Bald müssen manche Gymnasiasten ein Jahr länger in die Schule – damit unterbeschäftigte Lehrer genug Arbeit haben. Eine Folge der Umstellung des Schulsystems auf Harmos.
Harmos kommt. Das ist gewiss. Allerdings muss die Schulreform noch umgesetzt werden. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Umstellung auf das neue System bringt einige Unruhe mit sich. Sie fordert von den Schulplanern des Erziehungsdepartements (ED) eine riesige organisatorische Leistung und von den Lehrkräften eine grosse Flexibilität.
In der Volksschule werden durch den Wechsel vom bisherigen auf das neue Schulsystem mehr Primarschullehrer, aber weniger Sekundarlehrer benötigt. Lehrkräfte werden befristet und zum Teil unbefristet von der Sekundar- auf die Primarstufe wechseln müssen. Mittel- bis längerfristig werden die Neuanstellungen sowie die Ausbildungsplätze dem veränderten Bedarf angepasst.
Zwei Kategorien von Schülern
Komplex gestaltet sich auch die Situation am Gymnasium. Die Schuljahre werden von 5 auf 4 Jahre reduziert. Zudem findet der Übertritt von der Sekundarschule ins Gymnasium zwei Jahre später statt als bisher. Konkret: In den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 treten keine neuen Schüler ins Gymnasium ein. Die Folge ist: Es wird weniger Schülerinnen und Schüler geben, die die Lehrer unterrichten können.
Damit die überzähligen Lehrer nicht entlassen werden müssen, hat sich das ED etwas einfallen lassen: In den Jahren 2013/2014 bis 2016/2017 werden die Gymnasiasten der 2. Klasse in zwei Züge aufgeteilt: in einen «beschleunigten» und einen «normalen» Zug.
Wegen Harmos gibt es weniger Schüler – und zu viele Lehrer.
Betroffen von dieser Änderung sind Gymnasiasten, die zwischen Sommer 2012 und Sommer 2015 von der Orientierungsschule (OS) ins Gymnasium übergetreten sind respektive übertreten werden. Sie werden eigentlich noch nach altem System ausgebildet. Zumindest die Hälfte von ihnen. Die andere Hälfte wird ein Jahr länger zur Schule gehen müssen – also 13 statt 12 Jahre, 6 Jahre Gymnasium statt 5.
Wen es trifft, wird aufgrund des Jahreszeugnisses der 2. Gymnasialklasse ermittelt. Schüler, die einen Gesamtdurchschnitt aller promotionsrelevanten Fächer von 4,5 und höher haben, werden in den «beschleunigten» Zug eingeteilt und machen im Schuljahr 2016/2017 die Matur. Die andere Häfte, mit einem Gesamtschnitt von weniger als 4,5, kommt in den «normalen» Zug und macht die Matur erst 2017/2018.
Bis jetzt kein Elternprotest
Die Namensgebung der beiden Züge suggeriert, dass der «beschleunigte Zug» schneller ist und der andere nicht langsamer, sondern eben «normal». Tatsächlich ist es aber so, dass rund die Hälfte der Schüler ein Jahr länger in die Schule gehen muss als ihre gleichaltrigen Gspänli, um die Lehrer zu beschäftigen und so «einen extremen vorübergehenden Stellenabbau zu vermeiden», sagt Pierre Felder vom ED. «Diese Übergangslösung soll die fehlende Anzahl Schüler aus den unteren Jahrgängen ausgleichen.»
Von der «Schülerbeschaffung» durch Schulverlängerung sind insgesamt vier Jahrgänge betroffen. Im Schuljahr 2020/2021 wird der «normale Zug» der letzten Selektion die Maturprüfungen absolvieren. Im Sommer darauf ist dann der erste Jahrgang, der komplett nach Harmos ausgebildet wurde, an der Reihe. Die Schulreform wird dann also abgeschlossen sein.
In der Theorie klingt das ausgeklügelt. Doch was heisst das in der Praxis? Wie reagieren Kinder und Eltern, wenn ihnen mitgeteilt wird, dass sie im «normalen Zug» fahren müssen?
«Bis jetzt schlägt uns keine Welle der Empörung entgegen», sagt Felder. «Aber klar, wenn man dann selber betroffen ist, kann diese Akzeptanz schnell schwinden.» Wichtig sei vor allem die Kommunikation: «Wir müssen den Kindern und ihren Eltern verständlich machen, dass es sich nicht um eine Tunneldurchfahrt handelt. Das Zusatzjahr bietet die Chance, Themen zu vertiefen und zusätzliche Ziele anzugehen.»
Und noch etwas geht erst auf dem Papier auf: Die Selektion «teilt die Schülerinnen und Schüler in zwei etwa gleich grosse Züge ein», heisst es auf der Onlineseite des ED zur Schulharmonisierung. Doch was, wenn der eine Zug aufgrund der Selektionskriterien viel grösser wird als der andere? «Eine Quote gibt es nicht», sagt Felder. Auch Erfahrungswerte hat das ED nicht. «Sollte diese Situation eintreten, müssten wir eine Lösung finden.»
Harmos: Was sich ändert
Bisher: Alle Schüler besuchen vier Jahre die Primar- und drei Jahre die Orientierungsschule (OS). Stärkere Schüler wechseln dann für fünf Jahre ans Gymnasium. Schwächere Schüler besuchen für zwei Jahre die Weiterbildungsschule (WBS). Anschliessend Wechsel an eine weiterführende Schule oder Berufsausbildung. Total 12 Schuljahre von der 1. Klasse bis zur Matur.
Neu: Alle Schüler besuchen sechs Jahre die Primar- und drei Jahre die Sekundarschule. Letztere ist unterteilt in drei Leistungsstufen. Stärkere Schüler können danach vier Jahre ans Gymnasium gehen. Nach der Sekundarschule besteht zudem die Möglichkeit, eine andere weiterführende Schule zu besuchen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren. Total 13 Schuljahre von der 1. Klasse bis zur Matur.
Zu den beiden Schulsystemen gibt es auch eine Grafik.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12