk
Hier bleibt Fernsehen das soziale Erlebnis, das es früher immer war: Eine Gemeinschaft versammelt sich vor der Glotze, um dabei zu sein und sich darüber auszutauschen. Man nennt dies den Lagerfeuer-Effekt, und Programmmacher haben früh erkannt, wie die technologischen Entwicklungen dafür genutzt werden können. Während die Hauptshow im Fernsehen läuft, liefert die Online-Plattform zusätzliches Hintergrund- oder Archivmaterial, und über die sozialen Netzwerke wird die Community mittels Umfragen oder Gewinnspielen weiter einbezogen. So sieht es zumindest das Modell vor.
«Ich bin da vorsichtig», sagt Stefan Arbanowski, Leiter des Kompetenzzentrums Future Application and Media am Fraunhofer-Institut in Berlin, wo die Kommunikationssysteme der Zukunft erforscht werden. Laut Arbanowski ist das Fernsehen nicht am Ende, sondern in einer Transitionsphase: Die heutige Rentnergeneration, als erste mit einem TV-Gerät im Wohnzimmer aufgewachsen, hält die Zuschauerzahlen auf einem konstant hohen Niveau, ausserdem schnellen vor Grossereignissen wie einer Fussball-WM die Fernseherverkäufe regelmässig nach oben.
Ebenfalls zurückhaltend ist er mit der Erweiterung des Lagerfeuers in die sozialen Netzwerke. «Es ist richtig, dass etwa bei Sportereignissen die Zahl der Tweets und Facebook-Posts zunimmt», man müsse jedoch die Verhältnisse betrachten: Einige Zehntausende Tweets stehen in keinem Verhältnis zu den Millionen an Zuschauern, die tatsächlich vor dem Fernseher sitzen. «Und bei den meisten TV-Programmpunkten meldet sich online kein Mensch.»
Fernsehen mit dem Tablet auf dem Schoss
Für die Gegenwart konstatiert Arbanowski einen «wilden Mix von verschiedenen Gerätekategorien», die für die unterschiedlichen Sendeinhalte genutzt werden – und zum Teil gar parallel. «Alle Resultate der letzten Jahre zeigen, dass bei den sogenannten Digital Natives der Fernseher läuft, während parallel das Tablet auf dem Schoss liegt.»
Mario Sixtus ergänzt, dass das Fernsehen eine ähnliche Entwicklung wie das Radio durchmacht und zum «Berieselungsmedium» geworden ist: Es bildet kaum mehr einen familiären Knotenpunkt, sondern läuft im Unterschied zum Online-TV nebenher. Als «Lean back» versus «Lean forward» beschreibt Sixtus die unterschiedlichen Nutzerverhalten. Der Fernsehzuschauer lehnt sich im Sessel zurück und lässt sich durch das TV-Programm zerstreuen, der Internet-Nutzer ist aufmerksam dabei, beugt sich zum Bildschirm hin und wählt bewusst aus, was er sehen will.
Man wird also weiterhin fernsehen. Ob die etablierten Sendeanstalten noch die marktführenden Anbieter stellen werden, ist jedoch fraglich. Versuche der deutschen Privatsender, US-Erfolgsserien einzukaufen und jeweils zu später Stunde in wöchentlichen Folgen zu senden, haben kolossal gefloppt – per DVD oder via Streaming waren die gesamten Staffeln bereits verfügbar. Man konnte sie sehen, wann man wollte. Und nicht, wann die Programmplaner es für richtig erachteten.
Ausserhalb der öffentlich-rechtlichen Sender gibt es kein tragfähiges journalistisches Programm.
Selbst produzierte Inhalte sieht Arbanowski daher als die grosse Möglichkeit für Fernsehanstalten, sich auch weiterhin in der Fiktionssparte zu behaupten: eigene Produktionen, deren Ausstrahlung und Verwertung der Sender unter seiner Kontrolle hat. Zumindest das Schweizer Fernsehen hat dies erkannt: in drei von vier Programmsparten ist der Anteil der Eigenproduktion höher als bei Privatsendern. Eine alles überragende Erfolgsgeschichte bildet hierbei der «Tatort», dessen grosse Fangemeinde sich sonntagabends pünktlich vor dem Fernseher versammelt.
Mehr Zuschauer dank mobilen Endgeräten
Für Informationssendungen halten sowohl Arbanowski als auch Sixtus die Fernsehsender, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, für unverzichtbar, sofern die Aufbereitung ihrer Online-Inhalte solide ist. «Die ‹Tagesschau› macht hier einen sehr guten Job», sagt Arbanowski, «indem sie für ihre Beiträge die passenden Formate für Smartphones und Tablets anbieten. So haben sie sogar Zuschauer hinzugewonnen, die ansonsten die normale Sendezeit verpassen.»
Mario Sixtus appelliert an eine «gesellschaftliche Übereinkunft», um das Fernsehen, noch immer das verbreitetste Medienformat, als Informationsmedium in seiner notwendigen Qualität zu erhalten. «Die konkurrierenden Anbieter werden grösser, das Publikum jedoch nicht», sagt er. «Ob sich ein zersplittertes TV-Angebot zukünftig einzig über Werbung oder On-Demand-Bezahlsysteme finanzieren lässt, ist offen.» Mit Blick auf die Fernsehlandschaft USA ortet er die Gefahr, «dass Fernsehjournalismus, der diesen Namen verdient, aus dem Markt rauskippt.»
Der einzige Sender, der dort diesem Standard genüge, sei der nichtkommerzielle Public Broadcast Service, «und der finanziert sich über Spenden». Ausserhalb der öffentlich-rechtlichen Sender gebe es in Europa online «kein tragfähiges journalistisches Programm. Und das sollte ein Zeichen sein.»