Wer einmal als Solotänzer brillieren möchte, muss zuallererst beweisen, dass er sich auch im Ensemble perfekt einordnen kann.
Nein, ein weiterer Beitrag zur unendlichen Geschichte über die ach so traurige Entwicklung der Bühnenkunst in all ihren Ausdrucksformen soll das nicht werden. Auch keine Diskussion über das Mass der Mittel, die allein und ausschliesslich jene Qualität sichern sollen, die Otto Kulturkonsument zur Befriedigung seiner geradezu unbändigen Lust auf klassische Inszenierung moniert.
Viel eher geht es dem zugegebenermassen tumben (Au-)Tor dieser Zeilen, der nur ganz selten an die Limmat pilgert, um dort das Theater zu geniessen, das ihm am Rhein angeblich nur noch verwässert, zuweilen sogar geradezu abscheulich kontaminiert zugemutet wird – viel eher und unter entschlossener Rückkehr zum filigran gesponnenen ursprünglichen Denkfaden – geht es um die simple Betrachtung eines Bildes, das der Fotograf Kurt Wyss vor rund 45 Jahren vom Schnürboden des guten alten Stadttheaters aus geschossen hat. Als Paradebeispiel für einen Eintrag in der Twitter-Rubrik eignet sich ein solcher Satz wohl eher nicht.
Willig und klaglos
Schwanensee von oben. In und aus der Reihe getanzt nach der Choreografie von Wazlaw Orlikowsky, einem Grossen der Branche, der sich nicht zu schade war, in Basel sein Glück und damit seine Berufung zu finden. Hier hat er sich von ganz unten nach weit oben hinaufgearbeitet. Zum Ballettmeister (1955) und von 1956 bis 1967 zum Choreografen von internationalem Ruf. Weil er das Tanztheater mit allen Fasern seines Körpers liebte, hat er sich wie jeder und jede in diesem Beruf erst einmal willig und klaglos in die Reihe gestellt, bis man ihn für würdig befand, sein Talent als Solist unter Beweis zu stellen.
Einmal aus der Reihe tanzen, und wäre es auch nur ein einziges Mal: Wer von uns hat diesen heimlichen Wunsch nicht auch schon geträumt? Herausragen aus der Masse. Eigene Vorstellungen entwickeln. Zeigen, was man kann. Andere überzeugen statt die Überzeugung anderer nachzuvollziehen. Einen Versuch wäre das allemal wert, gerade jetzt, zu Beginn eines neuen Jahres. Was es dazu braucht? Nichts als den Mut, auch ein Scheitern als wertvolle Erfahrung zu akzeptieren. Als Erlebnis im Grenzbereich, auch wenn man sich mit einiger Wahrscheinlichkeit schon bald wieder hinter seine eigenen Grenzen zurückziehen muss, mit Sicherheit jedoch etwas weniger weit zurück als noch zuvor.
Zufriedenes Entlein
Was wäre damit aus Kurt Wyssens Überklick vom Schnürboden des alten Theaters aus zu lernen? Nicht zuletzt dies: Aus einer Ente, mag sie auch noch so munter quaken, ist – nicht nur beim Ballett – noch selten ein majestätisch aus der Reihe tanzender Schwan geworden. Doch lieber ein zufrieden schnatterndes Entlein als ein in narzisstischer Selbstüberschätzung sterbender Schwan.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06/01/12