Aus dem Foto­archiv von Kurt Wyss: Das Kapital kennt keine Grenzen

1967 gingen beim Zollamt Lysbüchel Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strasse, um gegen die Schliessung mehrerer Textilfabriken zu protestieren. 

Regen hin oder her – die Angst um den Verlust ihrer Arbeitsplätze treibt die Grenzgängerinnen und Grenzgänger auf die Strasse. (Bild: Kurt Kyss)

1967 gingen beim Zollamt Lysbüchel Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strasse, um gegen die Schliessung mehrerer Textilfabriken zu protestieren. 

Das ist einerseits ein ganz bestimmtes und andererseits auch ein immer wiederkehrendes Bild: Menschen demonstrieren, möchten beachtet und in den ökonomischen Entscheiden berücksichtigt werden. Ein Gewerkschaftsführer mit ausgestrecktem Arm und geballter Faust ruft die Arbeiterinnen und Arbeiter wohl zum Widerstand auf. Sie sollen den Schicksalsschlag nicht einfach hinnehmen. Sein wichtiger Auftritt gestattet es ihm nicht, dem Regen Beachtung zu schenken.

Die Menge schaut und hört einigermassen aufmerksam zu. Sie bildet als statische Gruppe einen auffallenden Gegensatz zur Energie, die vom einzelnen Vorkämpfer ausgeht. Eine Frau lacht zwar und bildet ihrerseits einen kleinen Gegensatz zum Ernst der übrigen Gesichter. Die Mehrheit sind Frauen: Fabrikarbeiterinnen. Eine Sonderstellung haben die beiden Männer im Vordergrund, vielleicht ebenfalls Gewerkschaftsfunktionäre. Worum es im Allgemeinen geht, sagen uns die Transparente, die man auch bei anderen und doch gleichartigen Vorkommnissen wieder einsetzen kann: «Gegen Entlassungen» – «Wir wollen Arbeit» – «CFDT: Confédération française démocratique du travail».

Der Protest richtet sich gegen die Schlies­sung mehrerer Textilfabriken der «Trimeca» in der Basler Region – jenseits und diesseits der Grenze. Die Kundgebung, an der trotz des schlechten Wetters über 700 Menschen teilnahmen, fand im September 1967 beim Zollamt Lysbüchel statt. Fand sie auf schweizerischem oder auf französischem Boden statt? Das lässt sich nicht sagen, die alte Bildlegende sagt einfach «an der Grenze». Das Bild von Kurt Wyss zeigt zusätzlich eine sonderbar strukturierende Grenze: eine aus eingelassenen Pflastersteinen gebildete, zum Teil weiss gemalte Linie. Die meisten bleiben – je nach Perspektive – dahinter oder davor stehen. Dies schafft den Raum, die Distanz zwischen dem Redner und seinen Zuhörerinnen.

Die Firma war vorher im Besitz eines schweizerischen Inhabers, dann wurde sie an ein französisches Unternehmen verkauft. Kapital kennt keine Grenzen. Wenn möglich berücksichtigt es aber Grenzen, stellt auf geltende Besoldungsansätze und Schutzbestimmungen ab. Die Frage ist, wie Kapital und Arbeit zusammenkommen, wer zu wem geht.
Das Ereignis an der Grenze bedient die ­Medienlogik. Die Manifestation wäre nur eine halbe Sache, wenn nicht in den Medien darüber berichtet und ein Bildreporter den Akt nicht festhalten würde. Herausgekommen ist ein Bild, wie gesagt, zu einem konkreten Vorgang und ­zugleich ein überzeitliches Bild des Menschen, der zur Sicherung seiner Existenzgrundlage Arbeit braucht und Arbeit haben will.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

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