Afrikas Erbe gefangen in Europas Museen – was tun mit kolonialer Kunst?

Nach den Nazis nun die Kolonialherren: Der Druck, Kulturgüter an ihre urspünglichen Besitzer zurückzugeben, steigt. Während Frankreich und Deutschland das Thema intensiv diskutieren, steht die Debatte in der Schweiz noch ganz am Anfang.

Zweifelhaftes «Geschenk»: Der Königsthron der Bamun ist heute im Besitz des Berliner Ethnologischen Museums.

Wie sollen europäische Museen mit Kolonialkunst umgehen? Diese Frage hat jüngst eine gewisse Dringlichkeit erhalten. Zum einen wegen der Arbeiten am Berliner Humboldt-Forum, in dem ab 2019 grössere Bestände afrikanischer und asiatischer Kunst gezeigt werden sollen.

Zum anderen, weil der französische Staatspräsident Macron bei einem Auftritt vor Studenten in Ouagadougou (Burkina Faso) im November 2017 verkündet hat, in den nächsten fünf Jahren «die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des afrikanischen Erbes an Afrika» zu schaffen. Ein wichtiger per Twitter vom Elysée nachgeschobene Satz lautete: «Das afrikanische Erbe darf kein Gefangener europäischer Museen sein.»

Die Zurückhaltung der Deutschen

Zwischen beiden Szenarien bestehen mehrfache Verbindungen. Macron schaute bei seinem letzten Besuch in Berlin im April 2018 zusammen mit Merkel beim Humboldt-Forum vorbei. Beide Spitzenmagistraten («Häuptlinge») sind sich bewusst, dass die alte Indifferenz gegenüber Rückgabeforderungen nicht weiter erhalten bleiben kann.

Die Deutschen sind allerdings zurückhaltender als die Franzosen. Der Verein «Berlin Postkolonial» forderte mit ausdrücklichem Bezug auf Macrons Burkina-Faso-Rede die Kanzlerin Merkel auf, ebenfalls aktiv zu werden.

Ein weiterer Zusammenhang zeigt sich auch darin, dass die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Sommer 2017 unter Protest aus dem für sie zu wenig aufgeschlossenen Humboldt-Expertengremium ausgetreten ist und nun zusammen mit dem senegalesischen Schriftsteller Felwine Sarr in Macrons Auftrag ein Konzept zur Restitution afrikanischer Kunstwerke aus französischen Museen erarbeitet.

Es war auch Savoy, die in einer gleichzeitigen Parallelpublikation in «Le Monde» und in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) Anfang 2018 der Frage zusätzliche Beachtung verliehen hatte. Einer der besten Folgeartikel dazu ist nach Macrons Berliner Besuch in der «Jungen Welt» erschienen. Inzwischen ist Savoy von Deutschland wieder zurückgeholt worden.

Die Dekolonisation müsste vermehrt aus dem Schatten der Weltkriegsgeschichte heraustreten.

Die Europäer stehen unter einem gewissen Druck. Benins Staatspräsident Patrice Talon hat 2016 gleich nach Amtsantritt ein Restitutionsbegehren nach Frankreich geschickt. Neben Nigerias soll es die erste formelle Forderung dieser Art eines afrikanischen Staats südlich der Sahara gewesen sein. Private Einzelappelle hat es freilich schon früher gegeben, gleich nach der grossen Unabhängigkeitsphase um 1960.

Zudem war es die gewachsene Bereitschaft, den Kunstraub unter der NS-Herrschaft aufzuklären und wenn möglich zu restituieren sowie die einleuchtende Meinung, dass Kolonialraub mit gleichen Kriterien angegangen werden sollte.

Im Gegensatz zum Nazi-Regime wird Kolonialherrschaft jedoch weniger als Unrechtsherrschaft verstanden und mit der bequemen Absolution versehen, dass imperiale Fremdherrschaft zu jener Zeit eben üblich gewesen sei. Diese Zeit dauerte aber über 1945 hinaus. Ihre partielle Überwindung durch die Dekolonisation – das zweite Grossthema des 20. Jahrhunderts – müsste vermehrt aus dem Schatten der immer wieder neu erzählten Weltkriegsgeschichte heraustreten.

Die durchaus bestehende Analogie zwischen innereuropäischer und aussereuropäischer Enteignung lässt sich übrigens an den Arbeitsfeldern der erwähnten Expertin Savoy ablesen: Ihre Dissertation (französisch 2003/deutsch 2011) hat Napoleons Kunstraub untersucht, und jetzt soll sie sich im Auftrag Macrons (also eines Nachfolgers Napoleons) mit dem französischen Kunstraub in Afrika beschäftigen.

Wo kommen all die Sachen her?

Allein zu der in dieser Frage im Vordergrund stehenden afrikanischen Kunst werden in den Medien eindrückliche Zahlen genannt: über 200’000 Objekte im British Museum, 180’000 Objekte im Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren bei Brüssel, 75’000 fürs künftige Humboldt-Forum in Berlin, 70’000 im Pariser Musée du Quai Branly, 37’000 im Weltmuseum Wien, 20’000 im Bremer Übersee-Museum etc.

Erwartet wird, dass alle Objekte dieser Sammlungen mit sogenannter Provenienzforschung sorgfältig auf ihre Herkunft überprüft werden. Da reicht es nicht, dass man nur den Vorbesitzer kennt und nicht weiss, wie dieser zu seiner «Ware» gekommen ist.

Die berühmten Benin-Bronzen aus dem 13. Jahrhundert sind in den 1890er-Jahren von französischen und britischen Soldaten geraubt worden. Von einem dieser Objekte, jetzt in Berliner Besitz, weiss man lediglich, dass es von einem Händler (William Downing Webster) im Jahr 1900 gekauft wurde, nicht aber, wie dieser es erworben hatte.

Gegen eine Rückgabe spricht für manche, dass man in Afrika Rückgaben eines Geschenks als Beleidigung betrachten würde.

Wer sind «legitimate owners», wer «illegitimate holders»? Experten sind sich einig, dass die Verhältnisse vielschichtig sind. Was kam als Kriegsbeute etwa bei sogenannten «Strafaktionen» als Beute, was durch gewöhnlichen Raub oder Überlistung, durch Fund, Tausch, Kauf oder Schenkung nach Europa? Wer sind heute die legitimen Nachfolger derjenigen, die an früheren Vorgängen beteiligt waren? Im Falle Benins wird betont, dass es neben dem ebenfalls dazu gehörenden Nigeria nur einen Teil des ehemaligen Königreichs von Dahomey bildete.

Was ist von «Geschenken» unter Besatzungsbedingungen zu halten, etwa vom Königsthron der Bamun (Kamerun), der dem deutschen Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1908 von König Njoya geschenkt worden sein soll und jetzt im Besitz des Berliner Ethnologischen Museums ist? Gegen eine Rückgabe wird das willkommene Argument eingesetzt, dass man in Afrika Rückgaben eines Geschenks als Beleidigung betrachten würde.

Und welche Bedeutung darf schliesslich die Annahme haben, dass das aus dem Land gebrachte Objekt nicht einfach ein isolierter Kunstgegenstand, sondern Teil eines im Lande noch immer lebendigen Kults ist? Und wie weit darf in gewissen Fällen geltend gemacht werden, dass Objekte sogar speziell für den Tausch und den Export hergestellt wurden?

Afrikanische Friedhöfe in Europa

Im Kongoreich haben Werkstätten schon im 15. Jahrhundert Elfenbeinschnitzereien für die Wunderkammern europäischer Höfe hergestellt. Und in Neuirland (eine Insel im Bismarck-Archipel in Papua-Neuguinea) sind die von Sammlern übernommenen («geretteten») Malanggan-Skulpturen bloss für einmaligen Festgebrauch hergestellt und nachher dem Verfall überlassen worden.

Diese vom angesehene Hamburger Ethnologen und Afrika-Experten Fritz W. Kramer in der aktuellen Debatte (in der «Zeit» vom 9. Mai 2018) vorgebrachten Beispiele erscheinen wie entlastende Gegenargumentation, sie sollen aber tatsächliche Raubhandlungen nicht verharmlosen.

Die Rückforderungen beschränken sich bekanntlich nicht auf Kunst. Sie gelten auch den menschlichen Gebeinen aus Afrika, die zum Zweck der Rassenforschung in Unmengen gehortet worden sind. Diese Gegebenheit dramatisierend, könnte man sagen, dass ein Teil afrikanischer Friedhöfe – in Form von Museen – in Europa lägen.

Für Prähistoriker Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preussischer Kulturbesitz und zugleich einer der Gründungsintendanten des Humboldt-Forums, steht fest, dass man «Dinge» zurückgeben muss, die unrechtmässig oder unter Gewalteinwirkung ihrem Ursprungskontext entrissen worden sind. Aber: «Man soll das Kind jetzt nicht mit dem Bade ausschütten und jetzt alles, was in irgendeiner Form aus kolonialen Kontexten stammt, als Raubgut betrachten.»

Der «Norden» argumentiert gerne rechtlich, der «Süden» moralisch.

Kann man sich auf Einzelfall-Lösung beschränken, ohne zu bedenken, wie sich diese auf andere Fälle auswirken? Die Unesco hat 1970 eine Generalregelung – allerdings ohne rückwirkende Geltung – ausgearbeitet. Diese von Benin übrigens nie unterzeichnete Konvention verbietet illegalen Handel (Import, Export und Transfer) von Kulturgütern und verlangt Restituierung im Falle von Verstössen.

Rückgabeforderungen können – wie im Fall der NS-Raubkunst – nicht gestellt werden, wenn potenzielle Anspruchsberechtigte nicht wissen, was wo überhaupt vorhanden ist. Darum wird gefordert, dass die Museen ihre Sammlungen vollumfänglich und mit allen bekannten Angaben im Netz präsentieren.

In den Diskussionen prallen zweierlei Argumentationstypen aufeinander: Der «Norden» argumentiert gerne rechtlich, der «Süden» moralisch. Es müssen Lösungen gefunden werden, die beide Seiten als «gerecht» empfinden. Das ist nicht aussichtslos, denn in beiden Lagern gibt es Anhänger der Argumentation der Gegenseite. Das sehr beachtete gegen die Berliner Pläne gerichtete und international unterstütze Manifest hat seinen Ursprung in Berlin selber.

Auf in den grossen Kulturdialog

Der bisherigen Präsentation afrikanischer Kunst wird vorgeworfen, sie würde den kolonialen Kontext ausblenden und nicht aufzeigen, dass solche Sammlungen auch die Funktion gehabt hätten, den Kolonialismus zu legitimieren. Zur Verteidigung der geplanten Berliner Ausstellung wird immerhin versprochen, dass man den kolonialen Kontext gerade aufzeigen und einen grossen Kulturdialog in Gang setzen wolle. Konkret wurden zum Beispiel Kuratoren aus Tansania eingeladen, mit Sammlungsteilen ihre Geschichte zu erzählen.

Gemäss Parzinger ist die Forumseröffnung bloss der Anfang eines langen Prozesses «einer intensiven Auseinandersetzung mit der Welt und der Welt mit uns». Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass diesem europäischen/deutschen «Uns» eine neokoloniale Definitions- und Präsentationsmacht innewohnt.

Obwohl sich das Berliner Unternehmen als «Visitenkarte der Nation» versteht, gibt man sich universalistisch, während von Rückgaben gesagt wird, dass sie nur in den Dienst problematischer Nationalismen gestellt würden.

«Voraussetzungen» für die Rückgabe

Macrons Erklärung sprach von «Voraussetzungen» für die Rückgabe. Er dürfte dabei an die noch immer prekären Gegebenheiten in ehemaligen Kolonien gedacht haben.

Es kann echte Sorge, aber auch nur eine Schutzannahme sein, wenn Restitutionen nicht zugestimmt wird, weil die wertvollen Objekte nicht gut und sicher aufbewahrt würden und sogar über korrupte Mechanismen in den Privathandel gelangen würden.

Eine allgemeine Formel lautet, dass es kulturelle Partnerschaften geben müsse, um den Erhalt der Kunstwerke zu sichern. Dass in Benin zum Beispiel die nötige Voraussetzung an Räumen und Fachpersonal für ein Übernahmen noch nicht gegeben sind, wird selbst von Befürwortern einer Rückgabe eingeräumt. Man sollte sich aber auch bewusst sein, dass man mit Museen eine europäische Einrichtung implantiert.

Es wird auch zugegeben, dass sich beispielsweise Benins Bevölkerung noch wenig für Museen interessiere und es vor allem Weisse seien, die diese Stätten aufsuchen. Offizielle Verlautbarungen machen daraus aber ein Argument für die Restituierung: Wenn die Objekte an ihrem Entstehungsort ausgestellt würden, werde dies den Fremdenverkehr in höchst erwünschter Weise beleben.

Was wäre, wenn Italiener in den Senegal reisen müssten, um Michelangelos Pietà zu bewundern?

Aus der Welt des Kunsttourismus stammt die rhetorische Frage, was wäre, wenn Italiener in den Senegal reisen müssten, um Michelangelos Pietà zu bewundern; wenn Deutsche ihrem Grünewald-Altar nur in Sri Lanka und wenn die Franzosen ihrem Monet-Mohnfeld allein in Peru begegnen könnten.

Diese rhetorische Frage geht von einer fragwürdigen Gleichsetzung aus von klassischen, in einen Kanon eingebetteten Kunstwerken mit serieller Ethnokunst, die wohl besser oder schlechter gemacht sein kann, aber nicht zur Schaffung von individuellen Meisterwerken geführt hat.

Die «Kunst der Negervölker» in der Schweiz

Wie platziert sich die Schweiz in diesem Problemfeld? Auch hier wurde der Besitz von Kolonialkunst lange Zeit als völlig unproblematisch empfunden. 1970 etwa widmete das Zürcher Kunsthaus der «Kunst der Negervölker» eine Ausstellung und war stolz darauf, der hohen Qualität afrikanischer Kunst die nötige Wertschätzung entgegenzubringen – es sei falsch, sie als «primitiv» zu bezeichnen.

Man würdigte, dass Museen und private Sammler herrliche Objekte oft in letzter Minute vor der Vernichtung durch fanatische Bilderstürmer gerettet hätten. Festgestellt wurde, dass diese Kunstwerke «in verwirrender Fülle über Museen und Privatsammlungen der ganzen Erde» verstreut seien – die Rechts- und Restitutionsfrage war aber kein Thema.

Inzwischen haben sich die Verhältnisse etwas verändert. Vorbildliche Pionierarbeit leistet etwa das Zürcher Museum Rietberg mit seinen Herkunftsabklärungen. Diese gelten einerseits der NS-Raubkunst, gleichzeitig erbringen sie aber einen Beitrag zur bisher ungenügend aufgearbeiteten Geschichte des Kunsthandels und des Sammelwesens im Bereich der aussereuropäischen Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Was lagert in Basel?

Und Basel? Auch hier lagern Tausende von Objekten im Museum der Kulturen. Es sind aber keine Rückgabeforderungen hängig. Vorwegabklärungen der Provenienz sind beim enormen Umfang der Sammlung ein Ding der Unmöglichkeit. Zudem würden sich anspruchsberechtigte Nachfahren kaum ausmachen lassen.

Einmal wurde einer Anfrage aus Neuseeland mit Zustimmung der zuständigen Gremien auf unspektakuläre Weise entsprochen. Ein andermal meldete sich ein Lehrer, der in Maroua-Kongola (Nordkamerun) ein Kulturzentrum aufbaute und bei der Jugend das Interesse für die alte Kultur der Mafa wecken wollte. Er hätte die Möglichkeit gehabt, nach freier Wahl zwei oder drei Objekte nach Hause zu nehmen, er sah jedoch davon ab und hätte es vorgezogen, finanzielle Unterstützung für sein Kulturzentrum zu bekommen.

Das Basler Museum der Kulturen plädiert für offenen Dialog statt vorauseilende Generalangebote.

Museumsdirektorin Anna Schmid hält es nicht für richtig, sich in vorauseilenden Generalangeboten zu ergehen. Hingegen befürwortet sie es, dass auf konkrete Einzelanfragen offen reagiert wird. Wünschenswert wäre allerdings, dass Museen und Ämter Richtlinien zur Verfügung hätten, die zuvor vom Internationalen Museumsverband ICOM aufgrund einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung entwickelt würden.

Dazu gehört, dass man nicht sogleich seine ganzen Sammlungen gefährdet sieht, wenn man sich auf entgegenkommende Lösungen einlässt und aus dem reichen Fundus in partnerschaftlichen Modalitäten einzelne Objekte zur Verfügung stellt.

Wegleitend müsse dabei die Einsicht sein, dass es um Weltkulturerbe der Menschheit geht. Man müsse die bisherigen Argumentationsbahnen verlassen, in denen sich die eine Seite auf Recht und die andere Seite auf Moral beruft und dabei auf beiden Seiten nur Ablehnung erzeugt würde.

Anna Schmid ist der Meinung, dass urschweizerische Eigenschaften, nämlich die Bereitschaft zu Dialog und Kompromiss, zu Lösungen führen können, die der Problematik gerecht werden. Das sei aber ein langer Weg.

Nächster Artikel