Draussen scheint die Sonne, Einheimische und Touristen geniessen am Rheinufer und auf dem Boulevard der Rheingasse die laue Sommerluft. In den Gängen der dreistöckigen Pension an der Rheingasse 17 merkt man von all dem nichts. Die wenigen funktionierenden Deckenlampen hüllen das Treppenhaus in ein trübes Licht.
Ein süsslich-beissender Verwesungsgeruch hängt zwischen den vergilbten Wänden und den dreckigen Spannteppichen. Er macht das Atmen schier unerträglich. Eines der Zimmer im dritten Stock ist versiegelt.
Hier lebte Herr Z.* seit mehreren Jahren. Und hier starb er, Mitte 50, über die Hintergründe ist wenig bekannt. Herr Z. lag einige Tage, manche sprechen von Wochen, tot in seinem Zimmer. So lange, bis der Geruch derart unerträglich wurde, dass auch die Gäste in den Bars und Cafés unten auf der Rheingasse fernblieben.
Sebastian Scharf, der Barkeeper vom «Grenzwert», das im Parterre des Hauses liegt, sagt, es habe schon am Mittwoch fürchterlich gerochen. Am Donnerstag sei dann wegen des Gestanks die Rheingasse weit herum menschenleer geblieben. «Es ist nicht das erste Mal, dass da jemand stirbt und es anscheinend niemand mitkriegt», erklärt Scharf. Im Verlaufe des letzten Jahres sei das sicher schon einmal vorgekommen.
Herr F.*, Frau R.*, Herr B.* – mindestens drei weitere Todesfälle von Menschen, die hier wohnten, hat es in den letzten drei Jahren hier gegeben. Das ergibt eine Recherche der TagesWoche. Keiner von ihnen wurde 60 Jahre alt.
Wie kann es sein, dass in dem Haus an der Rheingasse Leute sterben, in ihren Zimmern tot liegen bleiben und sich anscheinend niemand zuständig fühlt?
Schimmel und Müllberge
Das ehemalige Hotel ist heute eine Pension für sozial Schwache und Menschen, die auf dem normalen Wohnungsmarkt kein Zuhause finden. Der Verein für Gassenarbeit «Schwarzer Peter» verweist Klienten unter anderem an diese Adresse. Andere Organisationen ebenfalls.
Die Zustände im Haus sind dem Vernehmen nach schlimm. Personen, die das Haus und seine Bewohner gut kennen, erzählen, es werde im Haus geschrien, gedealt und manchmal gestohlen. Auch Kakerlaken und anderes Ungeziefer soll es im Haus geben.
Von aussen fällt das Gebäude nicht besonders auf. Alt, aber mit Charme – so könnte man denken. Briefkästen, Namensschilder und Klingeln fehlen gänzlich.
Ein Bewohner empfängt uns und führt uns herum. Von innen sieht das Haus aus, als sei seit Jahrzehnten nichts gemacht worden. In den Nasszellen, die sich die Bewohner teilen, sind Decken und Wände verschimmelt. Hinter manchen WC-Türen verbergen sich wahre Müllberge.
«Die problematischen Wohnverhältnisse in der Liegenschaft sind uns seit Längerem bekannt.»
Ein weiterer Bewohner zeigt uns sein Zimmer. Es ist ungefähr acht Quadratmeter gross, gerade genug für ein Bett, ein Nachttischchen, einen Schrank und ein Lavabo. Mit dem Wäscheständer in der Raummitte hat es keinen Platz mehr für mehr als eine Person im Stehen. Der Vermieter verlangt dafür 950 Franken pro Monat – exakt das Maximum, das die Sozialhilfe für ein möbliertes Zimmer mit Waschangebot zahlt.
Der Bewohner zeigt zur Zimmerdecke, die sich vor Feuchtigkeit grau verfärbt hat. Zeigt uns die Abfallberge im Gang. Zeigt uns im zweiten Stock einen abgesperrten Durchgang. «Das wäre die Küche, aber die ist kaputt und seit Ewigkeiten nicht mehr in Betrieb.» Seither würden einige Bewohner in ihren Zimmern kochen.
Er zuckt die Schultern. «Je nach Situation, wenn du Schulden hast und seit Jahren nicht die richtigen Papiere vorweisen kannst, dann findest du halt nichts anderes als das hier. Null Komma null Prozent Chance.»
Weiss die Sozialhilfe, dass sie für solche Zimmer 950 Franken bezahlt? Amtsleiter Rudolf Illes sagt: «Die problematischen Wohnverhältnisse in der Liegenschaft sind uns seit Längerem bekannt.» Und warum tut die Sozialhilfe nichts dagegen und zahlt weiterhin einen so hohen Preis für die Zimmerchen? Die Sozialhilfe sei nicht die Mieterin, sondern der Sozialhilfebezüger selbst. Man könne die Bezüger also nur beraten, gegen die Zustände müssten sie sich selbst zur Wehr setzen. «Aus Angst, die Wohnung zu verlieren und keine alternative Wohnmöglichkeit zu finden, sind viele Klienten zu diesem Schritt aber nicht bereit.»
Zum Mietzins meint Illes: «Wir stellen fest, dass einzelne Vermieter ihre Mieten an den Mietzinsgrenzwerten der Sozialhilfe orientieren.»
«Kein Hauskrieg»
Der Besitzer der Liegenschaft, Peter Vix, findet den Mietpreis nicht überrissen. Er sagt, nicht alle Bewohner würden 950 Franken bezahlen. Wie viel die Mieten im Detail kosten, will er aber nicht sagen. «Der Mietpreis ist insofern korrekt, als es sich um eine Pension mit möblierten Zimmern handelt», sagt Vix am Telefon.
Die Mängel am Haus seien indes nicht gravierend, sagt Vix. Der Schimmel im Bad sei ihm bekannt. Er stamme davon, dass ein Bewohner regelmässig sehr heiss und sehr lang dusche. «Ich bin bereits eine gewisse Zeit daran, das zu beseitigen.»
Dann sagt Vix: «Das sind keine normalen Leute, wie Sie und ich, die dort wohnen. Die meisten sind von ihrem Weg abgekommen und froh, dass sie dort wohnen können.» Trotz den Hintergründen der Bewohner herrsche in der Pension «kein Hauskrieg» und die Stimmung sei grösstenteils gut.
Kanton soll selbst Wohnungen vermieten
Das Dilemma für die Bewohner der Rheingasse 17 heisst: in den Zimmerchen zwischen Schimmel und Kakerlaken wohnen oder gar nichts finden und womöglich auf der Strasse schlafen.
Michel Steiner vom «Schwarzen Peter» sieht genau das als Problem: «Die Menschen, die dort wohnen, haben keine Chance auf dem Wohnungsmarkt. Es ist deshalb in einem gewissen Sinne auch zu begrüssen, dass es solche Angebote gibt, wo diese Menschen leben können.»
Statt den Vermietern von solchen Wohnungen den Maximalbetrag der Sozialhilfe zu überweisen, sei es eher sinnvoll, dass der Kanton sich selbst darum kümmert und genügend Sozialwohnungen zur Verfügung stellt, sagt Steiner.
«Dieses Haus gibt vielen den Rest»
Dem Mann, der kürzlich im dritten Stock an der Rheingasse starb, hätte ein begleitetes Wohnangebot vielleicht geholfen. Die Bewohner erzählen, er sei krank gewesen, habe aber seine Medikamente nicht genommen. Stattdessen Drogen, wird vermutet. Drei Wochen sei er dort tot gelegen, so das Gerücht, das die Staatsanwaltschaft nicht bestätigen will. Nun werden alle mit jedem Atemzug an ihren Mitbewohner Herrn Z. erinnert. «Er war immer freundlich, gehörte dazu», sagt einer.
Ein Bewohner, der über die Jahre viele hat kommen und gehen sehen in der Pension an der Rheingasse, formuliert es so: «Klar geht es vielen Leuten, die hierherkommen, nicht gut. Aber dieses Haus gibt vielen den Rest.»
*Namen der Redaktion bekannt