Wann ist man ich, wann du, Sie, er oder sie? Wie und mit welchen Folgen wird man zu jemand anderem? Boris Nikitin führt mit dem Theaterprojekt «Sei nicht du selbst» auf einen skurril-hintersinnigen Fremdfindungstrip.
Thomas Frank bringt 115 Kilo auf die Waage. Er ist seit sieben Jahren Ensemblemitglied am Schauspielhaus Graz. Als Kind – «ein schwieriges», wie er sagt – hat er 500 Hasen getötet, und im Theater gibt es für ihn vor allem zwei Themen, die zentral sind: «Das eine ist Sex und Gewalt, das andere ist der Körper-Geist-Komplex».
Das erzählt Thomas Frank, der im wahren Leben wirklich so heisst und tatsächlich Schauspieler in Graz ist, über sich. Das mit den Hasen ist vielleicht etwas übertrieben, das mit Sex und Gewalt ist es hoffentlich, denken wir.
500 getötete Hasen und das Unsichtbar-Sein
Frank ist nicht allein. Neben ihm sitzen in der Stuhlreihe vor der etwas schäbigen, aber geräumigen WG-Küche (Bühne: Boris Nikitin und Katharina Trajceski) drei Kollegen und eine Kollegin. Sie heissen Katharina Klar, Lorenz Kabas, Adrian Gillot und Julian Meding. Sie alle sind Schauspieler, gewohnt, in Rollen zu schlüpfen. Ausser einem, der Performancekünstler ist, wie er sagt – weswegen er nicht irgendetwas vorspielen könne, «was nicht echt ist, weil das würde man merken».
Es sind Menschen, die ihre eigene Biografie haben und diese ausbreiten, die in irgendwelchen Käffern, Stadtteilen oder Umfelden aufgewachsen sind, ob dies nun der Bauernhof war, auf dem man eben die 500 Hasen tötete, oder die Familie, in der schon der Vater und der Grossvater denselben Namen hatten und die einen aufs katholische Internat schickte, wo man keinerlei Intimsphäre hatte und sich so mit der Fähigkeit des Sich-Unsichtbar-Machens ausstatten musste.
Schauspieler enthüllen ihr Leben
Das Theaterprojekt «Sei nicht du selbst», das der Basler Theatermacher als Auftragswerk für das Schauspielhaus Graz und das Festival Steirischer Herbst produziert hat, präsentiert sich zu Beginn als Negierung des Titels. «Heute sehen Sie mich als ich selbst», sagt die Schauspielerin Katharina Klar stellvertretend auch für ihre Kollegen.
Sich immer wieder von Neuem mit Namen und Beruf vorstellend, erzählen sie von ihrer Kindheit und davon, was den Beruf des Schauspielers, der Schauspielerin (oder des Performers) ausmacht. Für Katharina Klar geht es auf der Bühne darum, echte Gefühle zu zeigen, während ihr Kollege Thomas Frank es vorzieht, die Gefühle künstlich zu entwickeln. Was er denn auch ganz gut beherrscht, wie sein demonstrierter Weinkrampf zeigt.
Hintersinniger Grenzweg
Was im ersten Moment vielleicht wie eine psychologische Selbsterfahrungs-Séance wirkt, wie man sie möglicherweise auch auf einer Schauspielschule praktiziert, erweist sich aber bald als brüchiger Prozess. Schauspieler, die sich auf der Bühne als «ich selbst» präsentieren, bleiben letztlich Schauspieler, die sich selbst spielen. Mit viel hintersinniger Ironie lassen Nikitin und das Ensemble durchblicken, dass nicht alles so authentisch ist, wie es dargestellt wird. Und man beginnt sich auf der Zuschauertribüne sehr bald zu fragen, was nun wirklich echt sein könnte, was übertrieben und was erfunden ist.
Dieser Weg an der Grenze zwischen dem echten und gespielten Sein setzt sich im zweiten Teil des Abends fort, wenn das Schauspielerquintett die frontale Erzählebene aufgibt und sich in die WG-Küche dahinter zurückzieht. Jetzt präsentiert sich die imaginäre vierte Wand zwischen Publikum und Bühne tatsächlich als trennendes Element. Am Küchentisch sitzend und Fertiggulasch essend, ziehen sich die Spieler ins Private zurück. Vom Alltagsgemurmel untereinander ist von den Zuschauerplätzen aus kaum etwas wirklich mitzubekommen.
Vom Rückzug zum Rollentausch
Das Theater hört also gewissermassen auf, Theater zu sein. Aber natürlich nur scheinbar, wie auch Adrian Gillot, der Schauspieler aus London, bemerkt, wenn er aus dem vordergründig Privaten heraustritt und dieses mit den Worten kommentiert: «Everything is a little bit blurry» («Das wirkt alles etwas verschwommen»). Verschwommen und zunehmend auch skurril. Denn plötzlich beginnen die Schauspieler, die Kleider und damit auch die Rollen untereinander zu tauschen.
Was auf mehr oder weniger groteske Weise nicht gelingt: Denn natürlich kann der 115-Kilo-Mann die zierliche Frau nicht glaubwürdig spielen, und umgekehrt wirkt es allzu aufgesetzt, wenn die junge Frau den 500-Hasen-Töter-Koloss mimisch zu imitieren versucht. Der schlacksig-tuntige Performer ist, wie er ja selber zugibt, eh nicht fähig, eine andere Rolle als die seine zu spielen, und der älteste im Bunde scheitert, wenn er die extravaganten Gesten des Performers zu imitieren versucht.
Zwischen Sein und Schein
«Sei du selbst» lautete die Maxime der Hippiebewegung der 1960er-Jahre und den danach folgenden Jugendbewegungen, die zum Ausbruch aus dem Gefängnis der gesellschaftlichen Konventionen bliesen. «Be Yourself» ist aber auch einer der Lieblingssprüche der Werbeindustrie, die Autos, Parfüms, Kleider und vieles mehr als Teil der Authentizitätsfestigung an den Mann und die Frau zu bringen versucht. Und damit natürlich das Gegenteil von dem verspricht, nämlich die Konstruktion eines künstlichen Selbst.
Boris Nikitin hinterfragt dieses Selbstfindungsspiel und das Streben nach Authentizität, die sich stets auf dem Grat zwischen Sein und Schein bewegen, nicht mit didaktischem Ernst. Er lädt vielmehr zu einer leichtfüssig-skurrilen Gratwanderung ein, durchwirkt mit viel Witz und Ironie. Auf einen Selbstfindungstrip, der stets auch Selbstentfremdungs- oder gar Fremdfindungstrip ist.
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«Sei nicht du selbst» von Boris Nikitin, weitere Vorstellungen: 13.–15. Dezember 2013, Kaserne Basel.