Aus dem Fotoarchiv von Kurt Wyss: Strassentreff

Eine Frau im Zentrum, Männer als Kulisse: Im Jahre 1960 war es alles andere als normal, dass Frauen führende Posten in der Verwaltung besetzten. Und wenn es dann doch mal so wirkte, als habe eine Frau das Sagen, musste der Fotograf einfach abdrücken.

Arbeiten am Tramgeleise: Frau Doris Benedikt-Moss von der Stadtplanung beobachtet genau. (Bild: Kurt Wyss)

Eine Frau im Zentrum, Männer als Kulisse: Im Jahre 1960 war es alles andere als normal, dass Frauen führende Posten in der Verwaltung besetzten. Und wenn es dann doch mal so wirkte, als habe eine Frau das Sagen, musste der Fotograf einfach abdrücken.

Das ist ein vielsagendes Bild. Was zeigt es uns? Es zeigt eine Frau und ein paar Männer. Der Gegensatz könnte nicht stärker sein. Die Frau hat, wie die Papierrolle und die Mappe belegen, einen Büroberuf, die Männer sind vom Bau – Tiefbau. Wir stehen am Bankenplatz und schauen nebenbei in die Freie Strasse hinein. Das neue CS-Gebäude steht noch nicht. Die Autos zeugen von einer anderen Zeit.

Das Bild ist – darum der dicke Mantel der Frau – im Dezember entstanden, Dezember des Jahres 1960. Die Frau hat einen Namen, die Männer haben keinen. Die Frau heisst Doris Benedikt-Moos, ist Architektin und beim Bau­departement für die Stadtplanforschung angestellt. Darum also die Papierrolle.

Das Besondere waren damals nicht die mitabgebildeten Männer, das Besondere ist die Frau, die an eine vorher Männern vorbehaltene Stelle berufen worden ist. Darum der Gang mit ihr durch die Stadt und die Aufnahmen da und dort. Die «Begegnung» der Frau mit den Ausführenden von Planungsarbeiten war Zufall, hat sich ergeben und wurde festgehalten. Männer nur als Kontext.

Heute interessiert uns der Kontext mindestens so sehr: sechs Männer, vier von ihnen mehr oder weniger in der gleichen Richtung gebückt am Tramgeleise arbeitend – ohne Ohrenschutz. Wir denken an Max Frischs berühmtes Wort von 1964: «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Und wir fragen uns, ob diese Menpower genügend integriert ist und die Sprache der Stadtplanerin zwar nicht beherrscht, aber wenigstens andeutungsweise versteht.

Da diese Art von Arbeitskräften einerseits auf sonderbare Weise beinahe unsichtbar, andererseits im Strassenbild sehr präsent war, dachte man vor allem an Männer, wenn man von Fremdarbeitern sprach. Es gab aber kaum weniger weibliche Arbeitskräfte aus dem Ausland. Sie wirkten jedoch hinter Mauern von Privathaushalten, Wäscherei- und Verpackungsfabriken.

Inzwischen mag das Strassenbild andere Polaritäten zeigen, alles in allem ist es aber bunter geworden. Und man kann der in vielem zu Recht gescholtenen Gesellschaft attestieren, dass sie auf das Nebeneinander von «wir» und die «anderen» eine bewusstere und alles in allem konstruktivere Haltung entwickelt hat. Es hat sich in dem halben Jahrhundert, das zwischen dieser Zeitaufnahme und unserer Gegenwart liegt, manches gebessert, nicht nur der Ohrenschutz. Anderes ist freilich gleichgeblieben und wiederum anderes ist möglicherweise schlechter geworden. Doch was?

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12

Nächster Artikel