Arte TV – zwischen Traumfabrik und Wirklichkeit

Arte TV ist mehr als ein Kulturkanal, der klassische Konzerte und ein paar alte Streifen zeigt. Der Sender produziert neue Filme, dokumentiert gesellschaftliche Entwicklungen und versteht sich als europäisches Projekt. Ein Besuch in der Arte-Zentrale in Strassburg.

FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER - 29.4.16 - STRASBOURG/FR: BESUCH BEIM TV SENDER ARTE IN STRASBOURG - ANDREA FIES AN EINER ANMODERATION IM STUDIO.

(Bild: Stefan Bohrer)

Arte TV ist mehr als ein Kulturkanal, der klassische Konzerte und ein paar alte Streifen zeigt. Der Sender produziert neue Filme, dokumentiert gesellschaftliche Entwicklungen und versteht sich als europäisches Projekt. Ein Besuch in der Arte-Zentrale in Strassburg.

Wer in die Studios und Büros des deutsch-französischen Kultursenders Arte TV in Strassburg will, lernt zunächst unweigerlich den Giraffenmann kennen: ein langes Wesen mit Giraffenkopf, das vor dem Haupteingang steht und ins europäische Viertel mit Europarat und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte blickt. Die Bronzeskulptur stammt von Stephan Balkenhol, einem deutschen Bildhauer. 



FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER - 29.4.16 - STRASBOURG/FR: BESUCH BEIM TV SENDER ARTE IN STRASBOURG - DER GIRAFFENMANN VON STEPHAN BALKENHOHL

Der Giraffenmann von Stephan Balkenhol bewacht den Arte-Eingang. (Bild: Stefan Bohrer)

Auf dem Parkplatz neben dem 2003 errichteten Gebäude stehen Wagen mit zumeist französischen Kennzeichen. «Es arbeiten etwas mehr Franzosen hier als Deutsche, die Führungsfunktionen sind jedoch fast paritätisch besetzt», sagt Claude-Anne Savin, die Leiterin der Presseabteilung von Arte, während wir durch eine Ausstellung im Innenhof des Gebäudes stapfen: grossformatige Fotos von Menschen in Flüchtlingslagern. Die Ausstellung wurde bereits vor der Flüchtlingswelle im letzten Jahr geplant, wie sie anmerkt.

Insgesamt arbeiten am Gesellschaftssitz von Arte rund 450 Personen: Nachrichten, Moderationen und Trailer werden hier produziert, insgesamt rund 20 Prozent des Programms, die übrigen Sendungen kommen von Arte France in Paris und von Arte Deutschland in Baden-Baden. Finanziert wird der Kanal je zur Hälfte durch französische und deutsche Gebührengelder – Werbung gibt es keine.



FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER - 29.4.16 - STRASBOURG/FR: BESUCH BEIM TV SENDER ARTE IN STRASBOURG

Ausstellung im Innenhof des Arte-Gebäudes. (Bild: Stefan Bohrer)

Arte, das ist weit mehr als klassische Konzerte und ein paar alte Filme: Es gibt täglich Nachrichten-Sendungen («Arte-Journal»), es gibt Reportagen zu gesellschaftlich brisanten Themen (wie kürzlich «Rechts, zwo, drei – driftet Europa ab?» zum Rechtspopulismus in Europa), es sind auch mal Popkonzerte zu sehen, und es existiert vor allem eine konsequente Digitalstrategie, wie die Arte-Verantwortlichen herausstreichen. So hat Arte eine trendig gestaltete Internet-Seite mit vielen Informationen und einer Mediathek, und ist dauerpräsent auf den sozialen Medien Facebook und Twitter. Zudem hat Arte Webplattformen entwickelt, um jüngere Leute anzusprechen.

Das Durchschnittsalter beim Arte-Zuschauer? Liegt bei 61 Jahren

Eine dieser Plattformen ist Arte Creative, auf der eigene Webformate laufen und anspruchsvolle Videospiele. «Wir testen hier Dinge, die für Arte interessant sein könnten», sagt Alexander Knetig, 30-jährig, ein Österreicher mit blondem Haar, beim Lunch. Es gehe um Popkultur im weitesten Sinn. Der durchschnittliche Fernsehzuschauer (beim herkömmlichen Empfang über TV, ohne Smartphones und Tablets) bei Arte sei 61 Jahre alt – man müsse ein jüngeres Publikum gewinnen.

Nur wie? In einem Beitrag geht es um Sexspielzeug im neusten Design. In einer Webserie wird der Zuschauer auf Kletterpartien über Dächer und Fassaden von Grossstädten mitgenommen. Bei Arte Creative liegt das Durchschnittsalter denn auch bei 34 Jahren.



FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER - 29.4.16 - STRASBOURG/FR: BESUCH BEIM TV SENDER ARTE IN STRASBOURG - ALEXANDER KNETIG, LEITER DER ABTEILUNG ARTE CREATIVE

Der Job von Alexander Knetig: Jüngeres Publikum ansprechen. (Bild: Stefan Bohrer)

Für viele Junge sei Arte der Sender, vor dem ihre Eltern abends manchmal einschliefen, sagt Knetig mit einem schelmischen Lachen. Das gelte allerdings auch für die anderen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Das herkömmliche Fernsehen gerät bei jüngeren Menschen gegenüber dem Internet generell ins Hintertreffen. 

Streik gehört hier auch für Deutsche zum Alltag

Wenig zum Schlafen kommt Caroline Ollivier, Redaktionsleiterin bei der Nachrichtensendung «Arte-Journal». Auf ihrem Pult liegt ein Sandwich, das zu verzehren sie bisher keine Zeit hatte. Am Vortag war Streik in Frankreich gegen das neue Arbeitsmarktgesetz, 17 Franzosen ihres Teams hatten ihr erst am Morgen mitgeteilt, dass sie nicht arbeiten werden: «Ich komme mittlerweile gut mit solchen Situationen zurecht. Man muss kurzfristig umplanen und die Aufgaben im Team anders verteilen», sagt die gebürtige Deutsche, die mit einem Franzosen verheiratet ist. Sie rückte eine schon fast fertig produzierte Reportage in die Nachrichtensendung.

Der Streik in Frankreich war dort auch Thema, sie versucht, wenn immer möglich von einem deutsch-französischen Blickwinkel auszugehen. In diesem Fall befragte man junge Franzosen, die nach Deutschland ausgewandert sind, zur geplanten Liberalisierung des Arbeitsmarkts. Die Hauptausgabe des «Arte-Journals» auf Deutsch beginnt um 19.10 Uhr, die französische Version um 19.45 Uhr.

So erfrischend der Ansatz auch ist, eine Nachrichtensendung jenseits nationaler Grenzen zu machen, manchmal wirken die Beiträge handgestrickt, wie eine Probe aufs Exempel ein paar Tage zuvor ergab: Es ging um den Klimavertrag, der feierlich in New York unterzeichnet wurde und die Erderwärmung auf maximal zwei Grad begrenzen soll. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich seien der Einigung auf der Klimakonferenz in Paris (im Dezember 2015) kaum konkrete Taten gefolgt, lautete der Tenor. In Frankreich erlaube es ein neues Gesetz gar, Bäume früher zu roden als bisher. Dazu wurden Bilder von französischen Förstern gezeigt, die leicht zerknirscht im Rudel durch den Wald staksen.  



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Büroräume mit viel Glas. (Bild: Stefan Bohrer)

Wer durch die Korridore und Studios bei Arte schreitet, erhält den Eindruck, dass hier eine lockere, aber produktive Arbeitsatmosphäre herrscht. Es wird viel gelacht, und wenn sich Mitarbeitende begrüssen, gibt’s nach französischer Sitte Küsschen auf die Backe. Deutsche, die bei Arte einsteigen, fragen sich zunächst, was die ständige Knutscherei eigentlich soll, wie die «Wiener Zeitung» einmal schrieb.

«Du bist sehr schön»

Der Eindruck bestätigt sich im Fernsehstudio. Vor der Tür leuchtet die rote Lampe, es finden Aufnahmen statt. Moderatorin Andrea Fies in hochhackigen Schuhen macht die Ansage für «Arte-Reportage» vom nächsten Tag, ein Interview mit Wikileaks-Gründer Julian Assange. «Sind eure Mobiltelefone ausgeschaltet?», will ein Techniker von uns wissen. Es wird noch ein letztes Mal das Make-up geprüft, überall Kameras und Scheinwerfer, auf der Bühne das farbig gepunktete Arte-Dekor, dann geht’s los.

Beim ersten Mal ist der Aufnahmeleiter nicht ganz zufrieden, beim zweiten Mal klappts: «Das hast du toll gemacht, und du bist sehr schön», macht er der Moderatorin Komplimente.



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Andrea Fies bei einer Anmoderation. (Bild: Stefan Bohrer)

Wenn man einen Franzosen fragt, wer Arte im Jahr 1991 gründete, nennt er den französischen Präsidenten François Mitterrand. Ein Deutscher nennt den kürzlich verstorbenen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Lothar Späth. Wer war es wirklich? Alain Le Diberder, seit drei Jahren Programmdirektor bei Arte, gibt eine sibyllinische Antwort: Ein solches Projekt habe mehrere Väter und Mütter. Auf politischer Ebene sei es neben Mitterrand auch Kanzler Helmut Kohl, dahinter neben Späth der französische Kulturminister Jack Lang. Le Diberder ist Franzose und war damals unter Jack Lang Berater für audiovisuelle Medien. «Im Jahr 1989, als die Mauer fiel, hatten die Franzosen Angst, dass sich die Deutschen weiter nach Osten ausbreiten», erinnert sich der hagere Mann mit schütterem Haar.

Inzwischen ist Arte etabliert und hat auch in der Schweiz einen festen Platz im Kabelnetz und in TV-Programmvorschauen. In Frankreich erreicht es eine Einschaltquote von gut zwei Prozent, in Deutschland ein Prozent. «Während andere verlieren, können wir unseren Marktanteil leicht steigern», sagt der Arte-Chef stolz. Im letzten Jahr hatte der Kanal eine Reichweite von 100 Millionen Personen, das heisst, diese haben mindestens eine Viertelstunde bei Arte reingeschaut.



FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER - 29.4.16 - STRASBOURG/FR: BESUCH BEIM TV SENDER ARTE IN STRASBOURG

Konzentration auch hinter den Kulissen. (Bild: Stefan Bohrer)

75 Prozent der ausgestrahlten Fernsehfilme sind Arte-Koproduktionen. Darunter auch solche mit dem Schweizer Fernsehen, mit dem der Sender laut dem erfahrenen Fernsehmann «sehr gut» zusammenarbeitet. Arte sei aber mehr als ein Kultursender, meint Le Diberder, der in Fahrt kommt, es sei die einzige europäische Fernsehkette. «Wir sind die Einzigen, die ein Programm ausstrahlen, das nicht amerikanisch oder rein national ist!» Dazu passt auch, dass Arte seit Neuem gewisse Beiträge dank finanzieller Unterstützung der EU-Kommission mit spanischen oder englischen Untertiteln versieht.

Durch den zunehmenden Nationalismus in Europa werde der Sender herausgefordert: «Die europäische Idee findet weniger Zuspruch als früher, dies merkt man in Frankreich und Deutschland und das könnte sich letztlich auch gegen uns wenden.» Umso wichtiger sei die Botschaft der Völkerverständigung. Es ist dieser Weitblick des Giraffenmanns vor dem Eingang – ein Weitblick,  den die Gründer von Arte hatten und dem sich Le Diberder verpflichtet fühlt.



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Der Weitblick des Giraffenmannes. (Bild: Stefan Bohrer)

Ein paar Highlights aus dem Arte Film-Programm dieses Sommers
Ab 23. Mai macht Arte einen Schwerpunkt zum volkseigenen Filmunternehmen der DDR, der Deutschen Film AG (Defa), die vor 70 Jahren gegründet wurde. Gezeigt werden unter anderem ein Dok-Film über die Defa und verschiedene Spielfilme, etwa «Jakob der Lügner» (Verfilmung des berühmten Romans von Jurek Becker, 1974) und ein Streifen aus den letzten Tagen der DDR («Coming out», 1989).
Im Juni ist eine Filmreihe zu Roman Polanski geplant, u.a. mit der Erstausstrahlung von «Venus im Pelz» (2012), aber auch älteren Filmen wie dem Meisterwerk «Der Tod und das Mädchen» und «Der Pianist».
Die Sommerserie, die ab Mitte Juli beginnt, hat das Thema Summer of Scandals. Gezeigt werden u.a. «La grande bouffe», «Lolita» und «Basic Instinct».
Wer regelmässig über das ganze Programm informiert werden möchte, kann das «Arte-Magazin» abonnieren. Es erscheint auf Deutsch einmal pro Monat und kostet in der Schweiz im Jahresabo Fr. 44.–.

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