Statt das Bauland auf der Erlenmatt selber zu kaufen, überliess es die Basler Regierung unkontrolliert der Bauwirtschaft. Ein folgenreicher Entscheid.
Der Nordwind weht ockerfarbene Staubwolken über die weite Sand- und Kiesfläche von Erlenmatt West. Hier hat sich in den letzten zehn Jahren ein städtischer Freiraum entwickelt. Damit ist demnächst Schluss. Denn nun umkreisen die Bagger die letzten Überbleibsel des Soziotops.
Die Grundlage für die Überbauung «Erlenmatt West» legte die damalige Baudirektorin Barbara Schneider im Dezember 2002: Sie unterschrieb für den Kanton den «Städtebaulichen Rahmenvertrag» mit zwei Tochterfirmen der Deutschen Bahn. Denen gehörte der Boden. Das Dokument hält der Kanton bis heute unter Verschluss, weil die Bricks Immobilien AG, Rechtsnachfolgerin der Vertragspartner, gegen die Publikation sei. So lässt sich nicht überprüfen, ob der ursprüngliche Rahmenvertrag eingehalten wird.
Rendite in den drei Jahren: ein Sechser im Immobilien-Lotto für die Aktionäre der Bricks.
Irène bewohnt im bereits bestehenden Wohnblock «Erlentor» 2½ Zimmer auf 53 Quadratmetern, eines von 239 Appartements. Die Vermieterin schrieb ihr in den Mietvertrag, dass Baulärm kein Grund für eine Mietzinsreduktion sei. «Manchmal legen die Bagger schon frühmorgens los», erzählt sie. Dennoch lebt Irène gerne auf Basels grösster Baustelle.
Das Kalkül der Bricks ist jedenfalls aufgegangen. Im Sommer 2010 investierte sie in 22 640 Quadratmeter Erlenmatt beim Riehenring. Jetzt nehmen ihr Pensionskassen, Versicherungen und Immobilienfonds das Land ab, um darauf zu bauen. Rendite in den drei Jahren: ein Sechser im Immobilien-Lotto für die Aktionäre der Bricks.
Bauherren haben das Sagen
Die neuen Herren von «Erlenmatt West» heissen Securitas Pensionskasse, Edifondo (PK Losinger-Marazzi), Berner Gebäudeversicherung, Vaudoise, Next Immobilien, Helvetic Trust, Credit Suisse Immobilienfonds und Patrimonium. Gemeinsam investieren sie rund 240 Millionen Franken. 574 Wohneinheiten, 48 davon für den Weiterverkauf, baut Losinger-Marazzi ihnen bis Ende 2015.
«Wenn ich heute über die Erlenmatt spaziere», sinniert der Geograph Martin Sandtner, Leiter des Basler Planungsamtes, sehe er «ein Stück Stadt, in dem sich bereits heute gut leben lässt, in dem aber auch viel Dynamik spürbar ist.» Bezüglich Wohnungsmix», sagt er, «hätten wir uns mehr familientaugliche Wohnungen gewünscht».
Leere Versprechen?
Krokodilstränen? Verwaltung, Regierung und Parlament hatten es in der Hand, klare Vorgaben zu formulieren. Zum Beispiel im Bebauungsplan, der nach dem Scheitern des rechtsbürgerlichen Referendums gegen den Umzonungsplan im Februar 2005 in Kraft trat. Die Regierung hatte im Abstimmungskampf ein «zeitgemässes Wohnungsangebot, insbesondere für Familien ideal» versprochen.
Das Referendum scheiterte, Barbara Schneider gewann, der Erlenmatt-Zug fuhr auf den Schienen des Rahmenvertrags weiter. Die Filetstücke für den Hausbau gingen in grossen Einheiten an kapitalkräftige Investoren, darunter die Bricks AG und die Stiftung Habitat. Der Kanton hübschte das Umfeld mit öffentlichen Geldern auf und zahlte für Grünflächen, Plätze, Strassen und Schulhaus.
Zwei Jahre nach der Abstimmung schrieb die BaZ: «Das neue Stadtquartier kostet die Stadt Basel deutlich mehr als geplant.» Zu verantworten habe das «zu einem rechten Teil das Baudepartement». Statt des Nullsummenspiels aus 60 Millionen Franken Einnahmen im Mehrwertfonds und gleich hohen Ausgaben für Landkauf und Umgestaltung, müsse der Kanton 20 Millionen drauflegen. Ihre Fehlkalkulation brachte Baudirektorin Schneider Schelte im Grossen Rat ein, die Zusatzmillionen bekam sie trotzdem.
Inzwischen räumt Schneiders Nachfolger Hans-Peter Wessels ein, «zentrales Problem» der Erlenmatt sei, «dass der Kanton den Boden nicht gekauft hat». Das habe «zu einem komplizierten Dreiecksverhältnis zwischen dem Entwickler, den privaten Investoren und dem Kanton» geführt. «Das Erlenmatt-Areal wurde von einer Firma übernommen, welche die Arealentwicklung selbst in die Hand genommen hat.»
Gemeint ist Bricks. Die Berner Firma nahm 2011 erneut das Heft in die Hand und kaufte weitere Parzellen auf der Erlenmatt, darunter jene für das Primarschulhaus. Als der Regierungsrat am 20. Dezember 2012 das architektonische Siegerprojekt verkündete, gehörte der Boden, auf dem es stehen soll, nicht Immobilien Basel-Stadt (IBS).
Der Kanton rang bis Anfang 2013 mit Bricks um die Schulhausparzelle. «Verkauf Grundstück durch Bricks Immobilien an IBS könnte zum Enteignungsverfahren führen», protokollierten Kantonsangestellte. Schliesslich lenkte Bricks ein und trat den Boden an IBS ab, zum Quadratmeterpreis von 120 Franken plus Teuerung, wie im Rahmenvertrag festgelegt.
Regierung entmachtet sich selbst
Die Regierung hatte sich mit dem Rahmenvertrag in entscheidenden Punkten entmachtet. Im September 2012 antwortete sie auf eine Interpellation von Urs Müller (Grünes Bündnis). Er hatte wissen wollen, wie sie es mit ihrem Versprechen von 2005 halte, auf der Erlenmatt würde ein «zeitgemässes Wohnungsangebot, insbesondere für Familien» entstehen.
Die Regierung erklärte, es sei 2004 im Ratschlag für die Umzonung der Erlenmatt nirgends eine Mindestzahl für 4-Zimmer-Wohnungen definiert worden. Der «Wohnungsmix» werde «von den Investoren unter Berücksichtigung der Marktsituation definiert». Im Klartext: Bricks und Konsorten sagen, wo es langgeht. Nach Familienwohnungen solle man bei der Stiftung Habitat suchen: «Bei der Überbauung der Stiftung Habitat geht der Regierungsrat davon aus, dass die Stiftung Wert darauf legt, dass ein grosser Anteil an Familienwohnungen erstellt wird.»
Bei der Habitat wird tatsächlich anders geplant als bei Bricks und Konsorten: partizipativ, kleinteilig, nicht profitorientiert. Die Stiftung verhandelt mit diversen Wohngenossenschaften. Geplant ist ein Haus für Studierende mit öffentlicher Schwimmhalle. Ihren Boden gibt die Stiftung im Baurecht ab. Das klingt sympathisch, aber auch dazu hat die Regierung kaum etwas zu sagen.
Die provisorische Open-Air-Bar «Sommerresidenz» im Nordteil der Erlenmatt nutzt temporär Habitat-Boden. Wirt Jonas trifft demnächst Stiftungsvertreter, um zu besprechen, wie es im nächsten Jahr weitergeht. Er rechnet sich gute Chancen aus, auch 2014 Gäste empfangen zu können.
Die kulturelle Nutzung geht zu Ende
Wirtin Céciles «Sonnendeck» gegenüber liegt auf Bricks-Boden. Sie sieht schwarz für 2014. Der Kontaktmann bei Bricks sei zwar umgänglich. Als sie letztes Jahr die Barinfrastruktur nach der Saison nicht abgerissen hätten, obwohl er es angeordnet habe, sei er grantig geworden, habe aber für 2013 grünes Licht gegeben – «zum letzten Mal».
Definitiv Schluss ist Ende September für das kleine Backsteinhaus hinter der «Bahnkantine» (ehemals «Erlkönig»). Wo jetzt noch die Samtvorhänge des «Cirquit Vulcanelli» hängen, fahren im Oktober die Bagger auf und machen alles platt. Kay, Wirt und Mieter der «Bahnkantine», hat es besser. Boden und Haus gehören dem Kanton. Der liess Gebäudehülle und Elektroinstallation sanieren. Kay investierte in Küche und Inneneinrichtung. Seit September 2012 laufe sein Geschäft passabel, erklärt seine Mutter. «Ich geniesse die freie Sicht über das Gelände», sagt sie und blickt nach Süden, Richtung Bricks-Baufelder.
Kein ökologisches Konzept
Klaus Anton, Mitglied der «Begleitgruppe» zum Erlenmattprojekt, wartet beim Kletterturm des Erlenmatt-Spielplatzes auf die TagesWoche. Grossrat Urs Müller stösst dazu. Anton und Antoinette Voellmy, seit Ende der 1990er-Jahre Mitglieder der Begleitgruppe, hatten Einsprachen eingelegt gegen das Baugesuch für die Bricks-Areale – wegen der fehlenden Familienwohnungen und der Inexistenz eines ökologischen Konzepts.
Nach neun Monaten Funkstille erhielten sie aus dem Bauinspektorat Bescheid: Sie seien nicht einspracheberechtigt, an Oetlinger- und Efringerstrasse wohnten sie zu weit weg.
Der kürzlich preisgekrönte Park gefällt Klaus Anton zwar gut. Dass aber beim bestehenden «Erlentor» und den kommenden Blocks auf Bricks-Boden Solarpanels für Strom- oder Wärmegewinnung fehlen, hält er für nicht nachvollziehbar.
Aus seiner langjährigen Erfahrung mit dem Erlenmatt-Prozess gibt er jenen, die sich bei anderen Entwicklungsgebieten (Stichwort: Hafen) engagieren, drei Ratschläge mit auf den Weg. «Der Kanton muss den Boden besitzen, um den es geht. Abmachungen zwischen Bevölkerung, Politik, Kanton und Investoren müssen präzise formuliert und transparent kommuniziert werden. Und die Engagierten müssen am Ball bleiben können. Sonst geraten sie gegen die Profis aus Politik, Verwaltung und Investorenkreisen immer ins Hintertreffen.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.07.13